Wunsch Traum Fluch. Frances Hardinge

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Wunsch Traum Fluch - Frances  Hardinge


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die Augen öffnete, die Warzen schwach im Dunkeln leuchten würden. Auf diesen Gedanken folgte die wachsende Gewissheit, dass er vergessen hatte, die Dusche abzustellen.

      Er musste aufstehen und nachsehen, denn er war der Überzeugung, dass sich immer mehr Dampf im Haus ausbreitete und das Wasser über den Flur in die Schlafzimmer strömte. Mit geschlossenen Augen setzte er sich auf und schwang seine Beine über die Bettkante. Der Boden unter seinen Fußsohlen war eiskalt und ungewöhnlich glatt, und in dem schauderhaften Moment, als seine Füße diesen Boden berührten, wusste Ryan, wo er war.

      Er schlug die Augen auf. Richtig, er war wieder im Glashaus.

      Seine nackten Füße hinterließen Spuren auf dem beschlagenen Glas des Bodens, durch den er bis ins Wohnzimmer sehen konnte, wo sein Vater auf einem Glassofa saß und in einem gläsernen Buch blätterte. Ryan kam diesmal nicht auf die Idee, durch den Flur zu schlittern. Er ging ins Badezimmer, wo aus der Dusche still der Dampf strömte, und stellte sie ab.

      Durch die Decke erkannte er ein verschwommenes Gewirr aus gläsernen Dachbalken und dahinter einen Himmel, der die Farbe von altem Papier hatte. Unter den durchsichtigen Stufen sah er die Konturen des ebenfalls durchsichtigen Staubsaugers im Wandschrank. Die Luft roch nach Gewächshaus und Stockflecken an der Wand.

      In ihrem kleinen Arbeitszimmer schnitt seine Mutter Zeitungsartikel aus, die so transparent waren, dass die Schrift in der Luft zu schweben schien.

      Erst beim zweiten Versuch gelang es Ryan, den Griff der Hintertür zu packen. Der Griff war so feucht, dass seine Finger abrutschten. Die Tür öffnete sich.

      Der Garten war verschwunden. Stattdessen lag vor Ryan eine raue, asphaltierte Fläche wie ein Schulhof oder ein Parkplatz. Die Farben der Landschaft waren alt und verblasst und erinnerten ihn an Fotos vom Anfang des vergangenen Jahrhunderts. Am Rand der Asphaltfläche stand eine Mauer, und Ryan bekam ein weiches Gefühl in den Beinen, als ob ihm gerade der Boden unter den Füßen weggezogen worden wäre. Einkaufswagen, in einer langen Reihe aneinandergekettet, bewegten sich sacht hin und her und zerrten an ihren Fesseln, und Ryan glaubte, dazwischen zwei oder drei menschliche Gestalten zu sehen, die ebenfalls angekettet waren und sich auf dieselbe ruhelose – und sinnlose – Art hin und her bewegten.

      Er ging zur Mauer und zog sich hoch, sodass seine Brust auf dem Mauersims ruhte und seine Füße in der Luft baumelten. Er schaute nach unten und sah das struppige Wäldchen von Magwhite unter sich liegen. Die Bäume sahen allerdings merkwürdig aus, älter und mit Pilzen überkrustet. Gelbes Moos schob sich aus der Rinde wie Senf aus einem Frikadellenbrötchen, tropfte zu Boden und wuchs wieder in den gleichen Ritzen der Stämme nach. Den Zweigen, die im Wind schwankten, entglitt das Laub, und Sekunden später saß es plötzlich wie von Zauberhand wieder am Holz fest.

      Weit unten zwischen den tropfenden Bäumen erkannte er eine dunkle Grube, bei der es sich nur um die Quelle handeln konnte. Sie schien eine Spirale von Schatten und wirbelndem Laub anzuziehen, als hätte sich der Schacht in ein saugendes Abflussrohr verwandelt. Neben der Quelle saß eine reglose Gestalt. Ryan hielt sie für eine Frau, weil ihr Haar sehr lang war. Sie saß mit dem Rücken zu ihm, oder zumindest konnte er keinen Schimmer ihres Gesichts sehen. Aber es kam ihm so vor, als ob sich zu beiden Seiten ihres Gesichts etwas bewegte. Ryan dachte, dass es wohl Haare waren, die der Wind hochwirbelte, denn für Arme war die Bewegung zu flüssig. Zugleich kam sie ihm so langsam vor, als ob die Gestalt unter Wasser säße. Merkwürdigerweise erkannte Ryan erst in dem Moment, in dem sie den Kopf auf die Brust sacken ließ und sich zu ihm umdrehte, wie riesengroß sie war.

      Er stieß sich von der Mauer ab und wirbelte herum. Er konnte immer noch das Haus sehen und darin die kleinen, bunten Figuren, die seine Eltern waren, aber jetzt war es ein zerbrechliches gläsernes Spielzeug inmitten eines überwucherten, feuchtkalten Waldes.

      Er fühlte, wie sich eine herumwirbelnde Zeitung um seinen Oberschenkel wickelte, und der Schreck der Berührung weckte ihn auf.

      Ryan hatte sich einen Trick überlegt, wie er sich vergewissern konnte, dass er nach einem Albtraum wirklich erwacht war. Er blinzelte dreimal mit den Augenlidern, und zwar so fest, dass er nicht wieder einschlafen würde, ohne es zu merken. Dann suchte sein Blick den pfeildünnen Spalt aus dunklem Silber zwischen den Vorhängen und die Leuchtziffern auf seinem Wecker. Aber diesmal reichte das nicht aus.

      Er stand auf und ging ins Badezimmer, wo das Licht seine Welt mit Farben erfüllte und die Seife cremig im Bauch ihrer Schale neben der Badewanne schimmerte. Es reichte immer noch nicht. Die Knöchel auf seiner unverletzten Hand kribbelten, und als er den Waschlappen abwickelte, sah er, dass sich neue, winzige Beulen durch seine Haut nach oben schoben.

      Ryan saß die ganze Nacht auf der Fensterbank und las, bis allmählich immer mehr Tageslicht durch die Vorhänge fiel. Am Morgen war ihm schwindelig vor Müdigkeit.

      Als er zum Frühstück nach unten kam, warf seine Mutter nur einen einzigen Blick auf ihn und schickte ihn wieder ins Bett, weil es ihm ganz offensichtlich nicht gut ging. Sie brachte ihm ein weich gekochtes Ei mit Toast und eine Grapefruit. Sie hatte die Grapefruit mit einem Messer in einem Zickzackmuster in zwei Hälften geschnitten und jeweils eine kandierte Kirsche auf die Hälften gelegt. Ryan fühlte sich schuldig, aber nicht schuldig genug, um die Grapefruit zu verschmähen. Er wusste, dass sich seine Mutter Sorgen um ihn machte. Trotzdem musste sie das Haus verlassen. Die Grapefruit sollte ihn dafür entschädigen.

      Es kam ihm komisch vor, den ganzen Tag im Bett zu hocken. Sein Magen wirbelte im Kreis wie ein Wäschetrockner. Er glaubte beinahe selbst, dass er wirklich krank sein könnte.

      Sein Vater blickte nicht von seinem Kreuzworträtsel auf, als er – vollständig angezogen – ins Wohnzimmer kam.

      «Ich fühle mich schon viel besser», erklärte Ryan ruhig. «Ich würde gerne in den Garten gehen.»

      Einen Moment lang sah ihn sein Vater verständnislos an. «Gut.» Es gab eine Pause, während sein Gehirn in die Realität zurücksprang und er begriff, was Ryan gesagt hatte. «Gut», wiederholte er, und diesmal klang es ehrlich gemeint.

      Als Ryan seine Hand auf die Metallklinke der Hintertür legte, wurde er vom Kälteschauder seines Traums überfallen. Beinahe hatte er Angst, dass er gleich auf die windgepeitschte Asphaltfläche blicken würde und auf eine gelblich verblichene Landschaft.

      Die Tür öffnete sich und da war der Garten, sein Garten. Er blickte sich um. Sein Zuhause war nicht zu Glas verblasst. Aber irgendwie ließ ihn das Gefühl nicht los, dass es jedes Mal dann geschehen könnte, wenn er dem Haus den Rücken zudrehte. Und dass jenseits des Gartenzauns vielleicht doch der asphaltierte Platz lag oder die mit Müll behangenen Bäume des Wäldchens in Magwhite.

      Er durchquerte den Garten, ging durch das Tor hinaus und den vertrauten kleinen Weg entlang, der an den Nachbargärten vorbeiführte. Doch vielleicht lag dort, wo der Pfad endete, auch das Ende seiner Welt und der Anfang jener merkwürdigen Fremdheit …

      Nein, da war die Straße, die auf eine durchaus vernünftige Art und Weise unter der Brücke hindurchführte. Er wollte gar nicht weit gehen, nur hinauf auf die Brücke, damit er die Gegend überblicken und sehen konnte, dass es nirgends eine Grenze gab, wo seine Welt plötzlich endete. Auf der Brücke stand ein Mann und wusch mit einem Hochdruckreiniger Graffiti-Malereien von dem Beton. Ryan wollte warten, bis er damit fertig war, ehe er auf die Brücke ging. Dann konnte er beruhigt heimkehren.

      Unter der Brücke verlief die Straße zwischen zwei Betonmauern. An eine der Mauern hatte jemand das Plakat einer jungen Frau geklebt, die an einem Tisch saß. Sie hatte langes, glattes Haar, das glänzte, wie Haar nur auf Werbeplakaten glänzen kann, als ob es aus poliertem Holz bestünde. Ihr Kleid war grün; sie lächelte und hielt die Augen gesenkt, als ob jemand gerade etwas gesagt hatte, was sie verlegen und gleichzeitig glücklich machte. Auf der anderen Seite des Tisches war der Rand eines Männergesichts zu sehen und darunter eine Schulter. An der Art, wie sich die Wange wölbte, konnte man erkennen, dass auch er lächelte.

      Aus dem Hochdruckreiniger auf der Brücke floss Wasser durch die Ritzen im Beton nach unten und durchnässte das Plakat. Ryan wollte sich gerade abwenden, als die Frau in dem grünen Kleid sich plötzlich bewegte. Sie ließ das


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