Schattengeister. Frances Hardinge

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Schattengeister - Frances  Hardinge


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seine Hand. «Diese kleine Schlampe hat mir einen Zahn ausgeschlagen!», rief er fassungslos und bedachte Makepeace mit einem Mörderblick.

      «Ihr habt nicht mal gewartet, bis er tot war, ehe ihr ihm den Ring aus der Nase gerissen habt!», kreischte Makepeace. In ihrem Kopf sang es. Gleich würde einer der Männer ausholen und sie schlagen, aber das war ihr egal. «Kein Wunder, dass er zurückkam! Kein Wunder, dass er wütend ist! Ich hoffe, ihr entkommt ihm niemals! Ich hoffe, er bringt euch beide um!»

      Beide Männer brüllten jetzt, und die Wirtin versuchte, alle Anwesenden zu beruhigen. Aber Makepeace hörte rein gar nichts außer diesem grünschwarzen zornigen Surren in ihrem Kopf.

      Sie zerrte an dem Schemel, und der kleinere der Männer zerrte zurück. Sie gab der Bewegung nach und stieß den Schemel von unten nach oben, sodass er gegen seine Nase prallte. Er quiekte zornig auf, ließ den Schemel los und griff nach einem Eichenstock, der an seinem Bündel lehnte. Die Wirtin lief um Hilfe schreiend davon, und Makepeace stand nun zwei Männern mit blutigen Gesichtern und zornblitzenden Augen gegenüber.

      Aber ihr Zorn war nichts gegen den Zorn des Bären, der aus den Sümpfen zum Angriff stürmte.

      Makepeace, die in die richtige Richtung blickte, sah ihn – oder sah ihn fast. Der Bär war ein dunkler, rauchiger Schemen mit vier Beinen und einem gewölbten Rücken, größer als er im Leben gewesen war. In einem atemberaubenden Tempo kam er auf das Trio zugelaufen. Durchsichtige Löcher markierten die Augen und das aufgerissene Maul.

      Die Wucht des Aufpralls riss Makepeace von den Füßen. Benommen lag sie auf dem Boden. Die Dunkelheit, die der Bär war, türmte sich über ihr auf. Es dauerte einen Moment, ehe sie begriff, dass sie zu seinem mächtigen, schattenhaften Rücken aufblickte. Er stand zwischen ihr und ihren Feinden, als ob sie sein Junges wäre.

      Durch die verschwommene Kontur konnte sie immer noch die beiden Schausteller sehen, die sich ihr drohend näherten, einer mit dem hoch erhobenen Stock. Der Bär war für sie unsichtbar. Sie hatten keine Ahnung, warum der auf sie gerichtete Hieb sein Ziel nicht traf, sondern von einer riesigen dunklen Pranke beiseite gewischt wurde.

      Nur Makepeace konnte es sehen. Nur sie sah, wie der Zorn des Bären ihn auflöste, wie der Geist mit jeder Bewegung weniger wurde. Er blutete Nebelfetzen, während er sein stummes Gebrüll ausstieß. Seine Flanken schienen zu dampfen.

      Er verlor sich selbst, ohne es zu wissen.

      Makepeace kämpfte sich auf die Knie. Ihr war übel von dem Bärengestank, schwindlig von dem Zorn, der in ihrem Blut brauste. Instinktiv streckte sie die Arme aus und umfasste den wütenden Schatten. In diesem Moment wollte sie nur den Bären zusammenhalten und verhindern, dass er schmolz.

      Ihre Arme schlossen sich um die Dunkelheit, und sie fiel in sie hinein.

       KAPITEL 4

      «Sie ist nun schon seit Tagen so», sagte die Stimme der Tante.

      Makepeace wusste nicht, wo sie war und aus welchem Grund. Ihr Kopf war erfüllt von einem Pochen und einer Schwere, die es ihr unmöglich machte, ihn zu heben. Etwas hielt ihre Glieder gefangen. Die Welt ringsum war unscharf wie ein Phantom, und Stimmen schienen nur aus weiter Ferne zu ihr vorzudringen.

      «So kann das nicht weitergehen», sagte die Onkelstimme. «Den halben Tag liegt sie wie tot da, und dann wieder … Na, du hast sie ja gesehen. Der Schmerz hat ihr den Verstand geraubt. Wir müssen an unsere Kinder denken. Sie sind nicht mehr sicher, solange sie hier ist.»

      Es war das erste Mal, dass Makepeace Furcht in seiner Stimme hörte.

      «Was werden die Leute denken, wenn wir unser eigen Fleisch und Blut auf die Straße setzen?», gab die Tante zu bedenken. «Sie ist das Kreuz, das wir zu tragen haben.»

      «Wir sind nicht ihre eigenen Verwandten», sagte der Onkel.

      Eine Zeit lang herrschte Stille, dann seufzte die Tante tief auf. Makepeace fühlte ihre warme, abgearbeitete Hand an ihrem Gesicht.

      «Makepeace, Kind, kannst du mich hören? Dein Vater – wie lautet sein Name? Margaret hat’s uns nie gesagt, aber du weißt es doch gewiss, nicht wahr?»

      Makepeace schüttelte den Kopf.

      «Grizehayes», flüsterte sie rau. «Er lebt in … Grizehayes.»

      «Ich wusste es», flüsterte die Tantenstimme voller Ehrfurcht und Triumph. «Dieser Sir Peter! Ich wusste es!»

      «Wird er etwas für sie tun?», fragte der Onkel.

      «Er ganz sicher nicht, aber seine Familie, wenn sie nicht will, dass ihr Name in den Schmutz gezerrt wird», sagte die Tante entschlossen. «Es würde keinen guten Eindruck machen, wenn jemand aus ihrer vornehmen Blutlinie in Bedlam landet, nicht wahr? Ich werde ihnen sagen, dass wir sie dorthin schicken, wenn sie sich ihrer nicht annehmen.»

      Aber aus den Worten waren längst schon wieder bloß Töne geworden, und Makepeace versank an einem dunklen Ort.

      Die folgenden Tage glitten verschwommen vorüber wie Hechte in trübem Wasser. Die meiste Zeit blieb Makepeace eng in eine Decke gewickelt wie ein Baby. Wenn sich ihr Geist etwas klärte, wickelte man sie aus, aber sie konnte keinem Gespräch folgen und auch nicht im Haushalt helfen. Sie taumelte und torkelte und ließ alles fallen, was sie in die Hand nahm.

      Der Duft der Pasteten aus der Küche, der ihr normalerweise das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ, machte sie krank. Der Geruch von Schmalz, Blut, Kräutern – all das war zu viel auf einmal. Aber die ganze Zeit war es in Wahrheit der Geruch von Bär, der sie verfolgte. Sie konnte sich jener feuchten Wärme seines Geistes nicht entledigen.

      Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was geschehen war, nachdem sie nach Bär gegriffen und die Schwärze sie verschluckt hatte, aber in ihrem Gedächtnis herrschte ein heilloses Durcheinander. Sie glaubte allerdings, sich an die beiden Schausteller zu erinnern. Sie hatte ein vages Bild von ihnen im Kopf, wie sie schrien und brüllten, die Gesichter blutüberströmt.

      Tiere hatten keine Geister, das hatte sie jedenfalls immer gedacht. Aber offensichtlich hatten sie doch welche, zumindest hin und wieder. Inzwischen hatte Bär seinen Geist in seiner Wut vermutlich ganz und gar aufgezehrt. Sie hoffte, dass seine Rache den Preis wert gewesen war. Warum fühlte sie sich nach diesem Kontakt so schlecht? Vielleicht, dachte sie benommen, konnten einen wütige Tiergeister mit irgendeinem Fieber anstecken.

      Als man sie eines Tages in die gute Stube führte, glaubte sie tatsächlich, sich in einem Fieberwahn zu befinden. Ein Mann stand neben dem Kamin. Er war groß und trug einen dunkelblauen Mantel. Sein Adlergesicht war von einem weißen Haarschopf gekrönt. Es war der Mann, den sie am Tag des Aufruhrs in London verfolgt hatte wie ein Irrlicht.

      Makepeace starrte ihn an, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

      «Das ist Master Crowe», sagte die Tante langsam und behutsam. «Er wird dich nach Grizehayes bringen.»

      «Mein …» Makepeaces Stimme war immer noch eingerostet. «Mein Vater …»

      Unerwarteterweise schlang die Tante die Arme um Makepeace und drückte sie einmal kurz an sich.

      «Er ist tot, Kind», flüsterte sie. «Aber seine Familie wird dich aufnehmen, und die Fellmottes können sich viel besser um dich kümmern als ich.» Dann ging sie eilig davon, um Makepeaces Sachen zusammenzusuchen, überwältigt von Zärtlichkeit, Sorge und Erleichterung.

      «Wir haben sie eng in eine Decke gewickelt», erklärte der Onkel dem Fremden murmelnd. «Ihr solltet das Gleiche tun, wenn sie wild wird. Was immer diese Halunken im Gasthaus ihr angetan haben, ich glaube, sie haben ihr den Verstand aus dem Kopf geschlagen, bevor irgendjemand sie davongejagt hat.»

      Makepeace würde nach Grizehayes gehen. Genau das hatte sie zu Mutter gesagt, an jenem letzten, tödlichen Tag. Vielleicht sollte sie glücklich sein oder zumindest irgendetwas fühlen.

      Stattdessen kam sich Makepeace zerbrochen und leer vor wie eine


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