Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant
Читать онлайн книгу.ehemalige Krankenpfleger warf einen mitleidigen Blick auf ihn. Er betrachtete einen Augenblick das rötliche Gesicht seines Nachbarn, seinen fleischigen Hals, seinen aufgetriebenen Leib, der sich zwischen zwei schwammigen fetten Schenkeln verlor, die ganze apoplektische Erscheinung des verweichlichten alten Beamten; und indem er mit einem Händedruck sich den grauen Strohhut zurechtrückte, antwortete er halb ernst, halb lachend:
»Nicht so sicher als Sie denken; Ihre Mutter ist die personifizierte Magerkeit und Sie sind die reine Poularde.«
Caravan wurde verlegen und schwieg.
Inzwischen hatte die Tramway ihren Haltepunkt erreicht und die beiden Herren stiegen aus. Herr Chenet schlug vor, einen Wermut im Café du Globe zu trinken, wo sie beide ihren Stammtisch hatten. Der Chef, ein alter Freund von ihnen, reichte ihnen zwei Finger, die sie über Flaschen und Gläsern hinweg schüttelten; dann begaben sie sich an einen Tisch, wo drei Liebhaber des Dominos schon seit Mittag beim Spielchen sassen. Freundschaftliche Redensarten, darunter das unvermeidliche »Was gibt’s Neues« wurden ausgetauscht. Hierauf setzten sich die Spieler wieder zu ihrer Partie und sie wünschten denselben einen guten Abend. Jene reichten ihnen die Hände, ohne von ihren Steinen aufzusehen, und die beiden Herren gingen zum Essen nach Hause.
Caravan bewohnte nahe beim Rondel von Courbevoie ein kleines zweistöckiges Haus, dessen Erdgeschoss ein Friseur innehatte.
Zwei Zimmer, ein Speisezimmer und eine Küche, in denen Rollsessel je nach Bedarf hin- und hergeschoben wurden, bildeten die beiden einzigen Räume, in denen Madame Caravan ihre Arbeitszeit zubrachte, während ihre zwölfjährige Tochter Maria-Louise und der neunjährige Sohn Philipp-August sich mit der ganzen Strassenjugend des Viertels in der Gosse herumbalgten.
Über sich hatte Caravan seine Mutter einlogiert, deren Geiz in der ganzen Umgegend berühmt war und von deren Magerkeit man sich sagte, dass der Herrgott bei ihr seine eigenen Sparsamkeits-Grundsätze angewandt habe. Stets schlechter Laune ließ sie keinen Tag ohne ihre besonderen Klagen und Heftigkeits-Ausbrüche vergehen. Sie zankte sich vom Fenster aus mit den Nachbarinnen vor der Türe, mit den Krämerfrauen, den Gassenkehrern und den Strassenjungen, die sie aus Rache beim Ausgehen von Weitem mit dem Rufe »Seht die Bettnässerin« verfolgten.
Ein kleines unglaublich dummes Dienstmädchen aus der Normandie besorgte den Haushalt und schlief des Nachts im zweiten Stock bei der Alten, für den Fall, dass dieser etwas zustossen sollte.
Als Caravan nach Hause kam, fand er seine Frau damit beschäftigt, mittels eines Flanelllappens die vereinzelt im Zimmer stehenden Mahagonistühle wieder aufzupolieren; sie litt nämlich an chronischer Putzsucht. Ihre Hände waren stets von Zwirnhandschuhen bedeckt, ihr Haupt war mit einer Mütze geschmückt, von welcher bunte Bänder herabflatterten und die stets schief auf einem Ohre sass. Jedes Mal wenn sie bohnend, bürstend, firnissend oder seifend angetroffen wurde, pflegte sie zu sagen: »Ich bin nicht reich, bei mir ist alles einfach; aber die Reinlichkeit ist mein Luxus und darin bin ich mancher andren über.«
Mit praktischem Verstande begabt, beherrschte sie ihren Mann in allem. Jeden Abend bei Tisch und später noch im Bett sprachen sie lange noch von Büro-Angelegenheiten, und obschon sie zwanzig Jahr jünger war wie er, so vertraute er sich ihr wie einem Beichtvater an und folgte in allem ihren Ratschlägen.
Sie war niemals hübsch gewesen; jetzt war sie sogar hässlich, von kleiner schmächtiger Figur. Ihre unscheinbare Kleidung ließ bei ihr jene äusseren weiblichen Formen völlig verschwinden, welche ein gut sitzender Anzug künstlich hervorheben kann. Ihre Kleiderröcke waren stets an irgend einer Stelle in die Höhe geschlagen und sie pflegte sich häufig, ganz gleichgültig wo, zu kratzen, ohne jede Rücksicht auf etwaige Anwesende und mit einer Intensivität, die geradezu etwas krankhaftes hatte. Der einzige Schmuck, den sie sich leistete, war jener Aufputz von seidenen Bändern verschiedenartigster Farben auf den stolzen Häubchen, die sie zu Hause zu tragen pflegte.
Sobald sie ihren Mann bemerkte, erhob sie sich, küsste ihn auf beide Wangen und fragte ihn dann: »Hast Du an Potin gedacht, lieber Freund?« (Es handelte sich um eine Bestellung, die er auszurichten versprochen hatte.) Er ließ sich erschreckt auf einen Stuhl fallen, denn er hatte es jetzt gerade zum vierten Male vergessen. -- »Es ist ein Elend« sagte er, »ein wahres Elend! Ich kann den ganzen Tag mich dran erinnern, und abends vergesse ich es doch jedes Mal.« Aber als sie sah, dass es ihn alterierte, suchte sie ihn schnell zu trösten: »Lass doch nur! Morgen besorgst Du’s mir schon. Nichts Neues im Ministerium?«
»Allerdings, eine große Neuigkeit sogar; noch ein Klempner ist Sous-Chef geworden.«
Sie wurde sehr erregt.
»In welcher Abteilung?«
»In der Abteilung für auswärtige Erwerbungen.«
»An Stelle Ramon’s also«, sagte sie ärgerlich, »gerade die ich mir für Dich ausgedacht hatte. Und Ramon? Pensioniert?«
»Pensioniert«, stammelte er.
»Damit ist’s nun aus, mit dieser schönen Gelegenheit;« sagte sie heftig, während ihr Häubchen auf die Schulter rutschte. »Es lässt sich im Augenblick nichts machen. Und wie heisst er denn, Dein Kommissair?«
»Bonassot«.
Sie nahm die Marine-Rangliste, die sie stets zur Hand hatte, und schlug nach:
»Bonassot. -- Toulon. -- Geb. 1851. -- Kommissariats-Eleve 1871, Unter-Kommissar 1875. -- Hat er zur See gedient, der da?«
Bei dieser Frage heiterte sich Caravan’s Antlitz wieder auf. Er lachte, dass ihm der Bauch wackelte.
»Wie Balin, genau wie sein Chef Balin.«
Und mit noch stärkerem Lachen fügte er einen alten Witz hinzu, der im ganzen Ministerium kursierte:
»Man dürfte sie ja nicht einmal ausschicken, um die Marinestation Point-Du-Jour zu inspizieren; sie würden unterwegs an der Seekrankheit sterben.«
Aber sie blieb ernst, als hätte sie nichts gehört; dann murmelte sie, sich langsam am Kinn kratzend:
»Wenn man nur einen Deputierten an der Hand hätte! Wüsste die Kammer alles, was da drinnen vorgeht, so müsste das Ministerium auf der Stelle springen …«
Lautes Schreien auf der Treppe schnitt