Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant

Читать онлайн книгу.

Guy de Maupassant – Gesammelte Werke - Guy de Maupassant


Скачать книгу
Bild­chen mit der gold­ge­druck­ten Jah­res­zahl 1819 be­fand, von sei­nem Plat­ze. Dann fuhr sie lang­sam mit dem Blei­stift die vier ers­ten Rei­hen ent­lang und durch­strich so je­den Tag bis zum 2. Mai, dem Da­tum ih­res Austritts aus dem Klos­ter.

      Eine Stim­me an der Tür rief: »Jo­han­na!«

      »Komm her­ein, Papa!« ant­wor­te­te sie, wor­auf der­sel­be die Tür öff­ne­te.

      Der Baron Sig­mund Ja­kob Le Per­thuis des Vauds war die vollen­de­te Er­schei­nung ei­nes Edel­man­nes aus dem vo­ri­gen Jahr­hun­dert, mit al­len Feh­lern und Vor­zü­gen ei­nes sol­chen. Ein lei­den­schaft­li­cher An­hän­ger J. J. Rous­se­aus, lieb­te er schwär­me­risch die Na­tur, Feld, Wald und Tie­re.

      Ari­sto­krat von Ge­burt, heg­te er einen in­stink­ti­ven Hass ge­gen al­les, was mit dem Jah­re 1793 zu­sam­men­hing; aber Phi­lo­soph aus Nei­gung und li­be­ral in Fol­ge sei­ner Er­zie­hung, trug er einen harm­lo­sen und thea­tra­li­schen Ab­scheu ge­gen die Ty­ran­nei zur Schau.

      Sein grös­ster Vor­zug aber auch zu­gleich sei­ne gröss­te Schwä­che war sei­ne Her­zens­gü­te, die nicht Hän­de ge­nug fand, um wohl­zu­tun, um zu lin­dern und zu trös­ten, wie die al­les um­fas­sen­de, al­les über­win­den­de Güte des Schöp­fers ge­gen sei­ne Ge­schöp­fe. Sie war ihm zur zwei­ten Na­tur ge­wor­den und bil­de­te die Trieb­fe­der all’ sei­nes Han­delns. Man hät­te sie als sei­ne Lei­den­schaft be­zeich­nen kön­nen.

      Als Mann der Theo­rie sann er un­auf­hör­lich über einen Er­zie­hungs­plan für sei­ne Toch­ter nach; er woll­te sie glück­lich, edel, recht­schaf­fen und weich von Ge­müts­art se­hen.

      Sie war bis zum zwölf­ten Jah­re im El­tern­hau­se ge­blie­ben; dann wur­de sie, trotz der Trä­nen ih­rer Mut­ter, ins Sa­cré-Coeur ge­bracht.

      Dort ver­leb­te sie ihre Zeit in stren­ger klös­ter­li­cher Zucht, un­be­kannt für je­der­mann und fern von dem Trei­ben der Welt. Der Va­ter woll­te, dass sie ihm mit dem sieb­zehn­ten Le­bens­jah­re rein und un­be­fleckt zu­rück­ge­ge­ben wür­de. Er be­trach­te­te den Auf­ent­halt im Klos­ter bei sei­nem poe­sie­vol­len Ge­mü­te wie ein rei­ni­gen­des stär­ken­des Bad, nach des­sen Ge­brauch er dann selbst ihre kind­li­che See­le in­mit­ten der frei­en Got­tes­na­tur, um­ge­ben von grü­nen­den Wäl­dern und frucht­ba­ren Äckern, beim An­blick der harm­lo­sen Ge­schöp­fe, die sie be­leb­ten, der Lie­be des Schöp­fers er­schlies­sen woll­te.

      Jetzt ver­liess sie das Klos­ter strah­lend vor Le­bens­lust mit ei­nem un­be­stimm­ten Ver­lan­gen nach Glück, und be­gie­rig auf alle Freu­den, auf alle hei­te­ren Ge­schen­ke des Zu­falls, wel­che ihr die Fan­ta­sie in ih­ren Mu­se­stun­den und in schlaflo­sen Näch­ten vor­ge­zau­bert hat­te.

      Sie schi­en wie ein Por­trät von Ve­ro­ne­se mit ih­rem glän­zen­den Blond­haar, wel­ches gleich­sam mit ih­rer Haut zu ver­schwim­men schi­en, ei­ner ech­ten, kaum von ei­nem ro­si­gen Schim­mer an­ge­hauch­ten Ari­sto­kra­ten­haut. Ein leich­ter Flaum, den man nur be­merk­te, wenn die Son­ne sie um­strahl­te, be­deck­te die­se Haut wie ein duf­ti­ger Schlei­er. Ihre Au­gen wa­ren blau, von je­nem un­durch­sich­ti­gen Blau, wie es die Por­träts der al­ten Hol­län­di­schen Schu­le auf­wei­sen.

      Auf dem lin­ken Na­sen­flü­gel und eben­so rechts am Kinn hat­te sie ein klei­nes Schön­heits­mal, aus de­nen ei­ni­ge Här­chen spross­ten, die man kaum be­mer­ken konn­te; so sehr äh­nel­ten sie der Far­be ih­rer Haut. Sie war ziem­lich groß, hat­te eine ent­wi­ckel­te Büs­te und eine schlan­ke Tail­le. Ihre hel­le Stim­me moch­te zu­wei­len et­was scharf er­schei­nen; aber ihr mun­te­res La­chen wirk­te ge­ra­de­zu an­ste­ckend. Sie hat­te die An­ge­wohn­heit, bei­de Hän­de zu­wei­len an die Schlä­fen zu le­gen, als woll­te sie ihre Haa­re glät­ten.

      Jetzt stürz­te sie auf ih­ren Va­ter zu, küss­te ihn und sag­te schmei­chelnd:

      »Nun, fah­ren wir?«

      Er lä­chel­te, schüt­tel­te das schon er­grau­te Haupt und ent­geg­ne­te, mit der Hand zum Fens­ter hin­aus deu­tend:

      »Wie kann man denn bei sol­chem Wet­ter rei­sen?«

      Aber sie be­gann ihn von Neu­em mit al­ler­lei zärt­li­chen Schmei­che­lei­en zu bit­ten:

      »Ach, Papa, lass uns doch fah­ren, ich bit­te Dich. Es wird die­sen Nach­mit­tag si­cher ganz schö­nes Wet­ter.«

      »Aber Dei­ne Mut­ter wird es nie­mals zu­ge­ben.«

      »Das lass mich be­sor­gen, ich ver­spre­che es Dir.«

      »Nun, an mir soll es nicht lie­gen, wenn Du Mama dazu bringst.«

      So­fort stürz­te sie nach dem Zim­mer der Baro­nin. Denn sie hat­te mit stets wach­sen­der Un­ge­duld auf die­sen Tag der Abrei­se ge­war­tet.

      Seit ih­rem Ein­tritt ins Pen­sio­nat war sie nicht von Rou­en fort­ge­kom­men, da der Va­ter vor dem fest­ge­setz­ten Al­ter kei­ne be­sond­re Zer­streu­ung er­laub­te. Nur zwei­mal in der gan­zen Zeit hat­te man sie auf vier­zehn Tage nach Pa­ris ge­nom­men; aber dies war auch nur eine Stadt und sie träum­te stets vom Land­le­ben.

      Jetzt woll­ten sie den Som­mer auf ih­rem Schlos­se Peup­les, ei­nem al­ten Fa­mi­li­en­sit­ze an der Küs­te, nicht weit von Yport, zu­brin­gen, und sie mal­te sich im­mer wie­der die zahl­lo­sen Ver­gnü­gun­gen aus, die sie dort in der gol­de­nen Frei­heit, so­zu­sa­gen am Ge­sta­de des Mee­res, er­le­ben wür­de. Ne­ben­bei galt es als aus­ge­macht, dass man ihr das Schloss als Hei­rats­gut mit­ge­ben wür­de; es war so­mit ge­wis­ser­mas­sen der Auf­ent­halts­ort ih­res gan­zen zu­künf­ti­gen Le­bens.

      Der hef­ti­ge Re­gen, wel­cher seit ges­tern Abend fiel und ihre Abrei­se hin­zu­hal­ten droh­te, war der ers­te große Kum­mer ih­res Le­bens. Aber schon nach we­ni­gen Mi­nu­ten kam sie ei­lig aus dem Zim­mer ih­rer Mut­ter und rief durchs gan­ze Haus:

      »Papa, Papa! Lass an­span­nen! Mama ist ganz ein­ver­stan­den.«

      Das Un­wet­ter ließ in­des­sen kei­nes­wegs nach; es schi­en sich viel­mehr ver­dop­pelt zu ha­ben, als der Rei­se­wa­gen vor­fuhr.

      Jo­han­na stand schon zum Ein­stei­gen be­reit, als die Baro­nin die Trep­pe her­un­ter­kam. Sie wur­de auf der einen Sei­te von ih­rem Gat­ten und auf der and­ren von der Kam­mer­jung­fer ge­stützt. Letz­te­re, kräf­tig und von männ­li­chem Wuchs, war eine Nor­man­nin aus der Um­ge­gend von Caux. Man hät­te sie min­des­tens für eine Zwan­zi­ge­rin ge­hal­ten, wenn­gleich sie erst acht­zehn Jah­re zähl­te. In der Fa­mi­lie be­han­del­te man sie wie eine zwei­te Toch­ter, denn sie war Jo­han­nas Milch­schwes­ter ge­we­sen. Sie hiess Ro­sa­lie.

      Ihre Haupt­auf­ga­be war üb­ri­gens die, ihre Her­rin beim Ge­hen zu un­ter­stüt­zen. Die­sel­be war in Fol­ge ei­ner Herz­ver­fet­tung, wel­che den Ge­gen­stand ih­rer un­aus­ge­setz­ten Kla­ge bil­de­te, aus­ser­or­dent­lich stark ge­wor­den.

      Die Baro­nin er­reich­te pus­tend und stöh­nend den Flur des alt­mo­di­schen Ho­tels, und warf einen Blick auf den vom Re­gen be­spül­ten Hof.

      »Es ist der rei­ne Un­sinn«, mur­mel­te sie seuf­zend.

      »Aber


Скачать книгу