Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant
Читать онлайн книгу.aufgriffen. Sie fragten genau wie Erwachsene: -- »Ist Deine Großmutter tot?« -- »Ja, seit gestern Abend.« -- »Wie ist das eigentlich, wenn jemand tot ist?« -- Und Marie-Louise erzählte ihnen alles, von den Lichtern, dem Weihwedel, von der Leiche selbst. Da erwachte natürlich eine große Neugierde bei den Kindern und sie verlangten sehnsüchtig, auch in das Zimmer zu der Leiche herauf zu können. Marie-Louise arrangierte alsbald eine erste Partie, fünf Mädchen und fünf Jungens, die grössten und kühnsten. Sie mussten, um nicht entdeckt zu werden, unten an der Treppe ihre Schuhe ausziehen; die kleine Gesellschaft schlich sich ins Haus und stahl sich leise, wie eine Schar Mäuse, die Treppe herauf.
Einmal im Zimmer, ahmte das kleine Mädchen seine Mutter nach und regelte das Zeremoniell. Es führte seine Spielgefährten feierlich herein, kniete nieder, machte das Kreuzzeichen, bewegte die Lippen, erhob sich, besprengte das Bett, und während die Kinder dicht zusammengedrängt sich ängstlich näherten, um mit neugierigem Schauer das Gesicht und die Hände zu betrachten, begann es plötzlich das Schluchzen nachzumachen, indem es die Augen mit seinem kleinen Taschentuche bedeckte. Dann schien es ebenso plötzlich wieder getröstet, indem es der draussen Wartenden gedachte und drängte schleunigst alle heraus, um gleich darauf eine zweite Schar und dann noch eine dritte hereinzuführen; denn die ganze liebe Strassenjugend bis auf die kleinen zerlumpten Bettelkinder rannte zu diesem neuartigen Vergnügen herbei. Jedes Mal inszenierte die Kleine von Neuem die ganze Ziererei, die sie mit vollkommener Sicherheit ihrer Mutter nachgemacht hatte.
Auf die Dauer hielt auch dieser Zeitvertreib nicht vor. Ein anderes Spiel riss die Kinder mit fort, und von Neuem blieb die alte Großmutter allein, ganz vergessen von aller Welt.
Dunkelheit erfüllte allmählich das Zimmer, und auf dem dürren runzeligen Gesicht der Leiche tanzten die Reflexe der auf- und niederflackernden Lichter.
Gegen acht Uhr kam Caravan herauf, schloss das Fenster und steckte neue Kerzen auf. Seine Haltung war jetzt ruhiger. Er hatte sich an den Anblick der Toten gewöhnt, als hätte sie schon seit Monaten da gelegen. Er überzeugte sich sogar, dass noch nicht die geringste Zersetzung sichtbar war und sprach dies auch seiner Frau gegenüber aus, als sie sich gerade zu Tische setzen wollten.
»Natürlich«, antwortete diese, »sie ist wie von Holz, sie würde sich ein ganzes Jahr so halten.«
Schweigend ass man die Suppe. Die Kinder, die man den ganzen Tag hatte sich herumtreiben lassen, schliefen auf ihren Stühlen ein und alles verhielt sich schweigsam.
Plötzlich fing die Lampe an niedriger zu brennen. Madame Caravan schraubte den Docht höher, aber die Schraube machte ein knirschendes Geräusch, die Flamme zuckte einige Male heftiger auf und dann verlöschte sie plötzlich ganz. Man hatte vergessen, Öl zu holen. Zum Krämer zu schicken hätte nur noch das Essen verzögert; man suchte nach Kerzen, aber es gab weiter keine als die, welche vorhin oben Herr Caravan frisch aufgesteckt hatte.
Madame Caravan sandte kurz entschlossen Marie-Louise herauf, um schnell zwei davon zu holen, und man sass so lange im Dunkeln.
Man konnte genau den Schritt des Kindes hören, welches die Treppe heraufstieg; dann dauerte es eine Weile und plötzlich kam das Kind eiligst wieder heruntergestürzt. Es öffnete die Tür, noch lebhafter und erregter als am Abend vorher, wo es den Unglücksfall angekündigt hatte und rief keuchend:
»Oh Papa! Großmama kleidet sich an!«
Caravan wandte sich so erschreckt um, dass sein Stuhl gegen die Wand fiel.
»Was sagst Du?« … stotterte er. »Was hast Du gesagt?« …
»Groß … Großma … Großmama … kleidet sich an … sie kommt gleich herunter« … stotterte Marie-Louise, halberstickt vor Erregung.
Er rannte wie närrisch die Treppe herauf, gefolgt von seiner halbbetäubten Frau; aber an der Tür des zweiten Stockes hielt er, von Aufregung überwältigt, einen Augenblick inne. Er wagte nicht einzutreten. Was würden seine Augen erblicken? Madame Caravan, beherzter wie er, drückte auf die Klinke und öffnete entschlossen die Türe.
Das Zimmer war noch finsterer als vorher, und in der Mitte desselben bewegte sich eine große hagere Gestalt. Sie war wieder lebendig geworden, die alte Frau; und indem sie aus ihrer Lethargie erwacht war, bevor ihr noch das Bewusstsein recht zurückkehrte, hatte sie sich zur Seite gewendet und, auf einen Ellnbogen gestützt, drei der Lichter, die in der Nähe des Totenbettes brannten, ausgelöscht. Dann gewann sie allmählich ihre Kräfte wieder und stand auf, um ihre Kleider zu suchen. Das Fehlen ihrer Kommode hatte sie anfangs in Verlegenheit gebracht, aber allmählich hatte sie ihre Sachen auf dem Boden des Holzkoffers gefunden und sich ruhig angekleidet. Nachdem sie dann das Gefäss mit Weihwasser ausgeleert, den Palmzweig wieder hinter den Spiegel gesteckt und die Stühle wieder an ihre Plätze gerückt hatte, wollte sie gerade heruntergehen, als ihr Sohn und ihre Schwiegertochter erschienen.
Caravan stürzte vor, ergriff ihre Hände und küsste sie mit Tränen in den Augen, während hinter ihm seine Frau trotz ihres verdriesslichen Gesichtes ein über das andere Mal ausrief:
»Welches Glück, oh, welches Glück!«
Aber die alte Frau erwiderte diese Zärtlichkeit nicht; sie schien gar kein Verständnis dafür zu haben. Steif wie eine Bildsäule mit stierem Auge fragte sie nur, ob das Essen bald bereit sei.
»Aber gewiss, Mama! Wir warten nur auf Dich!« stotterte er, vollständig den Kopf verlierend. Und mit ungewohntem Eifer nahm er ihren Arm, während Madame Caravan jr. das Licht ergriff und langsam, Schritt für Schritt die Treppe herabgehend, vor ihnen her leuchtete, wie sie es in der letzten Nacht bei ihrem Manne getan hatte, als er die Marmorplatte trug.
Als sie an die erste Etage kam, hätte sie beinahe einige Leute umgerannt, die gerade die Treppe heraufstiegen. Es waren die Verwandten aus Charenton, Madame Braux, gefolgt von ihrem Gatten.
Die Frau war von ziemlicher Körpergrösse, dick, und in Folge von Wassersucht so aufgeschwollen, dass sie den Oberkörper immer zurücklehnen musste. Sie riss vor Schreck die Augen weit auf und wäre beinahe davon gelaufen. Ihr Gatte, ein sozialistisch angehauchter Schuhmacher, ein kleines haariges Männchen, welches viel Ähnlichkeit mit einem Affen hatte, murmelte kaltblütig:
»Was ist da weiter? Sie ist wieder lebendig geworden.«