Schattengeister. Frances Hardinge

Читать онлайн книгу.

Schattengeister - Frances  Hardinge


Скачать книгу
bis sie mit dem Rücken gegen die Wand prallte. Sie starrte und starrte und wollte nicht, dass es so war, auch als dieses Etwas schon mit Rauchfingern gierig nach ihren Augen krallte.

      Gerade noch rechtzeitig kniff Makepeace die Augen zu und fühlte, wie sich eine Kälte auf ihren Lidern niederließ. Es war wie der Albtraum, es war wie alle Albträume, nur ohne die Hoffnung, aufwachen zu können. Sie hielt sich die Ohren zu, aber es war zu spät. Sie hatte sie gehört, diese weichen, schrecklichen Töne.

      Lass mich ein … Lass mich ein … Makepeace, lass mich ein

      Das Etwas tastete sich an ihrem Geist entlang, fand die Ritzen von Kummer, Liebe und Erinnerung in ihrer Verteidigungsmauer und riss an ihnen mit brutalen, gierigen Fingern. Es riss Stücke aus ihrem Herzen und ihrem Geist, während es sich seinen Weg hineinkämpfte. Es wusste, wie es ihre Abwehr umgehen konnte, kannte den Pfad zu ihrem weichen Kern.

      Und mit einer Wildheit, die schierer Todesangst entsprang, wehrte sich Makepeace.

      Mit ihrem Geist hieb sie um sich, zielte auf die rauchige Weichheit des Dings, fühlte es schreien, als sie es zu packen bekam und zerriss. Die Fetzen zappelten hilf- und sinnlos herum wie zerschnittene Würmer und versuchten, sich in ihre Seele zu graben. Es grabschte und krallte und klammerte sich an sie. Es konnte keine Worte bilden, nur winseln und heulen.

      Makepeace wollte die Augen nicht mehr öffnen. Aber sie tat es trotzdem, ganz zum Schluss. Um zu sehen, ob es weg war.

      Und sie sah, was aus dem Gesicht geworden war, was sie mit ihm gemacht hatte. Sie sah Angst und einen Schlund von Hass in den verdrehten, verschwindenden Zügen.

      Es war kaum noch als Gesicht zu erkennen. Aber trotzdem war es irgendwie immer noch Mutter.

      Makepeace wusste nicht mehr, dass sie geschrien hatte. Geschrien und geschrien. Das Nächste, woran sie sich erinnerte, war, dass sie auf dem Boden saß und in das Licht der Kerze ihrer Tante blinzelte und von der ganzen Familie mit Fragen überschüttet wurde. Die Läden waren fest verschlossen und klapperten leicht im Nachtwind. Tapp, tapp, tapp.

      Die Tante erklärte Makepeace, dass sie vermutlich während eines Albtraums von der Matratze gerollt war. Makepeace musste ihr glauben. Die Vorstellung beruhigte sie nicht ganz und gar, denn schließlich wusste sie, dass die Geister, gegen die sie in Träumen kämpfte, manchmal wirklich waren. Aber bitte, lieber Gott, nicht dieser Geist. Dieser Geist durfte sie nicht angegriffen haben, und Makepeace durfte ihn nicht in Fetzen gerissen haben. Allein der Gedanke war unerträglich.

      Es musste ein Traum gewesen sein. Voller Verzweiflung klammerte sich Makepeace an diesen Glauben.

      Nur eine Woche nach diesem Vorfall ging das Gerücht um, ein Geist treibe in den Sümpfen sein Unwesen. Man sagte, er suche einen einsamen Streifen Land heim, der zu feucht war, als dass Vieh darauf hätte weiden können, und nur von einzelnen Trampelpfaden durchgezogen wurde, die nicht zu jeder Zeit begehbar waren.

      Ein unsichtbares Etwas erschreckte einen Hausierer, indem es durch das Schilf brach und eine Bresche hinterließ. Die Hähne kehrten den Rebhühnern den Rücken und die Wasservögel flohen in einen anderen Teil des Moors. Und dann beherbergte mit einem Mal das Angel Inn, das zwischen dem Stadtrand und den Schilfgebieten lag, nicht nur Matrosen.

      «Ein rachsüchtiger Geist», befand die Tante. «Man sagt, er sei bei Sonnenuntergang gekommen. Er hat eine Tür aus den Angeln gerissen, einen Haufen Geschirr zerschlagen und ein paar kräftige Männer grün und blau geprügelt.»

      Makepeace war die einzige Person, die bei diesen Gerüchten nicht nur einen Anflug von Angst empfand, sondern auch Hoffnung. Mutters Grab befand sich am Rand des Sumpfes, nicht weit vom Angel Inn entfernt. Es war eine schreckliche Vorstellung, dass Mutters Geist in einem Anfall von Wahnsinn ein Haus verwüstet hatte, aber wenn er in einem Stück war, dann bedeutete das, dass Makepeace ihn nicht in Fetzen gerissen hatte. Dass sie Mutter nicht ein zweites Mal getötet hatte.

      Ich muss sie finden, sagte sich Makepeace, obwohl ihr bei dem Gedanken übel wurde. Ich muss mit ihr reden. Ich muss sie retten.

      Niemand aus Makepeaces Kirchengemeinde ließ sich im Angel Inn blicken außer dem alten William in seinen schwachen Momenten. Jedes Mal, wenn er wieder besoffen nach Hause gewankt war, stellte ihn der Pfarrer in seiner Predigt als schlechtes Beispiel dar und verlangte von den anderen, ihm Kraft zu geben und für ihn zu beten. Als sie über den aufgeweichten Feldweg zu dem Gasthaus ging, machte sich Makepeace Sorgen, dass nun sie am kommenden Sonntag der Trunkenheit bezichtigt werden würde.

      Das Angel Inn war über Eck gebaut und umfasste wie ein angewinkelter Arm einen kleinen Innenhof. Eine Frau mit kantigem Kiefer und einer fleckigen Baumwollhaube fegte die Stufen und blickte auf, als Makepeace herbeikam.

      «Hallo Püppchen», sagte sie. «Kommst du deinen Vater holen? Welcher ist es denn?»

      «Nein, ich … ich will etwas über den Geist erfahren.»

      Die Frau schien nicht überrascht zu sein, sie nickte knapp und geschäftsmäßig.

      «Du musst ein Getränk bestellen, wenn du einen Blick hineinwerfen willst.»

      Makepeace folgte ihr in den dunklen Schankraum, legte mit einem leisen Schuldgefühl eine Münze vom Wirtschaftsgeld ihrer Tante auf den Tresen und bekam einen Becher mit Dünnbier dafür. Dann brachte die Frau sie zur Hintertür hinaus.

      Hinter dem Gasthaus befand sich ein Areal, das mit Sägespänen ausgelegt war. Makepeace vermutete, dass hier die Vergnügungen stattfanden, wenn genug Gäste da waren, damit sich die Sache rentierte: kahlrasierte Pugilisten, die sich mit bloßen Fäusten gegenseitig zu Brei schlugen, Hahnenkämpfe und Dachshatzen oder weniger blutige Spiele wie Wurfringe, Kegeln oder Bowls. Hier und da waren die Sägespäne dunkel verfärbt, entweder von verschüttetem Schwarzbier oder von Blut. Hinter diesem Bereich lag eine niedrige Mauer mit einem Übertritt und dahinter wiederum das scheinbar endlose Marschland mit dem im Wind wogenden Wald aus Schilf, das im Licht des späten Nachmittags leicht glänzte.

      «Komm her, schau dir das an.» Die Frau schien fast stolz auf die Sensation zu sein, die sie Makepeace vorweisen konnte. Der Riegel der Hintertür war zerbrochen und ein Paneel zersplittert. Ein Fenster war eingeschlagen, der Bleirahmen verbogen, und etliche der kleinen Scheiben waren blind von unzähligen feinen Rissen. Ein Stoffbanner hing in Fetzen und das Motiv war nur noch mit Mühe zu erkennen – ein Dudelsack, ein paar Trommeln, irgendein dunkles Tier. Ein Tisch lag umgeworfen auf dem Boden und zwei Stühle hatten zerbrochene Rückenlehnen.

      Während Makepeace sich umschaute, wurde ihr das Herz schwer. Erst jetzt wurde ihr klar, dass keines der toten Wesen, denen sie bisher begegnet war, einen echten, greifbaren Schaden hinterlassen hatte. Die Toten hatten ihren Geist angegriffen, aber nie auch nur eine Tasse zerbrochen.

      Vielleicht war das nur eine gewöhnliche Wirtshausschlägerei, dachte Makepeace. Scheu betrachtete sie das abgehärmte, verschlagene Gesicht der Wirtin. Vielleicht will sie Kapital aus dem Schaden schlagen und tut so, als ob ein Geist dafür verantwortlich ist, damit die Leute herkommen und etwas trinken.

      Die Wirtin führte Makepeace zu zwei Männern, die mit grimmigen Gesichtern im Freien ihre Humpen stemmten. Beide waren hager und wettergegerbt. Es waren keine Dörfler, und Makepeace vermutete anhand der Bündel, die neben ihren Füßen lagen, dass sie zum fahrenden Volk gehörten.

      «Die Kleine ist wegen dem Geist hier», sagte die Frau und wies mit einer Kopfbewegung auf Makepeace. «Ihr könnt doch ein Lied davon singen, nicht wahr?»

      Die beiden Männer wechselten einen Blick und runzelten die Stirn. Offensichtlich war das eine Geschichte, die sie nicht gern erzählten.

      «Spendiert sie uns ein Bier?», fragte der größere der beiden.

      Die Wirtin blickte Makepeace mit hochgezogenen Augenbrauen an. Mit einem üblen Gefühl in der Magengrube und der fast sicheren Gewissheit, dass sie hereingelegt wurde, trennte sich Makepeace von einer weiteren Münze, und die Wirtin ging, um noch mehr Bier zu holen.

      «Es kam aus der Dunkelheit. Siehst du das


Скачать книгу