Europa. Hannes Hofbauer
Читать онлайн книгу.dies, dass er von den Trägern des Fürstenbundes auch »sittliche Grundsätze« einforderte, wobei ihm klar war, dass »kein Staatsoberhaupt sich freiwillig zur Gerechtigkeit finden« würde.66 Er sah also nicht, wie Saint-Abbé, nur die politischen Machtgelüste einzelner Fürsten als Hindernis für einen europäischen Zusammenschluss, sondern auch ihre »Geldgier«. Mithin stellt Rousseau auch die soziale Frage und denkt darüber hinaus, dass ihre Lösung einer revolutionären Umwälzung bedarf. Während Saint-Pierre also die politische Umgestaltung propagiert, geht Rousseau einen wesentlichen Schritt weiter und spricht von der Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Umwälzung, um eine friedfertige europäische Zukunft zu erlangen. Sein Skeptizismus gebietet es ihm, einem Staatenbund, der sich auf rein politischer Ebene durch Absprache der Fürsten bildet, kritisch bis ablehnend zu begegnen, wenn er meint: »Man sieht, daß sich föderative Bündnisse nur durch Umwälzungen bilden; und wer von uns könnte infolgedessen zu sagen wagen, ob dieser europäische Bund zu wünschen oder zu fürchten ist? Er würde vielleicht mit einem Schlag mehr Unheil anrichten, als er für Jahrhunderte verhindern könnte.«67 Rousseaus Europa war nicht jenes der Fürsten, sondern eines der Völker.
Der Königsberger Philosoph Immanuel Kant erweiterte 30 Jahre später, immer noch am Vorabend der Französischen Revolution, in seiner »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«68 Rousseaus europäisches Gesichtsfeld um das einer Weltfriedensordnung. Ihm ging es ausdrücklich nicht um Europa, sondern um »alle Staaten«. Er sprach von einem »Föderalismus freier Staaten«, die er sich ausschließlich als Republiken vorstellen konnte. Die Menschen, so Kant, müssten bereit sein, »aus dem gesetzlosen Zustand der Wilden hinauszugehen und in einen Völkerbund treten, wo jeder, auch der kleinste Staat, seine Sicherheit und Rechte (…) nach Gesetzen des vereinigten Willens erwarten könnte.«69
Den vielleicht letzten großen Visionär eines vereinten, friedlichen, ja pazifistischen Europa kennt die Welt fast ausschließlich als Schriftsteller. Doch Victor Hugo war mehr. Der 1802 im französischen Beşancon geborene Publizist war auch politisch als Abgeordneter des Senats aktiv und trat mehrfach bei internationalen Kongressen auf. Dort schmetterte er den politischen Herrschern seine Ideen von der Abschaffung der stehenden Heere, der Einführung eines allgemeinen Wahlrechts, der Versammlungs- und Pressefreiheit und »der Freiheit der Arbeiter ohne Ausbeutung«70 entgegen. Dafür und wegen seiner Opposition zu Bonaparte, der sich 1852 als Napoléon III. zum Kaiser ausriefen ließ, wurde er für 20 Jahre aus Frankreich verbannt.
Noch vor seiner Verbannung hatte er auf dem Friedenskongress von Paris im August 1849 von den »Vereinigten Staaten von Europa« gesprochen. In seiner Eröffnungsrede sehnt er jenen Tag herbei, »an dem ein Krieg zwischen Paris und London, zwischen Petersburg und Berlin, zwischen Wien und Turin ebenso absurd und unmöglich erscheinen wird, wie heute bereits ein Krieg zwischen Rouen und Amiens, zwischen Boston und Philadelphia absurd und unmöglich ist.«71 Noch empathischer bekräftigte Hugo sein Bild eines zukünftigen Europa anlässlich der Pariser Weltausstellung 1867, die er vom Londoner Exil aus beobachtete und kommentierte: »Im zwanzigsten Jahrhundert wird es eine außergewöhnliche Nation geben (…), sie wird mehr als eine Nation, sie wird eine Zivilisation, sie wird eine Familie sein. Einheit der Sprache, Einheit der Währung, der Maße, der Zeit, der Gesetze … überall werden Schwerter zu Pflugscharen. (…) Diese Nation wird Paris als Hauptstadt haben, und sie wird nicht Frankreich heißen, sie wird sich Europa nennen.«72 Teile der Hugo’schen Vorstellungen haben sich erfüllt, doch von den zu Pflugscharen umgeschmiedeten Schwertern und der Freiheit der Arbeiter ohne Ausbeutung ist das Brüsseler Europa des 21. Jahrhunderts weit entfernt.
In den 1830er-Jahren gründeten Künstler und Intellektuelle in vielen europäischen Staaten Sammelbewegungen, die Ideen einer nationalen Wiedergeburt mit revolutionären Ansätzen verknüpften, wobei dem Wiedergebären meist eine imaginierte Nation zugrunde lag. So entstanden im Gefolge der französischen Julirevolution 1830 das »Junge Deutschland« als Literatenklub (mit u. a. Heinrich Heine und Heinrich Laube) und das »Junge Italien« (mit Giuseppe Mazzini) als wesentlich politischere Einrichtung als ihr deutsches Pendant. Kurzfristig existierte auch ein Zusammenschluss unterschiedlicher national und/oder bürgerlich revolutionär gesinnter Gruppen, die das Bulletin »Junges Europa« herausgab. Darin erschien im Jahr 1845 ein Aufruf zu einer demokratischen Umgestaltung des Kontinents, beschrieben als »europäische Assoziation, eine Föderation von Völkern auf dem Prinzip der nationalen Souveränität«.73 Die darin enthaltene Losung »Heilige Allianz der Völker« muss als revolutionärer Gegenentwurf zur reaktionären Heiligen Allianz gelesen werden, die 1815 zwischen den Monarchen Russland, Österreichs und Preußens geschlossen wurde.
Gegen den drohenden Hegemonieverlust: Paneuropa
Im Völkerschlachten des Ersten Weltkrieges zerstoben – vorerst – alle Europaideen. Zwischen der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien am 28. Juli 1914 und der Waffenstillstandsvereinbarung vom 11. November 2018 starben geschätzte 20 Millionen Menschen unmittelbar an den Folgen des erbarmungslosen Hauens und Stechens. Die Hälfte von ihnen waren Zivilisten, die andere Hälfte Soldaten. Die Entente (Russland, Frankreich, das Vereinigte Königreich und Verbündete) beklagte fünf Millionen getötete Kämpfer, die Mittelmächte (Österreich-Ungarn, Deutsches Reich, Osmanisches Reich und Bulgarien) knapp vier Millionen. Dazu kamen nochmals 21 Millionen Verletzte auf allen Seiten.74 Europa war tot, und mit ihm auch die Idee davon.
Und doch wieder nicht. Denn mitten im blutigsten Jahr der Schlachtengänge, 1915, schrieb der evangelische Theologe und Mitglied des deutschen Reichstages, Friedrich Naumann, ein Programm für eine mitteleuropäische Wirtschaftsgemeinschaft unter dem Titel »Mitteleuropa«.75 Er wollte bewusst einer Nachkriegsordnung vorgreifen: »Während ich dies schreibe, wird im Osten und Westen gekämpft. Absichtlich schreibe ich mitten im Krieg, denn nur im Krieg sind die Gemüter bereit, große umgestaltende Gedanken in sich aufzunehmen.«76 Naumanns Mitteleuropa war ein deutsch geführtes. Er sprach von einem »Zusammenwachsen derjenigen Staaten, die weder zum englisch-französischen Westbunde gehören noch zum russischen Reiche«, vor allem aber vom »Zusammenschluß des Deutschen Reiches mit der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie«.77 »In dieser heraufziehenden Geschichtsperiode (…) ist Preußen zu klein und Deutschland zu klein und Österreich zu klein und Ungarn zu klein.«78 Was Bismarck verabsäumt hatte, die großdeutsche Lösung, Naumann propagierte sie: Zwei Kaiserreiche mit all ihren Rand- und Erweiterungsgebieten sollten bis weit nach Osten die Fahnenstange Mitteleuropas setzen. »Mitteleuropa wird im Kern deutsch sein, wird von selbst die deutsche Welt- und Vermittlungssprache gebrauchen, muß aber vom ersten Tag an Nachgiebigkeit und Biegsamkeit gegenüber allen mitbeteiligten Nachbarsprachen zeigen, weil nur so die große Harmonie emporwachsen kann, die für einen allseitig umkämpften und umdrängten Großstaat nötig ist.«79 So hörte sich mitten im Völkerschlachten die damals vorherrschende Version des Multikulturalismus an.
Schon eine Woche nach dem Waffenstillstand gründete Naumann die »Deutsche Demokratische Partei« (DDP), die sich nach einer Fusion mit einer weiteren liberalen Kleinpartei »Deutsche Staatspartei« nannte. Dem deutschen Staat war Naumann Zeit seines Lebens – so unterschiedlich seine Ausprägungen vor und nach 1918 auch gewesen sein mögen – treu ergeben. In der wilhelminischen Epoche unterstützte er den preußischen Militarismus und die Kolonialpolitik des Kaisers, nach Kriegsende engagierte er sich anfangs, auch finanziell, im Rahmen der sogenannten »Antibolschewistischen Liga« gegen das kommunistische Russland und setzte sich mit seiner Vision eines Mitteleuropa für ein geopolitisches Konstrukt ein, das gerade eben erst unter der Führung dreier Monarchen einen Krieg verloren hatte.
Anfang der 1920er-Jahre betrat dann der promovierte Philosoph Richard Coudenhove-Kalergi die politische Bühne. Der japanisch-österreichische Graf mit tschechoslowakischer und später französischer Staatsbürgerschaft warf den Begriff Paneuropa in die Debatte. Das Präfix »pan« leitet sich vom Griechischen für »alles« bzw. »total« ab. So wollte der in Tokio geborene Kalergi auch sein Europa verstanden wissen, als er 1923 im Alter von 29 Jahren »Das pan-europäische Manifest«80 veröffentlichte. Anders als viele weiter oben beschriebene friedenspolitisch inspirierte Ideen des 19. Jahrhunderts setzte Coudenhove-Kalergi nicht auf Gesellschaftsveränderungen