Europa. Hannes Hofbauer
Читать онлайн книгу.gegen Polen beschäftigt. Frankreich hätte also freie Bahn in Ägypten und, so der schlaue Zusatzgedanke, würde dort auch indirekt holländische Expansionsgelüste in Ostasien behindern können. Denn von Ägypten sei der Weg für Frankreich nach Osten offen.38 Den »Ägyptischen Plan« hat Ludwig XIV. nie zu Gesicht bekommen. Anstatt Ludwig XIV. traf Leibniz mit dem russischen Zaren Peter I. (dem Großen) zusammen. In ihm sah er jenen Mann, der Russland zivilisieren und für die Teilnahme an einem aufgeklärten Europa vorbereiten könne.
Leibniz’ Image als Europa-Vordenker hat darob über die Jahrhunderte allerdings nicht gelitten. Auch deshalb, weil er seinen »Ägyptischen Plan« als den letzten Krieg bezeichnet, nach dem jeder Streit innerhalb Europas zu Ende wäre und ein Tausendjähriges Reich heraufzöge, in dem Maschinen menschliche Fähigkeiten verstärken, Krankheiten besiegt würden und eine christliche Sittenlehre universelle Gültigkeit hätte. Geopolitisch stellte sich Leibniz sein Europa folgendermaßen vor: »Das Reich ist das Hauptglied. Deutschland das Mittel von Europa (…), wie anfangs Griechenland, hernach Italien.«39
Napoleons Europa: Durch Expansion zur Einheit
Die Französische Revolution des Jahres 1789 wurde ihrem Namen gerecht: revolvere, umdrehen, das Untere nach oben spülen, die Verhältnisse auf den Kopf stellen, im sozialen Sinn genauso wie in Fragen der politischen Herrschaft. Sie war die Antithese zu allen vorher erdachten Europavisionen. Von einer herbeigewünschten »christlichen Einheit« konnte keine Rede mehr sein; das Prunkstück der französischen Gotteshäuser, die allerchristlichste Notre Dame de Paris, diente als Lagerhalle für Lebensmittel und Waffen; und selbst den auf Jesu Geburt datierten Kalender ersetzte man durch eine neue Zeitzählung. Der selbstherrliche Sonnenkönig Ludwig XVI. starb unter der Guillotine, die Volkssouveränität trat an seine Stelle. Der Begriff Europa kam in den revolutionären Texten nicht vor, stattdessen berauschte sich das Volk am nationalen Hochgefühl, die absolutistische, ausbeuterische Schreckensherrschaft der Monarchie abgeschüttelt zu haben. Dass man selbst bald daran ging, mit der Guillotine auch Fraktionskämpfe auszutragen, blieb der Nachwelt als Grausamkeit in Erinnerung.
Die revolutionäre Friedensidee unterschied sich entscheidend von der vorrevolutionären, die den inneren Frieden nur durch die Bezwingung eines äußeren Feindes denken konnte. »Ich glaube«, meinte der jakobinische Revolutionär Maximilien de Robespierre in einer seiner Ansprachen an die französische Nationalversammlung am 15. Mai 1790, »daß ihr lieber den Frieden wahrt, als euch in einen Krieg einzulassen, dessen Gründe ihr nicht kennt.«40 Er forderte das Volk auf, sich nicht für fürstliche Erweiterungspläne abschlachten zu lassen, mit welchen Argumenten auch immer sie vorbereitet, ausgerufen und geführt werden.
Demokratie und Menschenrechte – freilich nur gültig für Männer in Frankreich und nicht in den Kolonien – waren die Leitlinien der modernen Verfassung, wie sie 1791 in der Nationalversammlung festgelegt wurden und bis heute als »europäisch« definiert werden, ohne allerdings damals diesen Anspruch gehabt zu haben. Es sollte nicht lange dauern, bis beide nichts mehr wert waren. Postrevolutionäre Fraktionskämpfe nehmen schaurige Ausmaße an. Das sogenannte Direktorium, die letzte Regierungsform der Französischen Revolution, putscht am 27. Juli 1794 gegen die parlamentarische Versammlung, weist die Forderung nach sozialer Gleichheit zurück und beendet damit die radikale Phase der Revolution. Ein 24-jähriger Korse, der kurz zuvor in revolutionären Diensten die von England unterstützten Royalisten in Toulon geschlagen hatte, rückt im Oktober 1795 gegen Aufständische in den Pariser Vororten aus und lässt sie zusammenschießen. Napoléon Bonapartes Aufstieg beginnt.41
In den späten 1790er-Jahren trieb er oft schlecht ausgebildete Soldatenhaufen in Feldzüge gegen Italien und Ägypten; seine Motivationskraft bescherte ihm Ruhm und Ehre in Militärkreisen. Am 9. November 1799 erklärt sich Napoléon zum Ersten Konsul und die Revolution für beendet. Fünf Jahre später krönt er sich selbst in Paris zum Kaiser. In Austerlitz schlägt er 1805 die österreichischen Habsburger (bereits zum zweiten Mal), erleidet allerdings im selben Jahr eine Niederlage gegen die englische Flotte bei Trafalgar. Nun verhängt der Selbstherrscher die Kontinentalsperre gegen England, das erste große Handelsembargo der neuzeitlichen Geschichte. England soll mit wirtschaftlichem Boykott ruiniert werden. Als sich Zar Alexander I. diesem Embargo nicht anschließen will, marschiert Napoléon am 24. Juni 1812 mit einer halben Million Soldaten in Russland ein. Der Rest ist Niederlage: vor Moskau und nahe Waterloo.
Warum uns diese Eroberungszüge des kleinen Korsen, die ihm zwischenzeitlich allerlei Königs- und Fürstentitel eingetragen und im Jahr 1806 auch zum Ende des Heiligen Römischen Reiches geführt hatten, im Zusammenhang mit Europabildern interessiert? Weil Napoléon seine multiplen europäischen Kriegsgänge am Ende seines Lebens, als Gefangener auf St. Helena, als großen Plan zur Föderalisierung Europas dargestellt hat. »Es war unser Ziel«, schrieb er im Nachhinein bzw. ließ er schreiben, »ein großes europäisches Föderationssystem zu schaffen. (…) Um es zu vervollkommnen und ihm die größtmögliche Ausdehnung und Stabilität zu geben, haben wir die Errichtung einiger innenpolitischer Institutionen befohlen, die besonders geeignet waren, die Freiheit der Bürger zu schützen.«42 Und an anderer Stelle liest sich sein Lieblingsplan einer europäischen Föderation folgendermaßen: »Europa (…) würde auf diese Art bald wahrhaft nur ein Volk gebildet haben, und jeder würde auf seinen Reisen überall sich in einem gemeinschaftlichen Vaterland befunden haben.«43 Der Russland-Feldzug, so versicherte Napoléon, würde die letzte militärische Aktion gewesen sein. Dann hätte er gemeinsame Maßeinheiten, ein allgemein gültiges Gesetzbuch, den Code civil, ein europäisches Münzwesen sowie ein einheitliches Steuer- und Finanzwesen eingeführt. Hätte er in Russland gesiegt, so sein heute zynisch anmutender Kommentar aus der Gefangenschaft, dann wäre ein »Europa freier Völker« entstanden. »Einer meiner großen Gedanken«, so spinnt er ihn weiter, »war die Verschmelzung und Konzentration aller Völker, die geografisch zu einer Nation gehören und durch Revolution oder durch die Politik zerstückelt worden waren.«44 Dieser imaginierten europäischen Nation rechnete er 30 Millionen Franzosen, 15 Millionen Spanier, 15 Millionen Italiener und 30 Millionen Deutsche zu. Dazu musste er, wie er ohne jeden Ansatz von Selbstkritik schreibt, »Europa mit den Waffen zähmen (…).« Und weiter: »Ich habe Frankreich und Europa neue Ideen eingepflanzt, die (…) Europa durch unauflösliche Föderativbande wiedervereinen, überall in der Welt, wo heute Barbaren wohnen, wovon Wohltaten des Christentums und der Zivilisation verkünden: darauf müssen alle Gedanken meines Sohnes gerichtet sein, das ist die Sache, für die ich als Märtyrer sterbe.«45
Gestorben sind für Napoléons Europa-Idee jedoch Hunderttausende auf den Schlachtfeldern. Und am Höhepunkt seiner Macht zeigte sich auch, anders als in den Schriften am Ende seines Lebens, wie er sich die Herrschaft über den Kontinent konkret vorstellte. Alle Macht ging von seiner Person aus und er administrierte die in Besitz genommenen Länder nach patriarchalisch-großfamiliärer Art und Weise, nahm zahlreiche Titel wie die Königswürde von Italien selbst an und versorgte seine engsten Familienmitglieder mit satten territorialen Pfründen. Seinen Brüdern streute er Herrscherwürden über ganz Europa: Joseph erhielt Spanien, Louis wurde König von Holland, ein weiterer Bruder, Jerôme, erhielt das Königreich Westfalen und sein Schwager Joachim Murat das Königreich Neapel. Nepotismus paarte sich mit Despotie.
Nichtsdestotrotz gelten seine Versuche, die Verwaltungspraxis in seinem »Europa« zu vereinheitlichen, also zu zentralisieren, manchen Historikern auch heute noch als Vorläufer späterer Europapläne. Wolfgang Schmale z. B. hält ihm zugute, dass er »ein Stück europäische Integration (…) durch die Verbreitung seines Zivilgesetzbuches schaffte«,46 weist aber zugleich auf die hegemoniale Struktur des Unternehmens Napoléon hin, dem eine »wirkliche Europaphilosophie fehlte«;47 und der britisch-italienische Historiker Stuart Woolf48 unterstreicht den napoleonischen Beitrag zur Integration Europas.
Den endgültigen Sieg über den Korsen feierten die drei Monarchen Österreichs, Russlands und Preußens zur Jahreswende 1814/1815 auf dem Wiener Kongress. Die dort von Wien, Moskau und Berlin aus der Taufe gehobene »Heilige Allianz« war ein reaktionäres Bündnis, ein Zurück zum Status quo vor der Französischen Revolution. Kaiser Franz I., Zar Alexander I. und König Friedrich Wilhelm III. stellten