Schattengeister. Frances Hardinge

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Schattengeister - Frances  Hardinge


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war. Ihre Freundschaft war noch zu neu und zu zerbrechlich, und sie brauchte sie.

       KAPITEL 8

      Die Wochen vergingen, und Makepeace verdiente sich mit harter Arbeit und schneller Auffassungsgabe die brummige Anerkennung der zweiten Köchin. Sie stand ganz unten in der Hackordnung und war jeden Tag die Erste, die aus dem Bett war, holte Wasser und Holz, fütterte die Hühner und entfachte das Feuer. Die Arbeit war ermüdend, und die Hitze und der Rauch erschreckten Bär nach wie vor, aber sie hatte bald herausgefunden, wie man den Bratenspieß am besten drehte, wie der Bienenstock geplündert wurde, wie mit den Fettpfannen und mit dem Kesselhaken umgegangen werden musste. Sie geriet schon längst nicht mehr in Panik, wenn man ihr sagte, sie solle zum Salzkasten laufen, zum Zuckerblock oder in den Fleischkeller.

      Mistress Gotely sah hin und wieder, wie Makepeace Küchenreste zusammenschabte und den Hunden brachte, die in der Küche schliefen, oder sie Soße von ihren Händen lecken ließ.

      «Weichherziges kleines Mondkalb», murmelte sie und schüttelte den Kopf. «Sie fressen dir noch die Haare vom Kopf, wenn du nicht aufpasst.» Aber die Soße tat bereits ihre wohlschmeckende Wirkung, was die Loyalität der Hunde betraf. Keiner von ihnen knurrte sie mehr an. Im Gegenteil, manchmal schlief sie nachts mit ihnen zusammengekuschelt, und ihr Atem und ihre Wärme wiegten sie in einen traumlosen Schlaf. Der kleine Küchenhund lag meistens in ihren Armen.

      Wie Makepeace gehofft hatte, besänftigte die Zutraulichkeit der Hunde auch Bärs Nervosität. Für ihn schienen alle Lebewesen, Mensch oder Tier, in «harmlos» und «potenziell gefährlich» unterteilt zu sein. Vertraute, harmlose Tiere duldete er in seiner Nähe. Fremde und verdächtige Kreaturen mussten mit Schnauben und Drohgebärden vertrieben werden.

      Was für ein ängstliches Bärchen du doch bist, dachte Makepeace.

      Das Schreibenlernen machte ihr viel mehr Schwierigkeiten. Einmal in der Woche, spät am Abend, nachdem ihr Tagwerk erledigt war, wurde sie zusammen mit James von Young Crowe unterrichtet, der während ihrer Zeit im Turmzimmer ihr Gefängniswärter gewesen war. Seinem selbstverliebten Grinsen nach zu urteilen, war er der Meinung, dass seine «Heilmethoden» bei ihr angeschlagen und sie von ihrem «Wahnsinn» kuriert hatten.

      Makepeace wusste mittlerweile, dass die ganze Familie Crowe in Diensten der Fellmottes stand. Die anderen Diener gaben ihnen der Einfachheit halber Spitznamen, um sie auseinanderzuhalten. Der Vater von Young Crowe, Old Crowe, war der Verwalter von Grizehayes. Und der weißhaarige Mann, der sie in ihr neues Zuhause gebracht hatte, war – wie James ihr bereits erklärt hatte – White Crowe.

      Makepeace hatte bisher nur ein M als ihr «Zeichen» geschrieben. Sie hatte schon gesehen, wie Leute lasen: Ihr Blick glitt über die Zeilen wie ein Blatt in der Strömung eines Bachs. Aber wenn sie selbst die Buchstaben anstarrte, starrten sie bloß zurück. Sie sahen aus wie platt gedrückte Insekten: flache Leiber und ausgebreitete Beine. Ihre ungeübte Hand konnte sie nicht nachzeichnen. Sie fühlte sich dumm dabei. Und es war ihren Bemühungen auch nicht gerade zuträglich, dass sie am Ende des Tages in der Regel zu müde war, um klar zu denken.

      Young Crowe hatte seine eigene, herablassend philosophische Meinung über Makepeaces Unwissenheit.

      «Hast du schon einmal ein Bärenjunges gesehen, wenn es aus dem Mutterleib kommt?», fragte er. «Es ist nur eine formlose Masse. Die Bärin muss es stundenlang lecken, bis es aussieht wie ein Bärenjunges, mit einer Schnauze, Ohren, hübschen Tatzen und allem anderen, was es zum Leben braucht.

      Du bist entsetzlich ungebildet für dein Alter. Wie ein Klumpen Fett. Aber wir werden dich schon in Form lecken.»

      Makepeace musste unwillkürlich lächeln. Sie überlegte, ob Bär von seiner Mutter auch in Form geleckt worden war, in einer glücklichen Zeit vor der ganzen Grausamkeit. Die Vorstellung, dass ein kleines Bärchen seine Augen öffnete und zum ersten Mal die große mütterliche Bärenzunge sah, gefiel ihr sehr. Young Crowe bemerkte ihr Lächeln und zog Tierbücher heraus, damit sie die Worte darin lesen und abschreiben konnte. Makepeace freute sich, dass sie über Tiere schreiben durfte.

      Kröte und Spinne sind giftige Gegner und bekämpfen sich bis auf den Tod, erfuhr sie. Der Pelikan säugt seine Jungen mit Herzblut. Die Beine eines Dachses sind auf einer Seite länger als auf der anderen, damit er auf einer abschüssigen Fläche besser laufen kann.

      Makepeace kam immer besser mit Bär zurecht. Er war nicht ständig in ihrem Geist aktiv. Oft schlief er, und manchmal kam es ihr so vor, als ob er überhaupt nicht da wäre. Im Morgengrauen und in der Abenddämmerung wurde er hin und wieder ruhelos, aber auch das geschah nicht regelmäßig. Manchmal tauchte Bär ohne Vorwarnung auf. Seine Gefühle ergossen sich wie ein Sturzbach in ihre eigenen; ihre Sinne wurden von seinen überflutet. Bär schien grundsätzlich in der Gegenwart zu leben, aber er trug seine Erinnerungen bei sich wie verheilte Wunden. Hin und wieder kratzte er eine davon auf und taumelte verwirrt in einen Abgrund aus Schmerz.

      Er war neugierig und geduldig, aber seine Angst konnte in Sekundenschnelle in rasende Wut umschlagen. Makepeace fürchtete sich vor dieser Wut. Im Augenblick waren sie beide in Sicherheit, aber es fehlte nicht viel, und die Fellmottes würden zu der Überzeugung kommen, dass Makepeace doch verrückt oder – noch viel schlimmer – besessen war.

      Sie lebte sich in Grizehayes ein, und trotzdem blieb sie ruhelos. Selbst die kleinen Gunstbezeugungen – der Unterricht, der Extra-Löffel Eintopf beim Mittagessen – machten sie nervös. Sie musste unwillkürlich an Gänse oder Schwäne denken, die man mästete und dann schlachtete, und sie begann sich zu fragen, ob auch auf sie irgendwo ein Messer wartete.

      Im Frühherbst geriet der Haushalt außer sich vor Begeisterung, weil zwei Mitglieder der Fellmotte-Familie, die lange abwesend gewesen waren, nach Grizehayes zurückkehrten. Einer war Sir Marmaduke, ein Vetter zweiten Grades von Lord Fellmotte, der ein Anwesen in den Welsh Marches bewohnte. Der andere war Symond, Sir Thomas’ ältester Sohn und sein Erbe.

      Symonds verstorbene Mutter hatte ihre Pflicht erfüllt und gehorsam acht Kinder hervorgebracht, ehe sie an einem Fieber starb. Vier von ihnen erfreuten sich noch ihres Lebens. Die beiden erwachsenen Töchter waren vorteilhaft verheiratet worden, und ihre neunjährige Schwester befand sich in der Obhut eines Vetters und war dem Sohn eines Baronets versprochen. Symond war der einzige noch lebende Sohn.

      Symond und Sir Marmaduke kamen direkt vom Hof in London, und alle waren ganz versessen darauf, Neuigkeiten aus der Hauptstadt zu erfahren. Für ein paar Humpen Bier unten im Hof war der Kutscher nur zu gerne bereit, sein wissbegieriges Publikum zufriedenzustellen.

      «Der Earl of Stafford ist tot», sagte er. «Das Parlament hat ihn wegen Hochverrats abgeurteilt. Jetzt steckt sein Kopf über dem Verrätertor.»

      Alle keuchten entsetzt auf.

      «Der arme Earl!», murmelte Mistress Gotely. «Nach allem, was er für den König getan hat. Was hat das Parlament denn bloß vor?»

      «Sie wollen mehr Macht für sich selbst, das ist es», sagte Young Crowe. «Sie berauben den König seiner Freunde und Verbündeten, einen nach dem anderen. Nicht das ganze Parlament ist verdorben, aber es gibt dort ein giftiges Vipernnest aus Rundköpfen, aus Puritanern, die die anderen Parlamentarier aufstacheln. Das sind die wahren Verräter – und sie sind vollkommen verrückt.»

      «Alle Puritaner sind verrückt», murmelte Long Alys, die rothaarige Waschfrau. «Oh, ich wollte dich nicht kränken, Makepeace, aber es stimmt doch!»

      Makepeace hatte es aufgegeben zu behaupten, sie sei keine Puritanerin. Ihr fremdartiger, bibeltreuer Name grenzte sie von den anderen ab. Im Grunde genommen war ihr dieser Abstand ganz lieb. Es war gefährlich, jemandem zu nahe zu kommen.

      Außerdem wusste Makepeace nicht mehr, was richtig war und wer die Oberhand gewann. Wenn sie den Leuten in Grizehayes zuhörte, dann hatte sie das Gefühl, dass in ihrem Kopf das Innere nach außen gekehrt wurde. In Poplar war jedermann klar, dass der König von schlechten Ratgebern und katholischen Intriganten vom rechten Weg abgebracht wurde und dass im Parlament nur brave, ehrliche


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