Luis Suárez. Luca Caioli
Читать онлайн книгу.weiter: „Er hat uns gezeigt, wo man auf dem Platz hinlaufen muss, wie man mit dem Ball umgeht, wie man ihn erobert, wie man sich freiläuft, wie man einen Spielzug abschließt. Er hat uns eingebläut, dass Fußball ein Mannschaftssport ist und kein Einzelwettbewerb; dass man den Ball auch abspielen muss. Alles Dinge, die ein Kind nicht unbedingt weiß und sofort versteht. Er war ein toller Lehrer. Ohne seine Hilfe wären wir keine Profis geworden.“
Bevor er nach Trainingsende unter die Dusche ging, sinnierte Braian, den Ball zwischen den Füßen und ein Lächeln im Gesicht, noch einmal über seine ersten Fußballerjahre: „Das waren schöne Zeiten. Wir hatten einfach Spaß, und wir haben eine Menge gelernt. Wenn der Dezember vor der Tür stand und wir die Termine für die Mini-WM wussten, waren wir total aufgeregt. Alle wollten gewinnen und den Titel holen, beste Mannschaft und Torschützenkönig werden. Für uns war das einfach nur ein großes Fest.“
Über Luis sagte Braian: „Mein Vater war auch in der Armee, genau wie der von Luis. Er stand bei Deportivo Artigas im Tor. Als Kind habe ich zusammen mit Luis im Verein gespielt. Im Tor hat er gut gehalten, draußen war er schnell und ein Schlitzohr, genau wie sein Vater. Er konnte mit seiner Spielweise locker zwei oder drei Gegenspieler stehen lassen.“
Und weiter: „Gegen unsere Mannschaft hat keiner gewonnen. Keiner wollte gegen uns spielen. Etwas später, als Luis sieben Jahre alt war, ist er mit seiner Familie nach Montevideo gezogen. Noch ein paar Jahre später bin ich dann auch dorthin, weil ich bei Cerro angefangen habe. Viele Spieler aus Salto entwickeln sich dank der Kinderliga, der Bolzplätze und des Kickens auf der Straße super und träumen bald davon, nach Montevideo zu gehen, zu Nacional oder Peñarol. Und danach kommt vielleicht der große Sprung nach Europa. In eine andere Welt.“
1994 tat Rodolfo Suárez dann etwas, was eigentlich nur wenige tun: Er bat um seine Versetzung zu einem Infanteriebataillon in Montevideo. Nur Luis wollte nicht aus Salto weg. Niemand konnte ihn überzeugen, weder mit Zuckerbrot noch mit Peitsche. Also blieb er noch einen Monat bei seiner Tante, bevor er dann doch der Familie hinterherzog. Danach kam er nur noch gelegentlich nach Salto.
Heute ist Luis ganz auf Montevideo fixiert, anders als Cavani, der erst mit 16 Jahren nach Montevideo ging und bei jeder Gelegenheit wieder nach Salto kommt. Dann frönt er seinem Hobby – Angeln im Río Uruguay –, besucht die Familie, trifft sich mit Jugendfreunden und lädt seine Akkus wieder auf. Luis dagegen hat den Großteil seiner Jugend in Montevideo verbracht, dort leben seine Mutter, sein Vater und seine Geschwister. Auch Einladungen der Stadt Salto und seiner Grundschule hat er ausgeschlagen. Deshalb heißt es mitunter, er sei kein echter „Salteño“. Eigentlich aber ist es nur die klassische Geschichte von einem, der früh im Leben fortzog – er hat der Kindheit in Salto ganz einfach „adiós“ gesagt.
KAPITEL 3
Tapetenwechsel
Der Umzug nach Montevideo
Vom Norden in den Süden, von der Provinz in die Metropole zu ziehen, das tut man auf der Suche nach Arbeit, für einen Traum oder einfach, um seinem Leben eine neue Richtung zu geben. Den Weg aus Uruguays Hinterland in die Hauptstadt gehen viele Uruguayer, darunter auch die Familie Suárez Díaz.
Sie packten all ihr Hab und Gut auf einen Lastwagen, und zwei Tage später bestiegen Luis’ Mutter Sandra und die Kinder einen Bus, der sie entlang der Weiden mit grasenden Rindern in die Hauptstadt brachte. Dort wurden sie schon von Vater Rodolfo erwartet. Luis sollte eine Metropole kennenlernen, die heute Heimat von 1,4 Millionen Menschen ist, ungefähr 40 Prozent der Bevölkerung Uruguays.
Dort sah Luis auch zum ersten Mal den Río de la Plata, diese riesige, majestätische, ja schier endlose Wasserfläche, durch deren ockerfarbene Wellen riesige Containerschiffe schneiden, mit Kurs auf den Hafen oder den Atlantik. Das Ufer der Flussmündung verläuft entlang der gesamten Stadt und wird eingefasst von der Rambla, der Uferstraße. Sie verbindet die dort gelegenen Stadtviertel miteinander und führt an zahllosen Parkplätzen, Stränden und Hochhäusern vorbei, die steil über das Wasser ragen.
In der Ciudad Vieja, der Altstadt mit dem Hafen, umkreist die Rambla gewissermaßen die Avenida de 18 Julio, die wohl belebteste Geschäftsstraße Montevideos. Sie beginnt an der Plaza Independencia, am Übergang von der Neu- zur Altstadt. An dieser Stelle wurde 1928 der Palacio Salvo eröffnet, das damals höchste Gebäude Lateinamerikas, das nach Plänen des italienischen Architekten Mario Palanti errichtet wurde. Der exzentrische Bau ist das Wahrzeichen Montevideos und auf quasi allen Postkarten und Werbeprospekten der Stadt abgebildet. Ein berühmtes Schwarzweißfoto von 1934 etwa zeigt das deutsche Luftschiff „Graf Zeppelin“, wie es nur knapp über den 105 Meter hohen Turm hinwegschwebt.
Die Ciudad Vieja besticht durch wundervolle Gebäude aus einer Ära, in der Uruguay noch als die „Schweiz Südamerikas“ bekannt war, auch wenn sich hier längst der Zahn der Zeit bemerkbar macht. Das Viertel beherbergt außerdem den Seehafen, der nach langen Jahren des Niedergangs nun wieder auflebt (auch wenn er mit Buenos Aires nicht mithalten kann).
Ein paar Meter vom Hafen entfernt befindet sich der Mercado del Puerto, die Markthalle, die in den 1860er Jahren nach britischen Plänen entstanden ist und mit Liverpooler Stahl gebaute wurde. Vom Eingang des Marktes, der mit seinen vielen Grillständen wie ein einziges asado wirkt, fällt der Blick auf das Hauptquartier der Zollbehörde und der uruguayischen Marine. Das auffällige Gebäude würde von der Bauweise her auch gut nach Gotham City passen.
Die Familie Suárez Díaz zog ins Viertel La Blanqueada, in ein Haus an der Kreuzung von Calle Dr. Duvimioso Terra und Calle Nicaragua, zehn Autominuten von der Innenstadt entfernt. Das ganze Viertel ist komplett fußballverrückt. Etwas versteckt zwischen den flachen Häusern von La Blanqueada liegt nämlich das Estadio Gran Parque Central, in dem am 13. Juli 1930 vor 19.000 Zuschauern auch das erste WM-Spiel überhaupt stattfand: USA gegen Belgien, Endstand 3:0 für die Soccer Boys. Der Parque Central ist außerdem die Heimat von Nacional, zu dessen Fans auch Luis und seine Brüder gehören.
Nach dem Umzug von Salto nach Montevideo, aus der Provinz in die Großstadt, fiel es den Suárez-Kindern zunächst schwer, sich einzuleben. Sie hatten ihre Großeltern, ihre Onkels und Tanten, Cousins und Cousinen sowie ihre Freunde zurücklassen müssen. Und wie gewohnt von morgens bis abends auf den Straßen zu kicken, war in La Blanqueada auch nicht möglich.
Es war aber nicht nur die Metropole mit ihren Lichtern, dem Lärm, dem dichten Verkehr und den Abgasen oder auch der riesigen Flussmündung, auf die sie nicht vorbereitet waren – es war auch die Art der Einwohner. Die Montevideanos hänselten sie wegen ihres Dialektes, wie sie „mamá“ und „papá“ aussprachen, wegen ihrer Kleidung, ihrer ausgelatschten und aus der Mode gekommenen Schuhe und weil sie eben Landeier waren – aber auch, weil die Suárez-Kinder sich in der Mittagspause mit einem Stück Brot und Quittenpaste begnügen mussten, während die anderen torta frita oder anderes Back- und Naschwerk aus ihren Schultaschen holten.
„Wir waren eine Familie aus der Unterschicht, und wir waren eine große Familie. Luxus konnten wir uns nicht leisten“, betont auch Luis Suárez selbst immer wieder. „Ich habe meine Eltern nie gefragt, ob sie mir die Fußballschuhe kaufen können, die ich mir so sehr wünschte. Meine Eltern haben alles getan, was möglich war, und dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Aber sie konnten uns nicht jeden Wunsch erfüllen, nur das Allernotwendigste.“
Rodolfo Suárez schied bald aus der Armee aus und fing anschließend in einer Keksfabrik an. Sandra arbeitete als Putzfrau im Terminal Tres Cruces, dem zentralen Fernbusbahnhof Montevideos. Luis ging wie seine Brüder auf die Schule Nr. 171 in der Calle Nicaragua. Er mochte Mathe und hatte keine Probleme mit den Hausaufgaben. Wer weiß – vielleicht wäre er ein guter Buchhalter geworden, wenn es mit dem Profifußball nicht geklappt hätte. Die ersten Monate waren laut seiner Mutter trotzdem schwierig, weil Luis keinen Sinn in Multiplikationstabellen sah. Brauchte man ja nun mal nicht zum Toreschießen. Und Fußball liebte Luis eben über alles.
Luis’ erste Idole und Vorbilder kamen aus seiner Familie: Es waren sein Vater, der Rechtsverteidiger, und sein Bruder Paolo. Letzterer spielte damals für den Club Atlético Basáñez, 1994 und 1995 kurzzeitig Erstligist. Bei seinem Bruder schaute sich Luis