Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant
Читать онлайн книгу.durch fremde Rassen vervollkommnen. Einen Teil des Tages brachte er in Gesprächen hierüber mit seinen Pächtern und Nachbarn zu, welche meistens ungläubig zu seinen Plänen mit den Achseln zuckten.
Zuweilen fuhr er auch mit den Fischern von Yport auf die See. Nachdem er die Grotten, Quellen und Hügel der Umgebung hinreichend kennen gelernt hatte, wollte er auch ’mal wie ein einfacher Fischer richtig fischen.
Wenn eine günstige Brise wehte, wenn die Barke mit geblähtem Segel über die Wogen dahin zog und auf jeder Seite über den Meeresgrunde die große Leine schleppte, der die Scharen von Makrelen folgen, dann hielt er mit aufgeregt zitternder Hand die kleine Schnur, deren Zucken sofort anzeigt, dass ein gefangener Fisch zappelt.
Im Mondschein fuhr er aus, um die Netze aufzunehmen, die man tags zuvor ausgeworfen hatte. Er ergötzte sich an dem Knarren des Mastes und erquickte sich an dem frischen kühlenden Hauche des Nachtwindes. Wenn er dann lange gekreuzt hatte, um die Bojen wieder aufzufinden, indem er sich nach einer Felsspitze, nach dem Dache eines Kirchturms und dem Leuchtturm von Fecamp einrichtete, machte es ihm ein Hauptvergnügen, das erste Aufleuchten der Sonne zu betrachten, deren Strahlen den schleimigen Rücken der Rochen und den fetten Bauch der Seezungen auf dem Boden der Barke vergoldeten.
Bei jeder Rückkehr erzählte er aufs Neue mit Begeisterung von seinen Ausfahrten. Mütterchen ihrerseits schilderte dann, wie vielmal sie die lange Pappel-Allee auf- und abgegangen sei. Sie hatte die zur Rechten nach dem Pachthof der Couillards zu gewählt, weil die andere links nicht sonnig genug war.
Weil man ihr empfohlen hatte, einen »richtigen Spaziergang« zu machen, war sie ganz erpicht darauf. Sobald die frische Morgenluft etwas nachgelassen hatte, stieg sie, auf Rosaliens Arm gestützt, die Treppe hinab, in einen Mantel und zwei Shawls gehüllt, auf dem Kopfe einen dichten Hut, über den sie noch ein rotes Tuch geschlagen hatte. Dann begann sie eine endlose Reise auf gerader Linie immer zwischen der Umzäunung des Schlosshofes und den ersten Sträuchern des Bosquets. Den linken Fuss, der etwas angeschwollener war, schleppte sie hierbei nach, und es hatten sich in Folge dessen auf der ganzen Strecke des Weges zwei Streifen gebildet, der eine vom Hin- und der andere vom Zurückgehen, auf denen das Gras völlig abgestorben war. An jedem Ende dieser Promenade hatte sie eine Bank anbringen lassen, und alle fünf Minuten machte sie Halt, indem sie zu ihrer guten geduldigen Begleiterin sagte: »Wir wollen uns setzen, liebes Kind, ich bin etwas müde.«
Und bei jedem Halt legte sie auf eine der Bänke bald das Kopftuch ab, bald einen Shawl, dann den anderen, ferner den Hut und schliesslich den Mantel, sodass Rosalie auf ihrem freigebliebenen Arm ein ganz ansehnliches Packet zu tragen hatte, bis man zum Frühstück ins Schloss zurückkehrte.
Nachmittags begann die Baronin ihren Spaziergang aufs Neue, nur etwas weniger hastig und mit grösseren Ruhepausen. Sie legte hin und wieder wohl auch ein Schlummerstündchen ein, welches sie auf einer Chaiselongue verbrachte, die man nach draussen gerollt hatte.
Sie nannte das »ihre Übung« machen, wie sie auch stets von »ihrer Hypertrophie« sprach.
Vor zehn Jahren hatte sie einen Arzt wegen ihrer Beklemmungen gefragt, und dieser hatte jenes Wort zum ersten Male gebraucht. Ohne den Ausdruck richtig zu verstehen, hatte sie seitdem sich das Wort »Hypertrophie« völlig zu eigen gemacht. Hartnäckig ließ sie den Baron, ihre Tochter und Rosalie nach ihrem Herzen fühlen, dessen Schlag niemand mehr entdecken konnte; so sehr war es durch die Fettbildung ihres Oberkörpers verdeckt. Dagegen lehnte sie es energisch ab, sich von einem zweiten Arzte untersuchen zu lassen, aus Furcht, dieser könnte irgend ein anderes Übel entdecken. So blieb sie dabei, jederzeit von »ihrer« Hypertrophie zu sprechen, sodass man glauben konnte, es sei dies ihre besondere Krankheit, ihre Spezialität sozusagen, auf die niemand anderes ein Anrecht hätte.
Der Baron sagte »die Hypertrophie meiner Frau« und Johanna sprach von »Mamas Hypertrophie«, wie wenn man von den Kleidern, Hüten oder dem Regenschirm der Baronin gesprochen hätte.
Sie war in ihrer Jugend sehr hübsch und schlanker wie ein Schilfrohr gewesen. Nachdem sie der Reihe nach mit allen Waffengattungen des Kaiserreiches getanzt hatte, las sie eines Tages »Corinne«, worüber sie zu Tränen gerührt wurde. Von da an stand sie ganz unter dem Einflusse dieses Romans.
In dem Masse wie ihre Taille an Umfang zunahm, wurde der Schwung ihrer Seele immer poetischer. Je mehr ihre Fettleibigkeit sie an das Polster fesselte, umso häufiger schwelgte ihre Fantasie in allerlei zärtlichen Abenteuern, deren Heldin sie war. Einige derselben wurden von ihr besonders bevorzugt und kehrten in ihren Träumereien öfters wieder, wie ein Musikstück, dessen Melodie einem unaufhörlich durch den Kopf summt. Alle die blumenreichen Romanzen, in denen von Gefangenen und Schwalben die Rede war, veranlassten sie unwillkürlich zu weicheren Regungen; selbst gewisse Lieder von Beranger liebte sie wegen des Schmerzes, der sich trotz aller Lustigkeit darin aussprach.
Stundenlang konnte sie so in ihren Träumereien verloren dasitzen; und der Aufenthalt in Peuples gefiel ihr deshalb ausserordentlich, weil er ihren romantischen Ideen, sowohl durch die Wälder der Umgegend, als auch durch die Heideflächen und namentlich durch die Nähe des Meeres, stets wieder die Werke Walter Scott’s ins Gedächtnis rief, mit denen sie sich seit einigen Monaten beschäftigte.
An Regentagen schloss sie sich in ihr Zimmer ein, um ihre sogenannten »Reliquien« durchzustöbern, nämlich die alten Briefe, die sie von ihren Eltern, von ihrem Manne als Bräutigam empfangen hatte, und ausserdem noch einige andere. Dieselben waren in einem Schreibtisch aus Mahagoni eingeschlossen, an dessen Ecken sich bronzene Sphynxfiguren befanden. Wenn Rosalie die Briefe holen sollte, so pflegte die Baronin mit eigentümlicher Betonung zu sagen: »Bring mir die Schieblade mit meinen Jugenderinnerungen, Kind!«
Die Zofe öffnete dann den Schreibtisch, nahm die Schieblade heraus und stellte sie auf einen Stuhl neben ihre Herrin, welche den Inhalt langsam Stück für Stück durchlas, wobei hin und wieder sich eine Träne aus ihrem Auge stahl.
Bei den Spaziergängen musste Johanna zuweilen Rosalie ersetzen und Mütterchen erzählte ihr dann von ihren Jugenderinnerungen. Das junge Mädchen fand sich selbst darin wieder; sie war erstaunt über die Ähnlichkeit ihrer Gedanken und die Gleichheit ihrer Wünsche. Bildet sich doch jedes Herz ein, allein vor allen