Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant

Читать онлайн книгу.

Guy de Maupassant – Gesammelte Werke - Guy de Maupassant


Скачать книгу
so auf­ge­löst, dass er nicht ’mal mehr einen kla­ren Ge­dan­ken zu fas­sen ver­moch­te.

      Ma­da­me Ca­ra­van sprach in ei­ner Ecke mit dem Dok­tor, er­kun­dig­te sich nach den not­wen­di­gen For­ma­li­tä­ten, und ließ sich al­ler­lei prak­ti­sche Ratschlä­ge ge­ben. Sch­liess­lich nahm Herr Che­net, der auf ir­gen­det­was ge­war­tet zu ha­ben schi­en, sei­nen Hut und woll­te sich ver­ab­schie­den, in­dem er er­klär­te, er habe noch nicht zu Abend ge­ges­sen.

      »Wie?« rief sie, »Sie ha­ben noch nicht zu Abend ge­ges­sen? Aber blei­ben Sie doch bei uns, Herr Dok­tor, blei­ben Sie doch! Sie müs­sen mit dem vor­lieb neh­men, was wir ha­ben; Sie wis­sen ja, ein großes Di­ner gibt es nicht bei uns.«

      Er lehn­te ab und bat, ihn zu ent­schul­di­gen. Aber sie be­stand dar­auf:

      »Wa­rum wol­len Sie nicht blei­ben? Man ist in sol­chen Au­gen­bli­cken glück­lich, einen Freund bei sich zu ha­ben. Und viel­leicht kön­nen Sie mei­nem Man­ne zu­re­den, sich et­was zu stär­ken. Er hat sei­ne Kräf­te jetzt dop­pelt not­wen­dig.«

      »Wenn es denn sein muss, Ma­da­me, so neh­me ich dan­kend an«, sag­te der Dok­tor, in­dem er un­ter ei­ner Ver­beu­gung sei­nen Hut wie­der ab­leg­te.

      Sie gab Ro­sa­lie, die ganz aus dem Häu­schen war, al­ler­hand Be­feh­le und setz­te sich dann selbst mit an den Tisch, »um we­nigs­tens so zu tun, als ob sie ässe, und um dem ›Herrn Dok­tor‹ Ge­sell­schaft zu leis­ten.«

      Man nahm zu­nächst die auf­ge­wärm­te Sup­pe, von der Herr Che­net sich noch einen zwei­ten Tel­ler er­bat. Dann er­schi­en eine Plat­te Lyo­ner Sala­mi wel­che einen star­ken Knob­lauch-Ge­ruch ver­brei­te­te, und von der auch Ma­da­me Ca­ra­van kos­te­te.

      »Aus­ge­zeich­net!« sag­te der Dok­tor.

      »Nicht wahr«, lä­chel­te sie. »Nimm doch auch et­was, mein ar­mer Al­fred«, wand­te sie sich an ih­ren Mann, »nur um et­was im Ma­gen zu ha­ben. Den­ke, dass Du noch die Nacht vor Dir hast.«

      Er reich­te me­cha­nisch sei­nen Tel­ler hin, wie er sich zu Bett ge­legt ha­ben wür­de, wenn man es ihn ge­heis­sen hät­te; denn er folg­te in al­lem ganz ge­dan­ken­los, zu kei­nem Wi­der­stan­de fä­hig. So ass er auch.

      Der Dok­tor, der sich selbst half, griff drei­mal zu der Schüs­sel, wäh­rend Ma­da­me Ca­ra­van von Zeit zu Zeit mit der Ga­bel ein großes Stück her­aus­fisch­te und es sich ge­dan­ken­los in den Mund schob.

      Als hier­auf eine Salat­schüs­sel voll Mac­caro­ni er­schi­en, mur­mel­te der Dok­tor:

      »Tau­send, da kommt ’was Le­cke­res.«

      Und Ma­da­me Ca­ra­van leg­te die­ses Mal al­ler Welt vor; sie füll­te so­gar die Näp­fe der Kin­der da­mit, wel­che bei der man­geln­den Auf­sicht den Wein un­ver­mischt tran­ken und sich be­reits un­ter dem Ti­sche wie­der mit Fuss­trit­ten be­ar­bei­te­ten.

      Herr Che­net er­in­ner­te sich an Ros­si­ni’s Vor­lie­be für die­se ita­lie­ni­schen Ge­rich­te.

      »Halt!« sag­te er plötz­lich, »habe ich da einen schö­nen Reim! man könn­te ein gan­zes Ge­dicht dar­aus ma­chen:

       Der Maëstro Ros­si­ni

       Lieb­te die Mac­caro­ni.«

      Man hör­te nicht mehr auf ihn. Ma­da­me Ca­ra­van war plötz­lich nach­denk­lich ge­wor­den und über­leg­te alle wahr­schein­li­chen Fol­gen die­ses Er­eig­nis­ses, wäh­rend ihr Gat­te Brot­kü­gel­chen dreh­te, die er dann auf den Tel­ler leg­te und starr, mit der Mie­ne ei­nes Idio­ten, an­schau­te. Da ein bren­nen­der Durst sei­ne Keh­le ver­zehr­te, so brach­te er alle Au­gen­bli­cke das frisch­ge­füll­te Glas zum Mun­de. Sein Ver­stand, der be­reits durch Er­schüt­te­rung und Trau­er hart mit­ge­nom­men war, wur­de jetzt an­ge­regt und schi­en ihm wäh­rend sei­ner Ver­dau­ung über Schmerz und Kum­mer hin­weg­zu­tan­zen.

      Der Dok­tor trank üb­ri­gens wie ein Loch und wur­de sicht­lich an­ge­hei­tert; auch Ma­da­me Ca­ra­van un­ter­lag der Re­ak­ti­on, die je­der ner­vö­sen An­span­nung folgt. Sie war, ob­schon sie nur Was­ser trank, gleich­falls auf­ge­regt und fühl­te sich et­was ver­wirrt im Kop­fe.

      Herr Che­net be­gann ver­schie­de­ne To­ten-Ge­schich­ten zu er­zäh­len, die ihm sehr scherz­haft er­schie­nen. Denn in die­sen Pa­ri­ser Vor­städ­ten, de­ren Be­woh­ner in der Haupt­sa­che ehe­ma­li­ge Pro­vinz­ler sind, fin­det man noch die­se Gleich­gül­tig­keit des Land­man­nes ge­gen den To­ten, mag es nun der Va­ter oder die Mut­ter sein, die­se man­geln­de Ach­tung, die­se un­be­wuss­te Roh­heit, die auf dem Lan­de so viel­fach herrscht und in Pa­ris selbst so sel­ten ist.

      »Den­ken Sie«, sag­te er, »letz­te Wo­che ruft man mich Rue de Pu­teaux; ich eile da­hin, fin­de die Kran­ke ver­schie­den und in der Nähe des To­ten­bet­tes die Fa­mi­lie da­mit be­schäf­tigt, ru­hig eine Fla­sche Ani­set­te zu lee­ren, die man tags zu­vor ge­kauft hat­te, um eine letz­te Lau­ne der Ster­ben­den zu be­frie­di­gen.«

      Aber Ma­da­me Ca­ra­van hör­te nicht zu, da sie im­mer­fort an die Erb­schaft den­ken muss­te; und Ca­ra­van mit sei­nem um­ne­bel­ten Ge­hirn ver­stand erst recht nichts da­von.

      Man brach­te den Kaf­fee, der ex­tra stark ge­macht war, um die gute Stim­mung zu er­hal­ten. Jede Tas­se, mit Co­gnak ge­würzt, ließ auf den Wan­gen eine plötz­li­che Röte ent­ste­hen und ver­mehr­te nur noch die Ver­wir­rung, die der Al­ko­hol und die see­li­sche Er­schüt­te­rung schon in die­sen Ge­hir­n­en an­ge­rich­tet hat­ten.

      Dann be­mäch­tig­te sich der »Dok­tor« plötz­lich der Fla­sche und schenk­te je­dem noch einen Ab­schied­strunk ein. Und ohne ein Wort zu spre­chen, in der an­ge­neh­men Wär­me der Ver­dau­ung, er­grif­fen von je­ner tie­ri­schen Be­hag­lich­keit, wel­che der Al­ko­hol nach dem Es­sen ver­leiht, spül­ten sie sich lang­sam die Keh­len mit dem ge­zu­cker­ten Co­gnak aus, der auf dem Bo­den der Kaf­fee­tas­sen einen gelb­li­chen Sirup bil­de­te.

      Die Kin­der fin­gen an ein­zu­schla­fen und Ro­sa­lie brach­te sie zu Bet­te.

      Ca­ra­van, der wie je­der Un­glück­li­che, das Be­dürf­nis fühl­te, sich zu be­täu­ben, nahm noch meh­re­re Gläs­chen Co­gnak zu sich, so­dass sei­ne bis­her blö­den Au­gen zu glän­zen an­fin­gen.

      End­lich er­hob sich der Dok­tor zum Fort­ge­hen, und sei­nen Freund un­term Arm neh­mend, sag­te er:

      »Komm, geh mit mir, die fri­sche Luft wird Dir gut tun; wenn man sich durch et­was be­drückt fühlt, muss man sich Be­we­gung schaf­fen.«

      Der an­de­re ge­horch­te ohne Wi­der­stand, nahm Hut und Stock und ging mit. Alle bei­de wan­del­ten Arm in Arm bei dem hel­len Ster­nen­him­mel nach der Sei­ne zu.

      Ein bal­sa­mi­scher Hauch zog durch die laue Nacht, denn alle Gär­ten rings­um­her stan­den zu die­ser Jah­res­zeit in vol­ler Blü­ten­pracht, de­ren Duft, tags­über we­ni­ger be­merk­bar, sich beim Ein­bruch der Nacht zu ver­dop­peln schi­en und von dem leich­ten Abend­lüft­chen weit hin­aus ge­tra­gen wur­de.

      Die brei­te Stras­se mit ih­ren bei­den Rei­hen Gas­la­ter­nen lag bis zum Arc de Triom­phe stumm und ein­sam vor ih­nen. Aber da un­ten bro­del­te Pa­ris wie ein sie­den­der Topf. Ein un­auf­hör­li­ches dump­fes Rol­len schall­te


Скачать книгу