Wunsch Traum Fluch. Frances Hardinge

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Wunsch Traum Fluch - Frances  Hardinge


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      «Ich glaube …», setzte Chelle an. Ihre Worte taumelten haltlos in die Stille. «Ich glaube, wenn wir einen Stock unter dieses Rad schieben und den Wagen hin und her stoßen, dann könnte es …»

      «Er sitzt fest», sagte Josh. Tief in ihrem Inneren hatten alle drei die Wahrheit längst erkannt, aber dass Josh sie aussprach, ließ sie zur Tatsache werden. Joshs getönte Brillengläser waren mit dem Verschwinden der Sonne trüb geworden, und dahinter nahm Ryan das bleiche Zucken der Augenlider wahr. Josh blinzelte zweimal und kniff die Augen zusammen. Er saugte die Lippen in den Mund, bis sie nicht mehr zu sehen waren – ein sehr schlechtes Zeichen.

      Ohne ein weiteres Wort sprang Josh von der Mauer und ging den Hang hinunter zum Kanal. Ryan und Chelle wechselten einen Blick und folgten ihm dann.

      Er wird doch nicht weglaufen und uns hier allein lassen, oder? – Aber was hätte Josh zu verlieren, wenn er spät nach Hause käme? Scherereien zu bekommen war für Josh etwas ganz anderes als für Ryan und Chelle. Manchmal schien es geradezu, als ob Josh überhaupt keine Angst davor hätte. Ryan holte ihn ein.

      «Wo gehen wir hin?», fragte er vorsichtig.

      «Zur Quelle.» Joshs Stimme klang viel zu ruhig.

      Sie hielten mit Joshs schnellem Tempo Schritt, stolperten durch Taubnesseln und duckten sich unter den tief hängenden purpurfarbenen Fingern des Sommerflieders, bis sie die moosbedeckten Stufen erreichten, die zum Ufer des Kanals und dem dort verlaufenden Pfad führten. Ihre Sohlen rutschten auf den glitschigen Schieferblöcken aus, und sie stiegen immer weiter nach unten, bis sie den Kanal zwischen den Bäumen glitzern sahen. Josh blieb stehen. Neben den Stufen war eine kleine Vertiefung im Boden und am Grund der Vertiefung befand sich ein kahler Ring aus Beton: der Rand des Schachts, den man über der Quelle errichtet hatte. Das Loch in der Mitte wurde von einem Maschendraht abgedeckt. In dem Drahtgeflecht steckten etliche leere Chipstüten.

      Josh ließ sich auf alle viere nieder. Aber erst als er sein Schweizer Taschenmesser aus der Hosentasche zog und den Schraubendreher-Einsatz ausklappte, wurde Ryan klar, was er vorhatte. Es dauerte nicht lange, da hatte Josh drei der Schrauben gelöst, mit denen das Abdeckgitter befestigt war.

      «Das ist ein Wunschbrunnen, nicht wahr?», sagte er, während er mit den übrigen rostigen Schrauben kämpfte. «Und das bedeutet, dass da unten Münzen liegen … Ich hab’s!» Das Gitter löste sich. «Also gut, wer geht runter? Chelle, du bist dünn und gelenkig. Wie wär’s?»

      Chelle stieß nur ein entsetztes Quietschen aus.

      Josh grinste sie an. «Na gut.» Er schwang die Beine über den Brunnenrand. Ryan und Chelle verfolgten bestürzt, wie er sich langsam nach unten abließ.

      «Josh, hör mal … ähm …», begann Ryan. Er wechselte einen beunruhigten Blick mit Chelle, als Josh gänzlich in der Schwärze verschwand.

      «Josh, was ist, wenn du stecken bleibst. Sollten wir nicht besser erst ein neues Seil machen und es um deinen Oberkörper binden, damit …»

      Von unten ertönte ein scharfer Schrei.

      «Josh!», kreischte Chelle. Sie ließ sich auf Hände und Knie fallen und starrte hinunter in den düsteren Brunnenschacht. Das helle Haar fiel um ihr Gesicht.

      «Hier unten stinkt’s!», verkündete Josh plötzlich.

      «Josh, du hast uns erschreckt!» Chelles Nervosität löste sich in einem blubbernden Kichern auf.

      «Na klar, macht nur weiter so. Lacht nur! Ich dagegen hocke hier unten …» Joshs widerhallende Stimme brach abrupt ab. Ein Platschen ertönte. Dann: «So ein Mist!»

      Rasch spähte Chelle wieder in den Brunnen.

      «Ich glaube, er ist reingefallen», presste sie durch ihr Kichern hervor. «Ich höre es platschen.»

      «Dann kann der Brunnen nicht besonders tief sein», flüsterte Ryan. Wenn Josh da unten am Ertrinken wäre, würde er bestimmt mehr Energie darauf verwenden, um Hilfe zu rufen, anstatt leise vor sich hinzufluchen.

      «Alles klar, ich habe welche», hörten sie ihn schließlich sagen. Das Echo des Brunnenschachts verlieh Joshs Stimme einen ernsten und Ehrfurcht gebietenden Klang. «Ich komme hoch.» Josh pfiff leise vor sich hin, als er nach oben kletterte. Hin und wieder wurde die Melodie von einem Schaben und dann einem Aufklatschen unterbrochen, wenn sich Mörtel und Steine lösten und ins Wasser hinunterfielen. Endlich tauchte er auf und kletterte über den Brunnenrand. Er schüttelte erst ein Bein aus, dann das andere, versuchte, das Wasser aus seinen Turnschuhen zu tanzen. Aber selbst im Dämmerlicht wurde schnell deutlich, dass seine Schuhe das geringste Problem waren.

      Chelle zuppelte ein kleines weißes Etwas aus ihrer Hosentasche. Sie schaute auf das Ding in ihrer Hand und dann auf den völlig durchnässten Josh. Ihre Schultern fingen an zu zucken.

      «Hier – ein Tempo!», quiekte sie, und aus irgendeinem Grund war das zum Schreien komisch.

      Fünf Minuten später rannten sie über die Hauptstraße von Magwhite und erwischten gerade noch den letzten Bus nach Guildley.

      Der Busfahrer riss vor Staunen Mund und Augen auf, als er den grünen Schlick in Joshs Haaren und die Algen auf seinen Sonnenbrillengläsern sah. Er starrte seine Kleider an, die von der Taille abwärts dunkel und klebrig vor Wasser waren, und betrachtete nachdenklich die geschwärzten Münzen, die in einer schleimigen Pfütze in Joshs ausgestreckter Hand schwammen.

      «Die hast du aus dem Brunnen gefischt, nicht wahr?»

      «Nein», antwortete Josh ungerührt und erwiderte rundheraus den Blick des Busfahrers.

      Die Schamlosigkeit dieser Lüge brachte den Fahrer für einen Moment aus dem Konzept. Dann bedachte er Josh mit einem langen Blick, als wollte er ihm versichern, dass er kein Idiot sei und dass er ein Auge auf ihn haben werde. Schließlich stach er mit dem Finger nach ein paar Knöpfen auf seinem Fahrkartenautomaten, woraufhin sich eine Schlange aus drei aneinanderhängenden Tickets in Joshs erwartungsvoll ausgestreckte Hand kräuselte.

      Josh schlenderte zum hinteren Teil des Busses und wartete, bis Chelle eine Zeitung, die in einer Ecke der Sitzbank gelegen hatte, für ihn ausgebreitet hatte. Dann ließ er sich grinsend darauf nieder, als ob zu Hause nicht die elterliche Inquisition auf ihn warten würde, wenn er, triefend wie eine ersoffene Ratte und mit Rost unter den Fingernägeln, heimkam.

      Er hatte es geschafft. In diesem Augenblick hätte Ryan sich zwischen Josh und eine tödliche Kugel geworfen, hätte ihn mit seinem Körper abgeschirmt. Er wäre ihm durch die Wüste gefolgt oder für ihn durch einen von Blutegeln wimmelnden Sumpf gewatet. Ryan kuschelte sich in seine Gefühlsaufwallung, während Chelle redete und Josh sich die Sonnenbrille mit ihrem Tempo abwischte. Mit einem Mal hätte er sich am liebsten einer großen Gefahr gegenübergesehen oder einem schier unüberwindlichen Hindernis, um sich seines Helden würdig zu erweisen, und er war so gänzlich von diesem Wunsch erfüllt, dass er das Gefühl hatte, er würde sein Herz zum Platzen bringen, wie eine Kastanie ihre Schale.

      Hätte Ryan zu diesem Zeitpunkt bereits so viel über Wünsche gewusst wie später, wäre er mit seinen Gedanken viel vorsichtiger umgegangen.

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      Die ersten zarten Zeichen einer Veränderung machten sich etwa eine Woche nach der Plünderung der Magwhite-Quelle bemerkbar. Ryan war der Erste, dem etwas auffiel, aber das war nichts Besonderes. Ryan sah die meisten Dinge früher als andere.

      Eines Morgens erwachte er mit dem Eindruck, dass ihm gerade ein Traum entglitten war. Zurück blieb ein unbehagliches Gefühl, als wäre in dem Moment, in dem er dem Schlaf entkam, eine kalte Hand aus seiner geschlüpft. Dann wurde sein Kopf klar und die feuchtkalte Empfindung verschwand. Er roch Kaffee und wusste sofort, dass das Haus wieder kurz davor stand, belagert zu werden.

      Seine Mutter hatte eine strenge Routine für die Tage entwickelt, an denen jemand kam, um


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