Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant
Читать онлайн книгу.»Es war sehr liebenswürdig von Euch uns einzuladen«, sagte er, ein listiges Lächeln unter seinem dichten Bart verbergend, »wir sind, wie Ihr seht, sofort gekommen.«
Hierin lag zugleich eine kleine Anspielung auf das gespannte Verhältnis, das schon seit langer Zeit zwischen beiden Familien herrschte. Dann, als die alte Frau auf der letzten Stufe stand, ging er hastig auf sie zu, rieb seine haarige Wange an der ihrigen und schrie ihr wegen ihrer Taubheit ins Ohr:
»Es geht gut, Mama! immer munter, wie?«
Madame Braux war so erstaunt, die am Leben zu finden, die sie schon sicher totgeglaubt hatte, dass sie sie nicht einmal zu küssen wagte. Ihr hervorstehender Leib nahm den schmalen Flur so völlig ein, dass die anderen nicht weiter konnten.
Unruhig und misstrauisch musterte die Alte diese ganze Gesellschaft da vor ihr, aber sie sprach kein Wort. Sie heftete ihre kleinen grauen und stechenden Augen bald auf den einen, bald auf den anderen, und machte sich sichtlich allerlei Gedanken; ihren Kindern war das sehr fatal.
»Mama war etwas leidend«, sagte erläuternd Herr Caravan, »aber es geht jetzt schon wieder besser. Nicht wahr, Mama! es geht wieder gut?«
Da antwortete die alte Frau im Weitergehen mit ihrer dürren Stimme wie im Traume:
»Es war eine Ohnmacht; ich hörte Euch die ganze Zeit hindurch.«
Hierauf folgte ein verlegenes Schweigen. Man kam in das Speisezimmer und setzte sich zu einem schnell improvisierten Essen.
Herr Braux allein hatte seine Ruhe bewahrt. Mit seinem Gorilla-Gesicht schnitt er fortwährend Grimassen und ließ hin und wieder zweideutige Worte fallen, die sichtlich alle in Verlegenheit brachten.
Alle Augenblicke schellte es an der Vorsaaltüre, und Rosalie holte dann mit verlegener Miene Caravan heraus, der seine Serviette hinwarf und schleunigst fortstürzte. Sein Schwager fragte ihn schliesslich, ob er heute seinen Empfangsabend hätte.
»Nein, nur einige Bestellungen, sonst nichts«, stotterte er.
Als dann ein Packet gebracht wurde, welches er hastig öffnete, kamen die schwarzgeränderten Todesanzeigen zum Vorschein. Er wurde rot bis an die Ohren und schloss schleunigst den Umschlag, worauf er es in seine Brusttasche steckte.
Seine Mutter hatte es nicht bemerkt; sie heftete unausgesetzt ihre Augen auf ihre Uhr, deren vergoldetes Ballspiel auf dem Kaminsims sich hin- und herbewegte. Die Verlegenheit der ganzen Gesellschaft wurde immer grösser und gab sich in einem eisigen Schweigen kund.
Endlich wandte die Alte ihr runzeliges Hexen-Gesicht ihrer Tochter zu und sagte mit einem deutlichen Schimmer von Bosheit:
»Montag kannst Du mir ’mal Deine Kleine bringen; ich möchte sie sehen.«
»Gern, liebe Mama«, sagte Madame Braux mit strahlendem Gesicht, während Madame Caravan jr., die vor Angst verging, ganz bleich wurde.
Die beiden Männer fingen unterdessen allmählich doch zu plaudern an und begaben sich, in Ermangelung eines sonstigen Stoffes, auf das politische Gebiet. Braux, der die revolutionären und kommunistischen Ideen vertrat, geriet bald in Eifer; seine Augen glänzten unter den buschigen Brauen.
»Eigentum, Herr!« rief er, »ist ein Diebstahl an der Arbeit; -- Erbschaft ist eine Schmach und Schande! …«
Aber hier brach er plötzlich ab; er wurde verlegen, wie jemand, der gerade etwas recht Dummes gesagt hat.
»Aber ich dächte, es wäre jetzt nicht der Augenblick, um über solche Dinge zu streiten«, fügte er in verbindlicherem Tone hinzu.
Die Türe öffnete sich und der »Doktor« Chenet trat ein. Im ersten Augenblick war er sehr überrascht, aber er fasste sich schnell wieder und näherte sich der alten Frau.
»Ah, sieh da, die Mutter!« sagte er. »Es geht gut heute? Ja, ja, ich zweifelte keinen Augenblick und sagte, als ich die Treppe herunterging, zu mir selbst: Ich wette, sie kommt wieder hoch, die Großmutter.«
»Sie hält ebenso viel aus wie die Pont-Neuf«, fügte er hinzu, sie auf die Schulter klopfend. »Wir werden sehen, sie begräbt uns alle noch.«
Er setzte sich und schlürfte behaglich von dem dargebotenen Kaffee; dann mischte er sich in die Unterhaltung der beiden Männer, wobei er als alter Kommunard natürlich vollständig den Ansichten des Herrn Braux beipflichtete.
Die alte Frau fühlte sich müde und wünschte heraufzugehen. Caravan stürzte herbei, ihr seinen Arm zu geben. Da sah sie ihn fest an und sagte:
»Du, Du bringst mir sofort meine Kommode und meine Uhr wieder herauf.«
Während er hierzu ein verlegenes »Jawohl Mama!« stammelte, nahm sie den Arm ihrer Tochter und verschwand mit dieser.
Bestürzt und stumm, in heilloser Verwirrung, blieb das Ehepaar Caravan zurück, während Braux seinen Kaffee schlürfte und sich dazwischen behaglich die Hände rieb.
Plötzlich stürzte Madame Caravan, ausser sich vor Wut, auf ihn zu.
»Sie sind ein Dieb«, brüllte sie, »ein Lump, eine Kanaille … ich könnte Ihnen die Augen auskratzen … ich könnte Ihnen …« Ihre Stimme erstickte im Zorn, sie wusste keine Worte mehr zu finden; er dagegen lachte und trank munter weiter.
Dann, als seine Frau zurückkam, stürzte jene sich auf ihre Schwägerin, und alle beide überschütteten sich gegenseitig mit einer wahren Flut von Grobheiten. Es war ein komischer Anblick: die eine mit ihrem aufgetriebenen drohend hervorstehenden Leibe und der ganzen robusten Gestalt, die andere mit diesen schwächlichen, krankhaften Aussehen, klein und mager. Die Stimmen der beiden Frauen wurden kreischend, während ihre Hände vor Wut zitterten.
Chenet und Braux legten sich ins Mittel, letzterer griff seine bessere Hälfte bei den Schultern und schob sie zur Tür hinaus.
»Geh doch, Kamel!« sagte er, »Du schreist zu toll!«
Von der Strasse her vernahm man noch den Lärm, wie sie sich gegenseitig die schönsten Grobheiten sagten.
Auch Herr Chenet empfahl sich.
Das Ehepaar Caravan war nun wieder allein. Schliesslich warf sich der Gatte in einen Sessel und sagte, während der kalte Schweiß ihm von der Stirn rann:
»Was soll ich nun aber morgen meinem Chef sagen?«
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