Wunsch Traum Fluch. Frances Hardinge

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Wunsch Traum Fluch - Frances  Hardinge


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erfüllt war. Unten im Erdgeschoss – in der Küche, im Wohnzimmer und im Wintergarten – brummten sich drei Kaffeemaschinen die Seele aus den Gehäusen.

      Ryan griff nach seiner Brille und ertastete nur ein leeres Etui. Also war seine Mutter bereits in seinem Zimmer gewesen.

      Als er mit dem Handrücken gegen das Glas Wasser stieß, das jede Nacht neben seinem Bett stand, kam ein Teil der Erinnerung an den Traum zurück. Diese Erinnerung roch nach Gewächshaus, nach feuchten Flecken an der Wand. Sie fühlte sich kalt und silbrig an, und da wusste Ryan, dass er wieder vom Glashaus geträumt hatte.

      Etwa dreimal im Jahr träumte Ryan von diesem Glashaus, und zwar seit er denken konnte. Er hatte nie jemandem davon erzählt. Tatsache war, dass die Glashausträume eine merkwürdige, irgendwie säuerliche Spur in seinem Geist hinterließen und er sie immer so schnell wie möglich vergessen wollte. Diesmal allerdings kam ihm die verweilende Erinnerung irgendwie feuchter vor als sonst, als ob sich Tau darauf abgesetzt hätte.

      Er kämpfte sich aus dem Bett und tastete sich zur Treppe und dann die Stufen hinunter ins Wohnzimmer. Sein Vater schaute von seinem Kreuzworträtsel auf, als Ryan durch die Tür taumelte.

      «Hallo. Wo ist deine Brille?»

      «Ich glaube, Mum hat sie», sagte Ryan.

      «Oh nein, nicht schon wieder.» Sein Vater blickte über die Schulter in Richtung Küchentür und entschied wie üblich, dass seine Stimme allein – ohne den Rest seines Körpers – die Distanz überwinden konnte. «Anne!», schrie er.

      «Schon gut», sagte Ryan hastig. «Mum mag es nicht, wenn man sie beim Kaffeevernebeln stört.»

      «Anne!», schrie sein Vater noch einmal. «Unser Sohn läuft blind die Treppe hoch und runter und wird sich dabei wahrscheinlich den Hals brechen. Wäre es zu viel verlangt, wenn wir versuchen, unser Kind nicht umzubringen? Wir haben nämlich nur das eine.»

      Das leise Zischen einer Sprühflasche war zu hören, dann die Stimme von Ryans Mutter: «Sag ihm, er soll seine Kontaktlinsen einsetzen, Jonathan. Er muss sich an sie gewöhnen.»

      «Ganz besonders, wenn die Gefahr besteht, dass er einem Fotoapparat vor die Linsen laufen könnte, nicht wahr?», schrie Ryans Vater. Ryan war bewusst, dass andere Menschen dafür sorgten, im selben Zimmer zu sein, bevor sie miteinander sprachen. Seine Eltern allerdings fanden es völlig normal, Gespräche zu führen, wenn sie sich an entgegengesetzten Enden des Hauses befanden. Diese Gespräche waren naturgemäß recht lautstark. Im Übrigen gaben sie dieser Gewohnheit nicht nur in ihren eigenen vier Wänden nach. «Über welches deiner Opfer wirst du denn heute befragt?»

      «Jonathan, du sollst nicht ‹Opfer› sagen!»

      Ryan gab sich alle Mühe, die Leute, über die seine Mutter schrieb, nicht als Opfer zu betrachten. Manchmal war das ziemlich schwer. Sie war eine «inoffizielle Biografin», was zu bedeuten schien, dass man sich viel Mühe geben und alle Hebel in Bewegung setzen musste, um Prominente auf Partys kennenzulernen und dann über sie zu schreiben, ohne sie um Erlaubnis zu bitten. Die Titel der Bücher seiner Mutter waren in glänzenden Buchstaben vorne auf den Einband gedruckt, und hinten standen Worte wie «sensationell» und «schonungslos», und die Prominenten waren meistens gar nicht glücklich darüber. Eine Künstlerin namens Pipette Macintosh war so erbost gewesen, dass sie die Hecke vor Ryans Haus mit einer Sprühdose pink eingefärbt hatte. Ryans Mutter wiederum hatte sich äußerst erfreut gezeigt, weil das bedeutete, dass noch mehr Journalisten um Interviews baten.

      «Aber wenn du es genau wissen willst: Vorhang auf! will mit mir über das Buch reden, das ich im Augenblick über Saul Paladine schreibe. Du weißt schon, der Schauspieler.»

      «Ach der.» Ryans Vater war Theaterkritiker, obwohl er Jura studiert hatte und auch beinahe sein Examen bestanden hätte. Ryan war der Meinung, dass aus seinem Vater ein vorzüglicher Anwalt geworden wäre, groß, adrett und gut aussehend, wie er war. Er hätte sich fabelhaft gemacht in einer scharlachroten Robe mit einer blendend weißen Perücke, vor den Geschworenen auf und ab schreitend, um dann innezuhalten und sie mit einem langen, verschwörerischen Zwinkern zu beglücken. Man hatte oft den Eindruck, dass er seine Worte so wählte, als wollte er jemanden, den außer ihm niemand sehen konnte, mit seinem Humor beeindrucken.

      «Rattert seinen Text wie ein Postbote herunter», murmelte Ryans Vater. Er war nun in dramatische Gedanken versunken, und Ryan war ihm aus dem Sinn entschlüpft. Der wusste, wann sein Stichwort gefallen war, und glitt aus dem Zimmer, und zwar wortwörtlich. Die Böden des Flurs, des Wohnzimmers und der Küche bestanden aus polierten Holzpaneelen, deren Faserlinien in eine Richtung wiesen. Ryan hatte schon vor langer Zeit festgestellt, dass er auf Socken auf diesen Linien entlangschlittern konnte.

      Auf einem Fuß rutschend, glitt er in die Küche und musste sich mit der Hand an der Wand abstützen, um das Gleichgewicht zu halten. Die Wand war feucht von Kaffeedampf, und wieder berührte ihn der Traum mit kalten Fingern. Ganz kurz dachte er an eine Wand aus tropfnassem Glas, gegen die er die Hand drückte. Sein Traum-Ich war, wie er sich vage erinnerte, mit einem Gefühl der Unruhe und Dringlichkeit durch das Glashaus gehastet …

      Doch als er blinzelte, sah er, dass sich die Küche keineswegs in Glas verwandelt hatte, selbst wenn die Konturen ein wenig verschleiert waren. Seine Mutter stand an einem Tisch und zupfte und ruckte an einer Orchidee in einer Vase herum, als ob sie den Sonntagsanzug eines kleinen Kindes richten würde. Ihr Gesicht war für ihn nur ein verschwommener Schemen, aber er sah, wie ihr langes, schwarzes Haar schwang und schaukelte, als sie mit einer kurzen und knappen Bewegung den Kopf schüttelte, wie so oft, wenn sie ungeduldig oder aufgeregt war.

      «Mum, kann ich bitte meine Brille wiederhaben?»

      «Du siehst ohne sie viel besser aus.» Der Mutter-Schemen näherte sich. «Lass dich anschauen.»

      Ryan fühlte, wie die Finger seiner Mutter auch an ihm zupften und ruckten, genau wie an der Orchidee. Er fragte sich manchmal, ob sie glaubte, dass er, wenn sie nur lange genug an ihm herumschob und -drückte, sich in etwas verwandeln würde, das interessanter war als sein ursprüngliches Selbst. Doch seine Haare und Augen blieben schlammfarben, und kein Zwicken und Zwacken konnte ihn größer oder eindrucksvoller machen.

      «Ach je, was ist denn das?» Sie drehte seine Hand hin und her und hielt sie dicht vor ihr Gesicht. Mit dem Daumenballen rieb sie über etwas zwischen seinen Fingerknöcheln, fest, aber nicht schmerzhaft. Trotzdem merkte Ryan, dass er sich wünschte, sie würde damit aufhören. Die Haut an dieser Stelle fühlte sich merkwürdig überempfindlich an. Seine Mutter kratzte leicht an dem besagten Etwas, und Ryan fühlte, wie der Fingernagel über eine leichte Erhebung auf der Haut fuhr.

      «Hm. Ich glaube, es ist eine Warze oder etwas Ähnliches. Ryan, wenn du noch mehr davon bekommst, sag mir Bescheid. Dann bringe ich dich zu einem Spezialisten.» Ryans Mutter liebte Spezialisten. Immerhin hatte sie jetzt genug Geld. Sie zeigte so manches Mal ihre Liebe für Ryan, indem sie ihn zu einem Spezialisten schleppte. Manchmal fragte er sich, ob er nicht eines Tages einen davon in Geschenkpapier gewickelt unter dem Weihnachtsbaum vorfinden würde.

      Langsam schlitterte Ryan aus der Küche zur Hintertür. Wenn er seine Kontaktlinsen einsetzen würde, wäre seine Mutter glücklich, aber in dieser Beziehung war Ryan dickköpfig. Ihm war klar, dass er nicht darum herumkam, aber er wollte den Moment so lange wie möglich hinauszögern. Die Hintertür glitt auf, wobei die Jalousie laut gegen die Fensterscheibe klapperte, und die Sonne legte ihre heiße Hand auf sein Gesicht.

      Er hopste von einem warmen Pflasterstein zum nächsten, bis er die kleine, grün gestrichene Bank unter dem Kirschbaum erreichte. Er setzte sich verkehrt herum darauf, sodass er in Richtung Rückenlehne blickte, und ließ sich dann nach hinten sinken, bis seine Hände das Gras berührten und er das Haus auf dem Kopf stehend betrachten konnte. Irgendwie hatte er das Gefühl, eine Situation besser unter Kontrolle zu haben, wenn er das Haus auf diese Weise auf den Kopf stellen konnte.

      Josh war der einzige Mensch, dem er je davon erzählt hatte.

      Als Ryan im Alter von sieben Jahren auf der Waites Park Grundschule eingeschult wurde, waren da so viele beängstigende Jungen gewesen. Ryan hatte


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