Wunsch Traum Fluch. Frances Hardinge

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Wunsch Traum Fluch - Frances  Hardinge


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ob sie überhaupt Augäpfel hatte, so gewaltig strömte das Wasser zwischen ihren Lidern hervor. Ihre Lippen zitterten, teilten sich, und dann rauschte auch aus ihrem Mund das Wasser, wie bei einem Wasserspeier auf einem Kirchturm.

      Ryan gab einen erstickten Laut von sich. Er wusste nicht, was dieser Laut bedeuten sollte. Er zwang sich aus eigenem Antrieb aus ihm heraus, als ob seine Lungen voll Wasser wären.

      Von dem Plakat kam ein schreckliches Gurgeln, und Ryan erkannte entsetzt, dass es aus der Kehle der Frau drang. Sie versuchte, durch den Wasserfall hindurch zu sprechen.

      «Bschaaaiiiib …»

      «Nein …» Mehr brachte Ryan nicht heraus. Er fühlte sich, als ob das Innenleben seiner Brust sich in Luft aufgelöst hätte. Nein, bitte lass das nicht wahr sein

      «Bschlaaaiiiib …»

      Erst als sie die Hand ausstreckte, die Finger gespreizt, begriff Ryan, was sie sagen wollte. Bleib. Ihm wurde bewusst, dass er seine Hände in den Hosentaschen verkrampft hatte, als ob er seine Beine festhalten wollte. Aus dem Augenwinkel sah er die sonnenbeschienene Straße jenseits des Brückenschattens, aber sie kam ihm so unerreichbar vor wie die Landschaft auf einer Kinoleinwand.

      «Haaabscht mirsch fleschenommschen …»

      «Ich habe nichts …» Ryan schüttelte panisch den Kopf.

      «Haabscht mirsch weschenommen …»

      Habt mir weggenommen. War es das?

      «Flüüüschischesche.»

      «Ich weiß nicht … Ich kann nicht versteh...» Ryan sprach in abgehackten, heiseren Quietschern. Er bedeckte die Augen mit seinen Händen und ballte sie zu Fäusten. Er verspürte einen Stich auf seinem Handrücken, als der Verband über die gespannte Haut schabte. Irgendetwas zwischen den Knöcheln seiner beiden Hände zitterte und lockerte sich, und dann, ganz plötzlich, konnte Ryan die Frau auf dem Plakat deutlicher sehen als zuvor – obwohl er die Augen geschlossen hielt.

      Ihr Kopf schwang mit langsamen, zeitlupenartigen Bewegungen von einer Seite zur anderen, wie bei einer gereizten Schlange, und ihr Haar, das der Bewegung folgte, wirkte schwer und nass. Der Mann auf der anderen Seite des Tisches war verschwunden. Gelbes Laub taumelte an der Frau vorbei und wischte über ihr Gesicht. Hinter ihr war die suppige Dunkelheit von den hellen Streifen der Baumstämme durchschnitten. Die Frau wandte sich wieder Ryan zu; diesmal erkannte er sie: Es war dieselbe Gestalt, die er in seinem Traum im Wäldchen von Magwhite hatte sitzen sehen.

      Er war sich sicher, dass sie ihm folgen würde, dass sie eine tropfnasse Spur hinter sich herziehen würde, während seine Welt ringsum vergilbte. Sie würde durch seine Eltern hindurchgehen, ohne sie zu sehen, würde die Wände seines Zimmers wie Glas zerschlagen. Und dann würde sie ihn finden.

      Und mit seiner merkwürdigen neuen Hellsichtigkeit bemerkte Ryan mit einem Mal eine Pfütze aus Dunkelheit, die durch das tote Laub zu ihren Füßen nach oben blubberte. Unter der öligen Wasseroberfläche erhaschte er einen dumpfen, kupferfarbenen Schimmer. Münzen, überall Münzen, Hunderte von Münzen – einige glänzend hell, andere mit Grünspan überzogen und wieder andere fast bis zur Unkenntlichkeit geschwärzt.

      Da muss irgendwas im Brunnen gewesen sein, hatte Josh gesagt.

      Irgendwas im Brunnen … Die Gestalt in seinem Traum hatte neben dem Brunnenschacht gesessen …

      Habt mir weggenommen

      Oh nein

      «Wir besorgen Ihnen so viele Münzen, wie Sie wollen!», rief Ryan. «Ganz bestimmt. Und wir bringen Ihnen bessere als die, die wir Ihnen weggenommen haben …»

      «Neeeiiiin! Flüüünschesche …»

      Ryan merkte, wie sich seine Lippen kräuselten, wie er dabei helfen wollte, die blubbernden Worte hervorzupressen. Wieder öffnete sie die Lippen und entließ einen breiten, sprudelnden Wasserfall von Worten, während sie unentwegt auf ihn deutete. Sie gab ihm einen Befehl. Dann verstummte sie und wartete. Sie wartete darauf, dass er dem Befehl folgen würde.

      «Ich … ich verstehe nicht. Ich versuche es ja, aber … es geht einfach nicht …»

      Ihr Mund nahm zornige Formen an und Wasser spritzte über Ryans Schuhe, sein T-Shirt und seine Handrücken. Mit einem bösartigen Zischen beugte sie sich vor.

      «Schon gut! Schon gut!» Vergeblich presste Ryan seine Fäuste in seine Augäpfel.

      Ein plötzliches Dröhnen hinter ihm ließ ihn herumfahren. Er sah, wie ein Moped durch die Dunkelheit unter der Brücke brauste und dann die sonnenbeschienene Straße weiterfuhr. Als er sich wieder dem Plakat an der Mauer zuwandte, saß die Frau in dem grünen Kleid wieder bewegungslos an dem Tisch, das Papiergesicht dunkel und gewellt von dem ersterbenden Wasserschwall aus dem Hochdruckreiniger.

      Langsam streckte Ryan seine zitternden Hände vor. Zwei kalte, dunkle Sekunden lang starrte er auf seine Handrücken und auf das, was aus den Warzen geworden war. Dann erst kam er auf die Idee wegzulaufen, so schnell ihn seine Füße tragen wollten.

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      «Jetzt mal langsam … hör mal, da ist so ein schniefendes, japsendes Geräusch in der Leitung. Bist du das oder das Telefon? Ich hoffe doch, das Telefon!»

      «Josh, hör zu, da war diese Frau auf dem Plakat, aber sie hat sich bewegt und aus ihren Augen kam Wasser wie bei meinem Spiegelbild, nur viel, viel schlimmer. Und dann meine Hände, Josh! Die Warzen sind jetzt wieder normal, aber kurz nach der Sache mit der Frau konnte ich sehen, was sie wirklich sind, und es sind Augen! Mir wachsen Augen auf den Händen! Die meiste Zeit sind sie aber geschlossen …» Ryan hatte sich auf der Fensterbank im Wohnzimmer zusammengekauert, hinter dem Vorhang. Von seinem Versteck aus konnte er den Pfad zur Haustür sehen und sicherstellen, dass sich nichts Unheimliches anschlich.

      «He!» Joshs Stimme war scharf, aber nicht grob. «Mach mal halblang. Dreh jetzt bloß nicht durch.»

      «Josh, es ist der Brunnen! Da ist etwas unten im Brunnen, und es will … Ich weiß auch nicht, was es will. Ich konnte es nicht verstehen, wegen des vielen Wassers …»

      «Ich bin im Brunnen gewesen. Da unten war nichts Lebendiges. Nur alte Chipstüten und Müll.»

      «Sie war da, Josh, auch wenn du sie nicht sehen konntest. Josh, es gibt sie wirklich, ich schwöre es. Es ist … wir sind nicht verstrahlt oder so etwas – sie macht irgendwas mit uns …»

      «Hast du irgendetwas von dem verstanden, was sie gesagt hat?»

      «Ich bin mir nicht sicher. Ein paar Fetzen. Am Schluss klang es so ähnlich wie Crook’s Baddock.»

      «Crook’s Baddock. Ryan, hast du irgendjemandem davon erzählt?»

      «Nein …»

      «Dann tu’s auch nicht. Wir kommen allein damit klar. Ich überlege mir, wie ich meinen Tanten entwischen kann, dann kommen Chelle und ich zu dir und holen dich ab. Wir nehmen den Bus nach Crook’s Baddock, und auf dem Weg erzählst du uns, was passiert ist, okay? Dann überlegen wir uns, was wir machen. Bis wir in Crook’s Baddock sind, haben wir bestimmt schon einen Plan.»

      Und tatsächlich: Eine Stunde später waren sie zu dritt auf einem Ausflug nach Crook’s Baddock. Als Grund hatten sie «Recherchen für eine Hausarbeit» angegeben. Auf der Fahrt erzählte Ryan seinen Freunden haarklein, was ihm widerfahren war. Und ab da ging alles schief.

      «Du hast Ja gesagt?», fragte Josh zum sechsten Mal.

      «Ich habe dir doch erklärt, wie es war.» Ryan hatte einen roten Kopf. Ihm war elend zumute, und er starrte zum Fenster hinaus. «Ich dachte, sie würde mich überfluten oder so etwas Ähnliches …»

      «Aber du kannst doch nicht einfach Ja sagen!


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