Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant
Читать онлайн книгу.Veränderung eintritt.
Rose ging in jener Nacht nicht zu Bett. Sie sass auf demselben und hatte nicht ’mal mehr die Kraft zu weinen; so fassungslos war sie. Regungslos sass sie da; sie fühlte ihre Glieder kaum, und ihre Gedanken waren entschwunden, als hätte sie ihr jemand mit einem jener Instrumente herausgeschnitten, deren sich die Wollkämmer bedienen, um die Wolle der Matratzen auszuzupfen.
Hin und wieder nur sammelte sie mühsam einen Rest von Nachdenken und suchte sich auszumalen, was nun werden sollte.
Ihre Besorgnis wuchs immer mehr, und jedes Mal, wenn durch die tiefe Stille der Nacht die große Küchenuhr langsam den Verlauf einer Stunde ankündigte, brach ihr der Angstschweiß aus. Immer trüber wurde ihr Verstand, immer heftiger der Druck auf ihrem Kopfe, ihr Licht war ausgebrannt; zuletzt fing sie richtig an zu fiebern. Sie verfiel in eine Art leichten Fantasierens, wie man es gerade auf dem Lande bei Leuten findet, die sich von einem schweren Schicksalsschlage bedroht fühlen. Ein wahnsinniges Verlangen, demselben zu entgehen, abzureisen, gewissermassen vor dem drohenden Unheil zu flüchten, wie das Schiff vor dem Orkan, wurde in ihrem Herzen rege.
Vor ihrem Fenster klagte ein Käuzchen; zitternd fuhr sie in die Höhe, strich sich mit den Händen übers Gesicht, griff an ihre Haare und betastete sich wie eine Närrin am ganzen Körper. Dann stieg sie mit den Bewegungen einer Nachtwandlerin die Treppe herunter. Als sie auf dem Hofe ankam, kroch sie in gebückter Haltung weiter, um nicht etwa durch einen Knecht, der von einer Nachtschwärmerei vielleicht heimkehrte, überrascht zu werden; denn der Mond schien hell auf alle Gegenstände. Statt das Tor zu öffnen, kroch sie über die Böschung, und erst, als sie sich im freien Felde befand, wagte sie aufrecht weiter zu gehen. Sie ging geradeaus mit vorgebeugtem Kopf und flüchtigem Schritt, und stiess unwillkürlich von Zeit zu Zeit einen durchdringenden Schrei aus. Ihr Schatten fiel in riesigen Umrissen auf den Boden und verfolgte sie wie ein Gespenst; zuweilen flog ein erschreckter Nachtvogel auf und flatterte mit mattem Flügelschlage über ihrem Haupte. Die Hofhunde bellten, wenn sie ihren Schritt vernahmen. Einer sprang heraus und folgte ihr bissig nach; aber sie wandte sich mit einem solchen Geheul zu ihm herum, dass er mit eingeklemmten Schweif davon rannte, in seine Hütte kroch und sich leise wimmernd ausstreckte.
Auf einem Felde spielte ein ganzes Rudel Hasen; als aber die flüchtige Wanderin gleich einer rasenden Diana daherkam, stoben sie schleunigst auseinander. Die Jungen duckten sich mit der Alten in eine Furche, während der alte Rammler fast nach jedem Sprunge ein Männchen machte und sichernd seine großen Löffel spitzte. Das Licht des untergehenden Mondes warf seinen Schatten in zehnfacher Vergrösserung auf den hellen Acker, sodass er nicht minder gespenstig aussah, wie das dahineilende Weib. Der Mond glich einer riesigen Laterne, die am Rande des Horizontes niedergestellt war.
Am Himmel verlöschten die Sterne einer nach dem anderen; einzelne Vögel begannen zu piepen. Der Tag brach an. Die arme Rose keuchte vor Anstrengung, und als aus dem Purpur-Vorhang des Morgenrotes die Sonne hervortauchte, stand sie still.
Ihre geschwollenen Füsse verweigerten den Dienst, aber sie bemerkte in der Nähe ein Wasser, einen großen Teich, dessen unbewegliche Fläche im Scheine der aufgehenden Sonne blutig-rot schien. Langsam, die Hand auf das heftig pochende Herz gedrückt, hinkte sie auf denselben zu, um ihre Füsse in das Wasser zu tauchen.
Sie setzte sich auf einen Grashügel, zog die dicken, staubigen Schuhe aus, legte die Strümpfe ab und senkte die blauangelaufenen Unterschenkel in die unbewegliche Flut, aus der einzelne Luftblasen aufstiegen.
Eine erquickende Frische drang langsam von den Fussspitzen bis zu ihrem Kopfe herauf, und während sie noch mit irrem Blick in das tiefe Wasser starrte, überkam sie plötzlich ein unbezähmbares Verlangen, ganz in demselben unterzutauchen. Da drinnen würden ihre Leiden für immer ein Ende haben. Sie dachte nicht mehr an ihr Kind; sie wollte Frieden finden, völlige Ruhe, ewigen Schlaf. Sie richtete sich auf und ging mit hochgehobenen Händen zwei Schritte weiter. Schon stand sie bis am Gürtel im Wasser und war im Begriff, sich vorzustürzen, als brennende Schmerzen an den Füssen sie unwillkürlich zurückspringen liessen. Sie stiess einen lauten Schrei aus, denn von ihren Knien bis zu den Fussspitzen tranken lange schwarze Blutegel ihr Leben und blähten sich, an ihr festgesaugt, mächtig auf. Sie wagte nicht, nochmals hereinzugehen, und heulte vor Schreck. Ihre Verzweiflungsschreie riefen einen Landmann herbei, der in der Nähe vorüberfuhr; dieser nahm die Blutegel, einen nach dem anderen, ab, legte Kräuter auf die Bisswunden und brachte das unglückliche Wesen auf seinem Wagen nach dem Hofe ihres Herrn zurück.
Vierzehn Tage musste sie das Bett hüten, dann stand sie wieder auf und setzte sich vor die Haustür, um die schöne Luft einzuatmen. Es dauerte nicht lange, so stand der Pächter auch schon vor ihr.
»Die Sache ist also abgemacht?« sagte er.
Anfangs wusste sie nichts zu sagen; als er aber so vor ihr stand und sie mit erregtem Blick ansah, hauchte sie mühsam hervor:
»Nein, Herr! ich kann nicht.«
Das machte ihn wütend und er rief heftig:
»Du kannst nicht, Du, die Magd; warum denn nicht?«
Sie fing wieder an zu weinen und sagte nochmals:
»Ich kann nicht.«
Er musterte sie scharf und schrie ihr dann ins Gesicht:
»Du hast also einen Liebhaber?«
»Sehr gut möglich, vielleicht«, sagte sie zitternd vor Scham.
Rot wie ein Puter stotterte er fast vor Zorn:
»Ah! Du gibst es auch noch zu, Dirne! Wer ist es denn, Dein schöner Galan? Ein Kerl ohne Strümpfe und Schuhe, ein Bettler, ein Vagabund, ein Hungerleider? Wer ist es denn, sag’s doch, wer es ist!«
Und als sie schwieg, fuhr er fort:
»Aha! Du willst nicht … dann will ich’s Dir sagen: Es ist Jean Baudu?«
»Oh nein, der nicht«, schrie sie auf.
»Dann ist es Peter Martin?«
»Oh nein, Herr!«
Und so nannte er, ganz ausser sich, der Reihe nach alle Burschen der Umgegend, während sie, ganz aufgelöst und sich alle Augenblicke mit dem Schürzenzipfel die Augen wischend, jedes Mal verneinte. Aber er ließ nicht nach, sein starrer Sinn wollte das Geheimnis ergründen, und wenn er ihr das Herz zerreissen müsste. Er war wie ein Jagdhund, der den ganzen Tag eine Fährte verfolgt, um endlich das Tier zu erhaschen, dessen Spur er wittert. Plötzlich schrie er auf:
»Ah! Mädchen! Es ist Jacques, der Knecht