Schattengeister. Frances Hardinge

Читать онлайн книгу.

Schattengeister - Frances  Hardinge


Скачать книгу
Antwort folgte am Tag darauf.

       KAPITEL 9

      Der nächste Morgen brachte schwüles, aber sonniges Wetter, und eine Handvoll Dienstboten ging mit Körben und Leitern in den kleinen, mit einer Mauer eingefriedeten Obstgarten, um die reifen Äpfel zu ernten. Die Bäume hatten glänzendes Laub und bogen sich unter der Last der Früchte, und die Luft war erfüllt von ihrem süßen Duft.

      Makepeace war auch dort und pflückte ein paar Quitten für Mistress Gotely, als von der anderen Seite des Gartens ein lautes Krachen ertönte, gefolgt von Schreien und Hilferufen.

      Sie rannte zu dem Tumult. Jacob, einer der Stallknechte, war bei der Apfelernte von dem höchsten Baum gefallen. Er war immer ein Witzbold gewesen, dachte Makepeace unwillkürlich, als sie in sein Gesicht starrte. Es lag immer noch in Fältchen, wie mitten im Lachen erstarrt, aber sein Hals war seltsam verdreht und erinnerte sie an die toten Hühner auf dem Küchentisch.

      Jemand lief zum Haus, um Sir Thomas über den Unfall zu informieren. Er kam kurz darauf und schickte nach einer Trage. Dann mussten alle den Garten verlassen.

      Einen kurzen Moment lang glaubte Makepeace, ein leichtes Schimmern über Jacobs Leiche zu erkennen. Die Luft kräuselte sich und wisperte. Sie keuchte auf und trat einen Schritt zurück.

      Etwas streifte ihren Geist, und dann stürmte eine Flut von Erinnerungen auf sie ein, die ihr völlig fremd waren.

      … Angst, Schmerz, zwei lachende Kinder, ein Grasfleck auf der Wange einer Frau, Frostbeulen und Glühwein, gefleckte Äpfel im Sonnenlicht, rutschige Flechten unter den Händen

      Makepeace drehte sich um und rannte mit hämmerndem Herzen aus dem Garten. Erst als sie wieder in der Küche stand und nach Atem rang, merkte sie, dass sie den Korb mit den Quitten vergessen hatte, die für das Abendessen gebraucht wurden.

      «Na, dann geh zurück und hol ihn!», schrie Mistress Gotely. «Aber schnell!»

      Obwohl ihr vor lauter Angst übel war, rannte Makepeace wieder zum Garten. Aber am Tor stieß sie auf James, der ihr den Weg verstellte.

      «Geh nicht rein», flüsterte er.

      «Ich muss nur …»

      James schüttelte eindringlich den Kopf. Er legte einen Finger an seine Lippen und zog sie neben sich, während er durch das Tor in den Garten schaute. In seinem Gesicht stand die Anspannung, und Makepeace erkannte, dass sie ihn noch nie so beunruhigt gesehen hatte.

      Im Obstgarten waren nun keine Dienstboten mehr. Lediglich ein Mann ging mit langen Schritten zwischen den Bäumen hindurch. Er war ungewöhnlich groß und kräftig, bewegte sich aber mit einer gefährlich wirkenden, raubtierhaften Eleganz.

      «Sir Marmaduke», flüsterte James.

      Drei scharfäugige Jagdhunde drängten sich zu Sir Marmadukes Füßen, zitternd vor Erwartung und unterdrückter Aufregung. Ein Bluthund schnüffelte den Boden ab.

      «Was macht er da?», hauchte Makepeace.

      James beugte sich dicht an ihr Ohr. «Er jagt», flüsterte er.

      Der Bluthund stand jetzt steif und stieß ein dumpfes, drohendes Bellen aus. Er schien eine Stelle des Gartens im Visier zu haben, wo nichts als Gras zu sehen war.

      Sir Marmaduke hob den Kopf. Selbst aus dieser Entfernung konnte Makepeace sehen, dass sein Gesicht seltsam ausdruckslos war, aber gleichzeitig lag etwas darin, das sie unwillkürlich zurückschrecken ließ. Es war der gleiche Eindruck von Falschheit, der gleiche Schrecken, den sie bei ihrer Begegnung mit Lord Fellmotte empfunden hatte. Sir Marmaduke legte den Kopf leicht schräg, als ob er lauschte, mit einem leisen, gelassenen und gleichzeitig gierigen Lächeln. So verharrte er eine ganze Weile, vollkommen und unheimlich still.

      Etwas rührte sich kaum merklich, eine Nessel erzitterte und eine Biene flog träge in die Luft. Ganz kurz glaubte Makepeace ein kleines Rauchfähnchen zwischen den tanzenden Schatten zu erkennen.

      Jacob.

      In diesem Moment ging Sir Marmaduke zum Angriff über.

      Sie sind zu flink, hatte James von den Elder behauptet. Jetzt verstand Makepeace, was er damit meinte. Eben noch hatte Sir Marmaduke so reglos wie eine Statue dagestanden, jetzt sprintete er mit unfassbarer Geschwindigkeit durch den Garten. Normalerweise spannten Menschen ihre Muskeln an, bevor sie losrannten; Sir Marmaduke hatte das nicht getan, dachte Makepeace. Die Hunde hetzten hinter ihrem Herrn her wie Wölfe, die ihre unsichtbare Beute einkreisten.

      Der einsame Geist floh vor ihnen, schlängelte sich verzweifelt zwischen den Apfelbäumen durch. Als er sich dem Gartentor näherte, konnte Makepeace ihn besser erkennen. In seiner Panik blutete er aus. Er war verwundet, verängstigt, völlig unkoordiniert. Ganz leise hörte sie sein dünnes, wisperndes Heulen.

      Im Zickzack wehend, versuchte er den schnappenden Mäulern der Hunde zu entkommen und ließ sich auf diese Weise quer durch den Garten treiben. Sir Marmaduke hätte ihn mit Leichtigkeit einholen können, aber jedes Mal, wenn er kurz davorstand, den Geist zu erwischen, verlangsamte der Elder seine Schritte.

      Er spielt mit ihm, dachte Makepeace entsetzt. Er jagt ihn so lange, bis er ausgebrannt ist.

      Der Geist zuckte und flackerte jetzt wie eine graue Flamme kurz vor dem Erlöschen. Er verschwand in die mit Sonnenflecken durchsetzten Schatten eines Baums, und da endlich packte Sir Marmaduke zu. Seine krallenartig gekrümmten Finger schlossen sich um etwas im Gras.

      Er hatte Makepeace den Rücken zugekehrt, aber sie sah, wie er den Kopf senkte und das, was er gefangen hatte, dicht vor sein Gesicht hielt.

      Ein kratzendes, reißendes Geräusch ertönte. Etwas kreischte auf – ein schwaches, unvorstellbar qualvolles Wehklagen, das immer noch irgendwie menschlich klang.

      Makepeace sog scharf die Luft ein, und James hielt ihr schnell den Mund zu, um sie am Schreien zu hindern.

      «Es gibt nichts, was wir tun können!», zischte er ihr ins Ohr.

      Das Reißen und Ratschen ging weiter, und Makepeace ertrug es nicht länger. Sie schob James von sich weg und rannte zum Haus zurück. An der Tür zur Küche holte James sie ein und umschlang sie mit beiden Armen. Makepeace zitterte am ganzen Leib.

      «Das war Jacob!», flüsterte Makepeace heiser. Jacob, der Spaßvogel, der immer fröhlich war, weil er alle Welt für seinen Freund hielt.

      «Ich weiß», sagte James mit stillem Zorn.

      «Er hat ihn zerrissen! Er …» Sie wusste nicht, was genau Sir Marmaduke getan hatte. Sie war sich ziemlich sicher, dass man einen Geist nicht beißen konnte, aber trotzdem sah sie ständig das Bild des Elders vor sich, der den hilflosen Geist mit seinen Zähnen in Fetzen riss.

      Lord Fellmotte hatte von «Ungeziefer» gesprochen, das «ausgerottet» werden musste, und Makepeace hatte diesen Gedanken nicht weiterverfolgt. Sie war nur froh gewesen, dass in Grizehayes keine wild gewordenen Geister über sie herfallen konnten. Aber jetzt hatte sie mit eigenen Augen gesehen, was «Ungeziefer ausrotten» tatsächlich bedeutete.

      Würden die Fellmottes mit Bärs Geist das Gleiche tun, wenn sie von seiner Existenz erfuhren? Und was wäre, wenn sie oder James in Grizehayes sterben würden? Würden auch sie gehetzt und in Stücke gerissen werden? Sie hatte das Lächeln auf Sir Marmadukes Gesicht gesehen, als ob er einen Fuchs jagen würde.

      «Er hat es genossen!», flüsterte sie James fassungslos ins Ohr. «Du hattest recht, mit allem! Das hier ist ein Teufelsnest! Ich werde mitkommen, wenn du fliehst!»

      Am späten Nachmittag liefen sie weg. James sorgte für Kienspäne, Makepeace sammelte Pilze und wilden Chicorée. Sie trafen sich bei der alten Eiche, und dann machten sie sich auf den Weg.

      Während sie mit festen Schritten die Straße entlanggingen und so taten, als sei alles in bester Ordnung, dachte Makepeace, dass ihr vor lauter Hämmern das Herz


Скачать книгу