Wunsch Traum Fluch. Frances Hardinge

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Wunsch Traum Fluch - Frances  Hardinge


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Stimmung.

      «Es geht schneller, wenn ich’s dir sage», begann Josh ohne Umschweife. In seiner Stimme lag ein scharfer, knöcherner Unterton, gedämpft durch ein schwaches Surren im Hintergrund, wie von einer schleudernden Waschmaschine. «Ich bin bei den Tanten. Ich kann nicht in die Höhle kommen. Wenn es etwas Wichtiges zu sagen gibt, sag’s mir jetzt, bevor sie wiederkommen.»

      Ryan versuchte Josh zu sagen, was er Chelle erzählt hatte, aber schnell, damit Josh nicht ungeduldig wurde.

      «Die Geschichte wäre noch besser, wenn eins der Augen aus der Höhle fallen und an einem Stück Schnur hängen würde», sagte Josh gänzlich unbeeindruckt. «Mist, die Tanten sind wieder da.»

      Ryan merkte plötzlich, dass es nicht Joshs Launenhaftigkeit war, die ihn unruhig machte. Etwas störte ihn, irgendetwas; es war wie das sanfte Klopfen von Fingerspitzen auf seinem Nacken. Es dauerte eine ganze Weile, bis er erkannte, dass das vertraute Pick-pick-pick der Glühbirne sich beschleunigte.

      «Ich muss los. Wenn du Angst vor deinem eigenen Gesicht hast, halte dich von Spiegeln fern.»

      «Josh …»

      Pick.

      Pick.

      Pick.

      Pick. Pick. Pick. Pick-pick-pick-pickpickpickpickpickpick

      Als Josh auflegte, flammte der Glühfaden, der mit jedem leisen Klicken leicht geflackert hatte, blendend weiß auf. Eine kleine Weile leuchtete der Draht noch nach, wie ein winziges rotes Glühwürmchen in der Dunkelheit. Dann erstarb er.

       image

      In dieser Nacht schlief Ryan schlecht. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, war der Unsichtbare wieder da, der sanft gegen seinen Nacken geklopft hatte, als er der Glühbirne beim Sterben zugehört hatte. Im Moment hockte er auf seinem Bett und tippte auf die Haut zwischen den Knöcheln seines verbrannten Handrückens. Seine Hände bewegten sich unwillkürlich, um das Kitzeln wegzuwischen. Die forschenden Fingernägel seiner anderen Hand ertasteten eine Ansammlung von kleinen Erhebungen auf seiner Haut und kratzten darüber, erweckten ein schlafendes Jucken zum Leben.

      Es war so heiß. Jedes Mal, wenn er drauf und dran war einzuschlafen, breitete sich das Kitzeln in juckende Flächen aus, die größer als seine Hände waren und pulsierten wie die Glühbirne in der Höhle, ehe sie den Geist aufgab. Der Verband kam ihm mit jedem Pochen enger vor. Irgendwann taumelte er ins Badezimmer und hob eine Ecke davon an.

      Die Schwellungen auf seiner Hand waren nicht das Resultat der Verbrennung. Sie waren weiß und spannten wie frische Brennnesselstiche, waren aber so gewölbt und rund wie Tautropfen. In jeder befand sich in der Mitte ein dünner Schlitz wie der erste, kaum wahrnehmbare Spalt in einer Kastanienschale. Die Schlitze waren mit zarten schwarzen Härchen besetzt, die bei jedem Vibrieren leicht flatterten.

      Ryan drehte das kalte Wasser auf und hielt seine Hand unter den Strahl. Ich habe das nicht gesehen; es gibt nichts, was so aussieht; ich schlafe; wenn ich sie nicht anschaue, dann sehen sie nicht so aus … Ein Panikpfropfen saß ihm in der Kehle.

      Erst als seine Hand so taub vor Kälte war, dass es wehtat, wagte er, sie aus dem Waschbecken zu nehmen. Zwischen seinen Knöcheln saßen fünf weiße, verschrumpelte Warzen. Nichts weiter.

      Wusste ich doch, dass sie nicht so aussehen. Ryan ging wieder ins Bett, entschlossen, niemandem davon zu erzählen; dann wurde es nämlich auch nicht wahr. Er legte sich hin und ließ seine Hand in einen Becher mit Wasser hängen. Jemand hatte ihm mal erzählt, dass man ins Bett pinkelt, wenn einem im Schlaf die Hand nass wird. Er hoffte inständig, dass das nicht stimmte.

      Am nächsten Tag lauerten ihm seine «Träume» auf.

      «Gute Idee!», lobte seine Mutter, als sie ihn von Schulbüchern umringt an seinem Schreibtisch sitzen sah. Er verriet ihr nicht, dass er verzweifelt versuchte, sich mit Mathe abzulenken. Die kalten, glatten Zahlenreihen nahmen immer seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, sodass er an nichts anderes denken konnte.

      Aber heute fühlte sich selbst Mathe heiß an. Gerade als er seine Konzentration auf die Aufgaben gelenkt hatte, riss ihn das Klingeln des Telefons wieder heraus. Aber am anderen Ende der Leitung war nichts zu hören außer einem schabenden, knirschenden Geräusch und einem hohen Sirren, das wie ein Käsemesser durch sein Gehirn schnitt.

      «Wahrscheinlich irgendein Fax-Gerät», sagte seine Mutter. «Wir hatten heute Morgen schon drei solcher Nachrichten auf dem Anrufbeantworter.»

      Ryan öffnete das Fenster. Die Blätter der Bäume glänzten wie Münzen. Der Unsichtbare war ihm gefolgt und tipp-tipp-tippte auf seine bandagierte Hand.

      «Ryan!», rief seine Mutter. «Chelle ist am Telefon!»

      Als er den Hörer nahm, schlug ihm eine Wand von unentwirrbaren Worten gegen das Ohr.

      «Chelle, Moment mal, mach langsam», unterbrach sie Ryan so freundlich, wie er nur konnte.

      «Es ist schon wieder passiert! Aber diesmal war es richtig schlimm, weil Miss Gossamer da war und sie mich so merkwürdig angeschaut hat. Ich bin sicher, sie dachte, ich würde über sie reden … und ich weiß nicht mal, ob’s so war oder nicht!» In ihrem Atem lag ein leichtes Kratzen, und Ryan wusste, dass sie sich wegen irgendetwas so große Sorgen machte, dass wieder ein Asthmaanfall drohte.

      «Chelle, was genau ist wieder passiert?»

      «Du weißt doch – ich … ich habe dir gestern davon erzählt …»

      Mit einem sich rasch ausbreitenden Schuldgefühl erkannte Ryan, dass Chelle ihm irgendwann am gestrigen Tag etwas Wichtiges anvertraut hatte und dass er keine Ahnung hatte, was es war.

      «Ähm … na, dann erzähle mir doch, was diesmal passiert ist», bat er mit sanfter Stimme.

      «Ach, es war genauso wie gestern, nur dass wir diesmal einkaufen waren, und plötzlich kamen diese ganzen groben Worte aus meinem Mund über irgendjemanden, der in der Schlange steht und drängelt, und über jemand anderen mit einem fetten Hintern …»

      Andererseits, selbst wenn ich ihr zugehört hätte, hätten ihre Worte nicht viel Sinn ergeben.

      «… und ich habe versucht, Josh anzurufen, aber wenn jemand ans Telefon geht, dann gibt es dieses komische Geräusch, als ob man neben einem Schaufelbagger steht, und ich konnte nichts hören, nur irgendwie eine Stimme, ganz schwach, und ich glaube, es war Josh. Und ich glaube, er sagte, dass wir irgendetwas tun müssten, bevor uns noch mehr Köpfe wachsen würden, aber irgendwann gab er es auf und sagte einfach nur noch ‹Merrybells›, wieder und wieder, als ob er ganz sicher sein wollte, dass ich es auch höre.»

      «Er hat immer noch Tanten-Dienst.»

      «Ryan …», sagte Chelle zitternd, «was, glaubst du, hat er damit gemeint?»

      «Wir müssen mit ihm reden.» Ryan zögerte. «Es ist Zeit für eine Mission. Wir müssen nach Merrybells. Versuchen wir mal, ob der Wasseruhren-Plan funktioniert.»

      Ehe er aufbrach, überprüfte Ryan insgeheim noch einmal den Anrufbeantworter und sah, dass eine weitere Nachricht eingegangen war. Auch diese war wegen des statischen Rauschens und ohrenzerfetzenden Surrens kaum verständlich, aber da war tatsächlich eine Stimme, die in dem grauen Lärm ertrank.

      «… das ist nicht mehr lustig …» Das klang nach Josh, aber ohne Joshs übliche Selbstsicherheit.

      Eine Stunde später kletterten Chelle und Ryan vorsichtig an einer riesigen Uhr hinauf.

      Joshs Familie residierte in einem Garten, den alle nur «die Oase» nannten. An einem Ende des Grundstücks stand das prächtige Haus seiner Eltern und am anderen Merrybells, das kleine, reetgedeckte Cottage seiner Tanten. Die Oase war eher ein Park als ein Garten, fand Ryan. In Gärten verbrachte man seine Freizeit. Durch Parks wurde man geführt.


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