Europa. Hannes Hofbauer
Читать онлайн книгу.der es ebenfalls verstand, auf die europäische Karte zu setzen.
Podiebrad stammt aus mährischem Adel und wandte sich in jungen Jahren von der katholischen Kirche ab, um dem tschechischen Reformer Jan Hus zu folgen. Als sogenannter Ultraquist gehörte er dem gemäßigten hussitischen Flügel an, der gegen die sozial radikaleren Taboriten zu Felde zog und diese besiegte. Die ultraquistische Ständemehrheit wählte Georg von Podiebrad im Jahr 1458 zum König von Böhmen. Seine religiöse Gesinnung rief sogleich den Papst von Rom, Pius II, auf den Plan. Schon die husstische Symbolik des Kelches, aus dem alle Gläubigen und nicht nur der Priester das Blut Christi in Gestalt des Weines trinken sollten, zeugt von der kirchenreformerischen Idee, die für den römischen Katholizismus mit seiner hierarchischen Struktur inakzeptabel war (und bis heute ist). Folgerichtig drohte Rom mit einem Kirchenbann, dem der Böhmenkönig angeblich mit einer heimlichen Rückkehr in den Schoß der römischen Kirche zuvorkommen wollte.33 Der Order des Papstes, zwecks Abbitte nach Rom zu reisen, entsprach Podiebrad nicht.
Stattdessen entwickelte er seinerseits die Idee eines Kreuzzuges gegen die »furchtbaren Mohammedaner«, um sich als wahrer Christ zu inszenieren. Und diese Idee ergänzte er mit einem europäischen Föderationsplan, der heute als Vorläufer von immer wieder auftauchenden Einigungsprozessen gilt. In 21 Kapiteln entwarf Podiebrad die Idee für einen Bund gleichberechtigter Fürsten, in dem alle fünf Jahre der Vorsitz wechseln, ein gemeinsamer Gerichtshof innereuropäische Streitigkeiten beilegen und ein Finanzierungstopf für föderative Organe aufgelegt werden sollte. Geplant war – wie auch bei seinem Gegenspieler Papst Pius II. – eine christlich-»europäische« Armee. Sein Plan fand anfangs Zuspruch beim polnischen König Wladimir IV., Albrecht von Brandenburg und dem reichsten italienischen Stadtstaat Venedig. Letzterer sprang jedoch bald ab, als sich der finanzschwache Vatikan erholte und seinerseits zu einem Kreuzzug aufrief. Alaun-Funde auf dem Territorium des Gottesstaates waren dafür mitverantwortlich, weil die Gewinnung dieses Rohstoffes zur Färbung von Wolle plötzlich die Kassen Roms füllte.
Podiebrads Vorhaben scheiterte; und nach dem Tod von Papst Pius II. wurde er von dessen Nachfolger exkommuniziert. Für uns ist dabei von Interesse, wie durchsichtig die europäischen Einigungsideen des Mittelalters, in diesem Fall jene parallel von Pius II. und dem Böhmenkönig Podiebrad entwickelten, als Mittel zum Zweck für die Erweiterung des jeweils eigenen Machtbereiches eingesetzt wurden. Dieser Instrumentalisierung werden wir auch in der Neuzeit und bis herauf in unsere Tage begegnen.
Europas Herrscherhäuser im Kampf um die Vorherrschaft
Der von Maximilien de Béthune, genannt Herzog von Sully (1560−1641), um das Jahr 1632 verfasste und vielfach kopierte und veränderte »Große Plan« (»Grand Dessin«) ist so eine Machtvision. Sully war Marschall von Frankreich und enger Berater des französischen Königs Henri IV. Hinter seiner Idee eines europäischen Staatenbundes stand der Wunsch des Hofes im Palais du Louvre, eine Allianz gegen die immer mächtiger werdenden Habsburger, die in Spanien und Österreich herrschten, zu schmieden. Der deutsche Historiker Michael Gehler nennt den »Großen Plan« eine Mystifikation.34
Schon seine Entstehungsgeschichte zeigt, welchem Unbill sich nachgeborene europäische Spurensucher auszusetzen haben. Das »Grand Dessin« erschien 22 Jahre nach dem Tod von Henry IV. und gilt als dessen Vermächtnis an die Welt, an Europa. Für die Veröffentlichung der endgültigen Fassung verstrichen nochmals mehr als 100 Jahre, bis sie ein Abbé de L’Écluse 1745 drucken ließ. Ausgangspunkt für Sullys Vorstellung einer europäischen Zukunft war – wie konnte es anders sein – ein Kriegsprojekt, oder besser gesagt: sogar zwei von Franzosenkönig Henry IV. angedachte Waffengänge: einen gegen die habsburgischen Niederlande und einen gegen das Osmanische Reich. Letzterer wird von der Geschichtswissenschaft als unseriöses Gerücht bezeichnet, stand doch Paris Anfang des 17. Jahrhunderts in gutem Einvernehmen mit dem Sultan. Dies auch deshalb, weil die Hauptstoßrichtung der französischen »Europa«-Pläne gegen Wien und Madrid zielte.
Im »Grand Dessin« wird ein Bündnis aus 15 christlichen Staaten, sogenannten Dominiationen, herbeiphantasiert, in dem u. a. die Erbmonarchien Frankreich, England und Dänemark, der päpstliche Gottesstaat, die Königreiche von Ungarn und Polen sowie die vier Republiken Schweiz, Niederlande, Venedig und Neapel-Sizilien vereint hätten werden sollen. Aus den mitteleuropäischen Besitzungen der Habsburger würden sich die am Projekt Sully beteiligen Staaten territorial bedienen (z. B. hätte die Schweiz Tirol bekommen) bzw. wären drei neue Fürstentümer entstanden. Auch war ein »Europa-Rat« vorgesehen, in den die Teilnehmer je nach eigener Größe zwei bis vier Kommissare entsenden sollten. Sully schreibt in seinem großen Wurf von einer »sehr christlichen Republik«, wobei sein Republikbegriff nicht antimonarchistisch gedacht war.
Sullys mitten im 30-jährigen Krieg verfasster Plan zur Neugestaltung Europas schloss das türkische Osmanenreich definitiv aus und sah auch für das russische Zarenreich keinen Platz vor. Zu Russland ist bei ihm zu lesen: »Dieses ungeheure Land (…) wird z. T. noch von Götzendienern bewohnt, z. T. auch von schismatischen Griechen und Armeniern, deren Gottesdienst mit tausenderlei abergläubischen Gebräuchen vermischt ist, und mit dem unsrigen eben deshalb sehr wenig Ähnlichkeit hat.«35 Die Geschichte ging über diesen französischen Europa-Plan hinweg; am 24. Oktober 1648 wurde in Münster und Osnabrück der Westfälische Friede geschlossen, der das europäische Staatensystem ohne einen »Großen Plan« bis zur Französischen Revolution weitgehend prägte. Dem nach langen Kriegsjahrzehnten in Münster und Osnabrück vereinbarten Frieden lag ein Konsensprinzip zugrunde, das an die Stelle der Berufung auf eine christliche Gemeinsamkeit trat.36
Was Europapläne des 17. Jahrhunderts betrifft, so kann der Philosoph, Mathematiker und Historiker Gottfried Wilhelm Leibniz (1646−1716) in gewisser Weise als das deutsche Gegenstück zu Herzog von Sully gesehen werden. Auch Leibniz stand – als dafür Spätgeborener – noch unter dem Eindruck des weite Teile Europas verheerenden 30-jährigen Krieges. Seine Friedensidee ging von der Zähmung französischer Expansionsgelüste aus und wollte auch die Macht der Habsburger in die Schranken weisen. Europas innere Befriedung sollte durch ein starkes, kraftvolles, vereintes Deutschland erfolgen. Sein Plan trägt den sperrigen Titel »Bedenken, welchergestalt Securitas publica interna et externa und Status praesens im Reich jetzigen Umständen nach auf festen Fuß zu stellen«. Erschienen ist die Schrift 1670 im Auftrag des kurfürstlich-mainzischen Rates. Ihr Ziel war die Überwindung der deutschen Kleinstaaterei zwecks Etablierung eines deutschen Reichsbundes. Und wieder stoßen wir auf aggressive Expansionsstrategien, die Streit und Krieg zwischen den christlich-europäischen Fürsten verhindern sollen. Der vielleicht letzte Universalgelehrte Leibniz schlägt in dankenswerter Offenheit den einzelnen europäischen Herrscherhäusern vor, ihre Energien und Aggressionen nach außen zu wenden; und er wird sehr konkret dabei: der Habsburger Kaiser, Polen und Schweden möchten gegen die Türken kämpfen (was mehr als ein Jahrzehnt später dann tatsächlich passierte); England und Dänemark könnten Erweiterungen in Nordamerika in Angriff nehmen; Spanien dasselbe in Südamerika betreiben; für Holland wäre eine Expansion nach Indien hilfreich und Frankreich könne die Levante und Ägypten »zivilisieren«. »Hierbei würde unsterblicher Ruhm, ruhiges Gewissen, applausus universalis, gewisser Sieg, unaussprechlicher Nutzen sein«,37 lobpreist der Gelehrte seinen Plan.
Das Besondere am Leibniz’schen Europagedanken ist, dass er unbedingt auch das zaristische Russland mit einbinden will. Dieses soll gefälligst seine Kraft gegen die Tataren wenden und Streit und Hader innerhalb der christlichen Welt vermeiden. Hier schwingt eine seltene Akzeptanz der orthodoxen Christenwelt mit, der Leibniz im europäischen Expansionsreigen einen speziellen Platz zuweist. Die Idee der Einheit des Christentums nicht bloß als weströmische zeichnet den Gelehrten aus.
Am ausführlichsten beschrieben hat Leibniz den sogenannten »Ägyptischen Plan«. Damit will er Frankreichs Kriegslust gegen seine Nachbarn, beispielsweise einen bevorstehenden Überfall auf Holland, nach dem osmanisch beherrschten Nordafrika ablenken. Dafür reist der Leipziger Aufklärer extra nach Paris, um König Ludwig XIV. (1683−1715) von seinem Vorhaben gegen Holland abzubringen. Den fertigen Plan für den Feldzug gegen Ägypten hat er in der Tasche, und schreibt, dass es zwischen 30.000 und 50.000 Soldaten brauche, um das Land, das kaum Befestigungen