Schattengeister. Frances Hardinge

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Schattengeister - Frances  Hardinge


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Alle möglichen Vögel hockten im Geäst und zwitscherten und verspotteten sie. Der Himmel schimmerte grauschwarz wie die Flügel einer Dohle, und ihre Kehle war rau vom Brüllen.

      Im Morgengrauen erwachte Makepeace völlig zerschlagen. Benommen starrte sie durch die Gitter vor dem Fenster auf den violett angehauchten Himmel, vor dem fettige Wolkenfetzen dahinzogen. Eine Fledermaus flatterte in ihr Blickfeld und verschwand wieder, wie ein dunkler Gedanke.

      Sie lag nicht im Bett, sondern auf dem Boden, und jeder Knochen in ihrem Leib tat ihr weh.

      Vorsichtig setzte sich Makepeace auf, wobei sie sich mit einer Hand abstützte, und zuckte zusammen. Der Schmerz war überall. Selbst ihre Hände brannten. Sie schaute sie an und sah dunkle Schrammen auf den Knöcheln. Ein paar ihrer Nägel waren schon zersplittert gewesen, aber jetzt waren einige bis ins Nagelbett hinein abgebrochen. An ihrer linken Schläfe und auf ihrer rechten Wange hatten sich empfindliche Schwellungen gebildet, und als sie mit den Fingern ihren Körper abtastete, spürte sie Prellungen an ihren Armen und an der Hüfte.

      «Was ist mit mir passiert?», fragte sie sich laut.

      Vielleicht hatte sie einen Anfall gehabt. Eine andere Erklärung fiel ihr nicht ein. Der Diener hatte ihr zwar mit dem Stock gedroht, aber sie hätte es wohl gemerkt, wenn er hereingekommen wäre und sie damit traktiert hätte.

      Ich muss mich selbst verletzt haben. Sonst ist ja niemand da.

      Wie eine höhnische Antwort auf diesen Gedanken hörte sie plötzlich ein Geräusch hinter sich.

      Makepeace wirbelte herum und suchte nach dem Ursprung des Geräuschs. Nichts. Nur der leere Raum und das breiter werdende Rechteck aus glänzendem Morgenlicht, das durch das Fenster fiel.

      Ihr Herz hämmerte. Das Geräusch war so erschreckend deutlich gewesen wie ein Atemzug gegen ihren Nacken, der ihr jetzt noch im Ohr kitzelte. Und doch hätte sie es einen Augenblick später nicht mehr beschreiben können.

      Grob. Animalisch. Mehr wusste sie nicht.

      Und dann roch sie etwas. Es stank nach heißem Blut, Herbstwald, nach nassem Hund oder Pferd, moschusartig und intensiv. Sie erkannte den Geruch sofort.

      Sie war nicht allein.

       Das ist unmöglich! Er hat sich selbst verzehrt! Und wir sind drei Tagesritte von Poplar entfernt! Wie hat er mich gefunden? Und sie vernichten doch Geister hier – wie konnte er nach Grizehayes gelangen, ohne dass jemand ihn bemerkt hat?

      Aber es war so. Dieser Geruch war unverkennbar. Irgendwie – obwohl es eigentlich unmöglich war – hatte Bär Zugang zu ihrem Zimmer gefunden.

      Makepeace wich zur Tür zurück, obwohl sie wusste, dass es sinnlos war. Ihr Blick zuckte durch das Zimmer. Zu viele Schatten überall. Wichen sie zurück oder rückten sie vor? Waren da irgendwo durchsichtige Augen, die sie beobachteten?

      Warum? Warum nur war er ihr gefolgt? Makepeace hatte Todesangst und fühlte sich gleichzeitig betrogen. Er hatte sich an seinen beiden Quälgeistern gerächt, aber sie hatte ihm doch gar nichts getan! Im Gegenteil – im Angel Inn hatte sie sogar den Eindruck gehabt, dass sie einander nahe gewesen waren, dass sie seinen Schmerz und seine Wut geteilt hatte und dass er ihr zu Hilfe gekommen war …

       Aber er ist ein Geist. Und Geister wollen nur in deinen Kopf eindringen. Und außerdem ist er ein tumbes Tier und weiß nichts von Schuld und Sühne. Du Närrin. Hast du wirklich geglaubt, er sei dein Freund?

      Und jetzt war sie mit ihm eingeschlossen. Sie konnte nirgends hin. Es gab keinen Ausweg.

      Direkt neben ihrem Ohr ertönte plötzlich ein raues Geräusch. Glühend heiß. Ohrenbetäubend. Näher als nah.

      Viel zu nah.

      Makepeace geriet in Panik. Sie kreischte auf und rannte zur Tür, hämmerte mit den Fäusten gegen das Holz.

      «Lasst mich raus!», schrie sie. «Ihr müsst mich rauslassen! Hier drin ist etwas! Hier drin ist ein Geist!»

       Oh bitte, bitte mach, dass man eine Wache vor meine Tür gestellt hat! Bitte, bitte lass jemanden im Hof mich hören!

      Sie rannte zum Fenster und versuchte, ihr Gesicht zwischen die Gitterstäbe zu quetschen.

      «Hilfe!», schrie sie aus Leibeskräften. «Helft mir!»

      Die kalten Stäbe brannten an ihren Wangen. Sie drückten gegen ihre linke Schläfe und ihre rechte Wange, genau dort, wo die Schwellungen saßen. Die Berührung erweckte eine Erinnerung. Das verschwommene Bild eines ähnlichen Moments, als sie ihren Kopf zwischen Stäbe stecken wollte, in dem Bestreben, sich zu befreien.

      Makepeace hörte, wie ihr Schrei kehlig wurde, bis ein lang gezogenes, offenes Brüllen aus ihrem Mund drang. Und jetzt stemmte sie ihr Gesicht mit brutaler Kraft gegen die Eisenstäbe und versuchte, sich hindurchzuzwängen. Vor ihren Augen tanzten schwarze Punkte. Sie fühlte, wie ihre Hände hilflos an den Steinen kratzten, wie ihr die Haut von den Fingerspitzen geschält wurde.

      Aufhören!, rief sie sich selbst zu. Aufhören! Was mache ich denn da?

      Und da traf sie die Wahrheit wie eine Sternschnuppe.

      O Gott. O Gott im Himmel. Ich bin ja so dumm.

      Natürlich konnte Bär nach Grizehayes gelangen. Natürlich ist er hier.

      Er ist in mir.

      Ein blinder, wütender, verzweifelter Geist war in ihrem Innern. Ihre schlimmste Angst war Realität geworden. Und jetzt würde Bär in ihr herumstolpern und ihren eigenen Geist in Stücke schlagen. Er würde sie verletzen und ihren Körper zerschmettern in seinem irrsinnigen Verlangen, aus dem Turmzimmer zu entkommen.

       Hör auf!

      Voller Furcht rief sie ihre Gedankensoldaten auf den Plan, die Engel ihres Geistes. Sie tobten und wüteten, und sie hörte den Bären knurren. Mit einer übermenschlichen Anstrengung schloss sie die Augen und umfing sich selbst und Bär mit Dunkelheit. Die Nacht war voll mit stummem Lärm, denn ihr eigener Geist schrie vor lauter Angst genauso laut wie Bär.

      Da passierte etwas. Ein Schlag erschütterte ihren Geist bis ins Mark. Einen kurzen Augenblick lang fühlte sie, wie ihre Seele ins Wanken geriet und darum kämpfen musste, aufrecht zu bleiben. Erinnerungen bluteten aus, Gedanken zerrissen. Der Bär hatte sie angegriffen.

      Und doch war es dieser Schlag, der Makepeace die Angst nahm.

      Er fürchtet sich. Er ist in Panik.

      Sie stellte ihn sich vor, einen großen Bären, allein, verloren und gefangen in der Dunkelheit. Er verstand nicht, wo er war und warum sich sein Körper so seltsam und schwach anfühlte. Alles, was er wusste, war, dass er bedroht wurde; sein ganzes Leben lang wurde er schon bedroht …

      Behutsam, aber entschlossen übernahm Makepeace wieder die Kontrolle über ihre Atmung. Einen Atemzug nach dem anderen sog sie mit erzwungener Ruhe in ihre Lungen und versuchte gleichzeitig, ihren Herzschlag zu verlangsamen. Sie schob die Angst, dass Bär sie von innen heraus zerfetzen würde, beiseite.

      Ganz ruhig, flüsterte sie ihm in Gedanken zu.

      Wieder stellte sie sich den Bären vor, aber jetzt stand sie im Geiste neben ihm, die Arme ausgestreckt, genau wie in jenem Moment, als sie versucht hatten, sich gegenseitig zu beschützen.

      Ganz ruhig. Ganz ruhig, Bär. Ich bin’s.

      Das stumme Brüllen wurde leiser und ging in ein unruhiges Knurren über. Vielleicht erkannte er sie, nur ein bisschen. Vielleicht verstand er allmählich, dass er nicht angegriffen wurde.

      Ich bin dein Freund, sagte sie zu ihm. Und dann: Ich bin deine Höhle.

      Höhle. Er kannte keine Worte, aber Makepeace fühlte, wie er die Vorstellung zögernd annahm, wie einen Apfel, den sie ihm darbot. Vielleicht hatte er niemals in der Wildnis gelebt, sondern war bereits in Gefangenschaft geboren worden. Aber er war immer noch ein Bär, und tief


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