Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant

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Guy de Maupassant – Gesammelte Werke - Guy de Maupassant


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wenn er den fri­schen bal­sa­mi­schen Duft der Früh­lings­nacht ein­sog.

      Bei der Brücke wand­ten sie sich rechts und emp­fan­den mit Be­ha­gen den fri­schen Luft­hauch, den ih­nen der Fluss zu­sand­te. Die­ser floss hin­ter ei­nem Vor­hang von ho­hen Pap­peln ru­hig, fast me­lan­cho­lisch da­hin; die Ster­ne schie­nen auf dem Was­ser zu schwim­men und lang­sam von dem­sel­ben fort­ge­tra­gen zu wer­den. Ein fei­ner weiß­li­cher Ne­bel, der auf dem jen­sei­ti­gen Ufer lag, ließ eine Emp­fin­dung von Feuch­tig­keit in die Lun­gen drin­gen und Ca­ra­van, bei dem die­ser Dunst des Was­sers alte Erin­ne­run­gen wach rief, blieb plötz­lich ste­hen.

      Er sah sei­ne Mut­ter wie­der vor sich wie da­mals in sei­ner Kind­heit, dort un­ten in der Pi­car­die, auf den Kni­en an dem klei­nen Was­ser, das durch den Gar­ten floss und die Wä­sche, die in ei­nem Hau­fen ne­ben ihr lag, eif­rig wa­schend. Er hör­te ih­ren Schlä­gel in dem ru­hi­gen Schwei­gen der länd­li­chen Um­ge­bung, er hör­te ihre Stim­me, wie sie rief: »Al­fred, brin­ge mir Sei­fe.« Und er spür­te die­sen sel­ben Hauch von flies­sen­dem Was­ser, die­sen sel­ben Ne­bel, der aus der feuch­ten Erde auf­steigt, die­se Wasch­haus­luft, von der der Sei­fen­ge­ruch ihm un­ver­ge­ss­lich ge­blie­ben war und den er ge­ra­de an die­sem Abend, wo sei­ne Mut­ter ge­stor­ben war, deut­lich wie­der zu rie­chen glaub­te.

      So stand er da, von ei­nem neu­en An­fall sei­ner trost­lo­sen Verzweif­lung er­fasst. Es war, als habe plötz­lich ein Licht­strahl ihm die gan­ze Aus­deh­nung sei­nes Un­glücks be­leuch­tet; und bei dem Wie­der­emp­fin­den die­ses flüch­ti­gen Hau­ches fühl­te er sich in den tiefs­ten Ab­grund des bit­ters­ten Schmer­zes ge­schleu­dert. Der Ge­dan­ke an die Tren­nung für im­mer zer­riss ihm das Herz. Er sah sein Le­ben in zwei Ab­schnit­te ge­teilt, von de­nen der eine jetzt mit al­len Erin­ne­run­gen sei­ner Ju­gend­zeit durch die­sen To­des­fall für im­mer vor sei­nen Au­gen ver­schwand. Das gan­ze »Einst­mals« war für ihn zu Ende. Nie­mand wür­de mehr mit ihm von ver­gan­ge­nen Zei­ten re­den kön­nen, von Leu­ten, die er frü­her ge­kannt hat­te, von sei­ner Hei­mat, von ihm selbst, von al­len Ein­zel­hei­ten sei­nes ver­flos­se­nen Le­bens. Ein Teil sei­nes ei­ge­nen »Ich« hat­te auf­ge­hört zu exis­tie­ren; jetzt brach die Zeit des Ster­bens für den an­de­ren her­an.

      Und nun zo­gen lang­sam die Erin­ne­run­gen an ihm vor­über. Er sah »die Mama« wie­der vor sich, als sie noch viel jün­ger war, mit Klei­dern, die sie so lan­ge trug, bis sie gänz­lich auf­ge­braucht wa­ren, so­dass sie mit der Vor­stel­lung von ih­rer Per­son un­zer­trenn­lich ver­bun­den wa­ren. Er fand sie un­ter tau­sen­der­lei längst ver­ges­se­nen Ver­hält­nis­sen wie­der; ihre längst­ver­schwun­de­nen Ge­sichts­zü­ge, ihre Ge­bär­den, ihre Ge­wohn­hei­ten, ihre be­son­de­ren Nei­gun­gen, die Fal­ten auf ih­rer Stirn, die Hal­tung ih­rer ma­ge­ren Fin­ger, alle die­se ver­trau­ten Ein­zel­hei­ten tra­ten ihm jetzt wie­der vor die See­le.

      Und in­dem er sich fest an den Dok­tor klam­mer­te, stiess er einen Seuf­zer nach dem and­ren aus. Sei­ne schlot­tern­den Knie wank­ten, sei­ne gan­ze um­fang­rei­che Fi­gur wur­de von hef­ti­gem Schluch­zen er­schüt­tert.

      »Mei­ne Mut­ter, mei­ne arme lie­be Mut­ter« stam­mel­te er ein über das an­de­re Mal.

      Sein Beglei­ter, der im­mer noch an­ge­hei­tert war und sich mit der Ab­sicht trug, den Abend an ir­gend ei­nem je­ner Orte zu ver­brin­gen, die er im ge­hei­men zu be­su­chen pfleg­te, wur­de über die­sen hef­ti­gen Trau­er­an­fall sehr un­ge­dul­dig. Er re­de­te ihm zu, sich et­was am Ufer ins Gras zu set­zen und ver­liess ihn nach ei­ner Wei­le un­ter dem Vor­wan­de ei­nes drin­gen­den Kran­ken­be­su­ches.

      Ca­ra­van sass hier lan­ge und wein­te sich aus. End­lich, nach­dem sei­ne Trä­nen ver­siecht wa­ren und all sein Leid an sei­nem geis­ti­gen Auge so­zu­sa­gen vor­über­ge­zo­gen war, fand er wie­der et­was Trost, eine Art Ruhe, wie einen plötz­li­chen Still­stand sei­ner Ge­füh­le.

      Der Mond war auf­ge­gan­gen und sein mil­des Licht er­leuch­te­te den Ho­ri­zont. Sil­ber­ne Re­fle­xe bra­chen sich an den säu­seln­den Blät­tern der Pap­peln, und das fer­ne Geräusch auf der Ebe­ne klang nur noch wie das Fal­len des Schnees; der Fluss trug kei­ne Ster­ne mehr, da­für glänz­te er aber wie eine Perl­mut­ter­scha­le, auf der ein­zel­ne gold­glän­zen­de Fur­chen ge­zo­gen schie­nen. Die Luft war mil­de und noch im­mer spür­te man den wür­zi­gen Blü­ten­duft. Es lag et­was Weich­li­ches in die­sem Schlum­mer der Erde, aber es pass­te zu Ca­ra­van’s Stim­mung, und mit Be­ha­gen ge­noss er die lieb­li­che Ruhe der Nacht. Er at­me­te lang­sam und glaub­te zu füh­len, dass sei­nen gan­zen Kör­per eine an­ge­neh­me Fri­sche, eine sanf­te Ruhe und sei­ne See­le ein über­ir­di­scher Trost durch­drin­ge. Er kämpf­te ab­sicht­lich ge­gen die­ses be­hag­li­che Ge­fühl, in­dem er im­mer »mei­ne Mut­ter, mei­ne arme Mut­ter!« wie­der­hol­te, und sich in ei­ner Re­gung na­tür­li­chen An­stands­ge­füh­les zum Wei­nen zu zwin­gen such­te; aber er konn­te nicht mehr wei­nen, er konn­te selbst sei­nen Ge­dan­ken nicht mehr jene trau­ri­ge Rich­tung ge­ben, die ihn vor­hin hat­te so hef­tig schluch­zen las­sen.

      End­lich er­hob er sich, um nach Hau­se zu ge­hen; er mach­te kur­ze Schrit­te, wie wenn er sich von der Hei­ter­keit der ihn um­ge­ben­den Na­tur nicht tren­nen könn­te, und sein Herz blieb wi­der Wil­len fried­lich be­wegt.

      Als er an die Brücke kam, be­merk­te er das Licht der letz­ten schon zur Ab­fahrt be­rei­ten Tram­way und wei­ter hin­ten die er­leuch­te­ten Fens­ter des Café du Glo­be.

      Da über­kam ihn das Be­dürf­nis, ir­gend­je­man­den sein Un­glück zu er­zäh­len, sein Mit­leid zu er­we­cken, sich ge­wis­ser­mas­sen in­ter­essant zu ma­chen. Er ver­fiel wie­der in sei­ne trau­ri­ge Hal­tung, öff­ne­te die Türe und ging auf das Buf­fet zu, wo der Chef all­zeit thron­te. Er hat­te auf einen ef­fekt­vol­len Au­gen­blick ge­rech­net, wie alle Welt auf ihn zu­kom­men, ihm die Hand rei­chen und ihn fra­gen wür­de: »Nun, was ha­ben Sie?« Aber nie­mand be­merk­te sein ver­stör­tes We­sen. Er stütz­te sich mit dem Elln­bo­gen auf das Buf­fet, be­grub das Ge­sicht in den Hän­den und mur­mel­te: »Mein Gott, mein Gott!«

      Der Chef sah ihn an.

      »Sie sind krank, Herr Ca­ra­van?«

      »Nein, mein ar­mer Freund!« ant­wor­te­te er, »aber mei­ne Mut­ter ist heu­te ge­stor­ben.«

      Der an­de­re mach­te ein zer­streu­tes »Ach!« und als ein Gast aus dem Hin­ter­grun­de des Zim­mers »Bit­te, ein Glas Bier« rief, ant­wor­te­te er so­fort über­laut: »Hier, so­gleich! … es kommt schon« und stürz­te fort, den ver­wun­der­ten Ca­ra­van al­lein ste­hen las­send.

      An dem­sel­ben Ti­sche, wo er sie vor dem Es­sen ge­se­hen hat­te, sas­sen noch die drei Do­mi­no­lieb­ha­ber bei ih­rem Spie­le. Ca­ra­van nä­her­te sich ih­nen mit ei­ner Mie­ne zum Er­bar­men. Als ihn kei­ner zu be­mer­ken schi­en, ent­schloss er sich, zu­erst zu spre­chen.

      »Mir ist so­eben ein großes Leid ge­sche­hen«, sag­te er.

      Sie ho­ben alle drei gleich­zei­tig den Kopf ein we­nig, aber ihre Au­gen blie­ben auf die Stei­ne ge­hef­tet, die sie in den Hän­den hat­ten. »Nun, was denn?« -- »Mei­ne Mut­ter ist ge­stor­ben«. -- »Ach Teu­fel!« mur­mel­te ei­ner von ih­nen mit je­nem halb­be­trüb­ten Ge­sicht, wie es die Gleich­gül­ti­gen


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