Und so was nennt ihr Liebe. Marie Louise Fischer

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Und so was nennt ihr Liebe - Marie Louise Fischer


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daß der Abstand zwischen ihnen gewahrt bleibt.

      »Reue allein«, sagt der Staatsanwalt, »nutzt wenig, da haben Sie vollkommen recht. Was wir alle hier von Ihnen erwarten, ist ehrliche Einsicht!«

      Ich hätte es verhindern müssen, denkt Senta Heinze, ich hätte mich mehr um ihn kümmern, ich hätte ihm Halt geben müssen! Aber hätte ich es gekonnt? Egal, wenn ich es überhaupt nur versucht hätte! Die bräunliche Haut über ihren hochstehenden Backenknochen strafft sich, ihre schwarzen, schräg stehenden Augen sind ganz schmal vor Erregung.

      »Ich habe gestanden, was wollen Sie denn noch von mir?« fährt Jürgen heftig auf.

      Aber der Staatsanwalt läßt sich nicht beirren. Als er sieht, wie es in diesem weißen, verzerrten Gesicht zuckt, stößt er nach: »Wann haben Sie die Tat zum ersten Mal geplant! Antworten Sie!«

      »Geplant?« wiederholt der Junge gedehnt. »Überhaupt nicht. Wie kommen Sie denn darauf? Sie wissen doch genau, daß ich es niemals vorhatte.«

      »Es ist bewiesen, daß Sie lange zuvor den Revolver aus dem Schreibtisch Ihres Vaters entwendet haben! Geben Sie nur zu, daß Sie es mit der vollen Absicht taten, Ihren Klassenkameraden zu töten!«

      »Nein!« Jürgen Molitor schreit es heraus. »Nein! Das ist nicht wahr!«

      Der Staatsanwalt beugt sich vor. »Warum haben Sie es getan? Warum? Seit zwei Tagen verhören wir jeden Menschen, der Sie und Ihr Opfer gekannt hat! Keiner hat uns ein einigermaßen plausibles Motiv für diese furchtbare Tat angeben können! Jetzt wollen wir es von Ihnen wissen! Warum haben Sie den jungen Mann getötet, den Sie selber Ihren besten Freund genannt haben?«

      Die Stille im Gerichtssaal wird atemlos, alle warten auf die entscheidende Antwort. Aber sie kommt nicht.

      »Wenn ich das wüßte«, sagt Jürgen tonlos und schlägt die geballten Fäuste gegeneinander, »wenn ich das nur wüßte! Ich kann mich nicht erinnern. Nur, daß er lachte … er lachte mich durch einen roten Nebel an! Und ich zielte, zog den Hahn durch. Es gab einen Knall. Dann lachte er nicht mehr. Sein Gesicht wurde ganz erstaunt. Er preßte die Hände auf den Magen. Und dann fiel er um.«

      »Sie geben also zu, daß Sie auf ihn gezielt haben?«

      »Ja«, sagt Jürgen Molitor leise, »ja, das habe ich. Ich wollte ihn töten. Ich … ich konnte sein Lachen nicht mehr ertragen.« – Er schlägt die Hände vor das Gesicht, senkt den Kopf, die blonden Haare fallen ihm in die Stirn, sein Körper bebt.

      Der Verteidiger springt auf. »Ich beantrage, den psychiatrischen Sachverständigen anzuhören!« Und als er merkt, daß Richter und Staatsanwalt noch zögern, fügt er in einem kollegialen und gleichzeitig beschwörenden Ton hinzu: »So kommen wir doch nicht weiter!«

      Nach kurzem Wortwechsel wird seinem Antrag stattgegeben. Der Psychiater, Prof. Dr. Josef Goldmann, wird hereingerufen. Er tritt ein, einen blauen Aktenhefter in der Hand. Er verbeugt sich leicht.

      »Hohes Gericht«, beginnt er, »bevor ich mein Gutachten abgebe, möchte ich vorausschicken, daß der Angeklagte Jürgen Molitor während seiner Untersuchungshaft über einen Monat lang in meiner Klinik zur psychiatrischen und psychologischen Untersuchung stationär war und daß ich mich während dieser Wochen täglich mit ihm beschäftigt habe. Ich glaube zu wissen, was in ihm vorgeht, was in ihm vorging, als er die Tat beging.«

      Professor Goldmann macht eine kleine Pause, schlägt den Aktenhefter auf, blättert darin. »Zuerst stand auch ich vor einem Rätsel. Ein junger Gymnasiast hat einen anderen Menschen getötet, anscheinend kaltblütig niedergeschossen. Dabei handelt es sich bei dem Täter keineswegs um einen Jungen aus asozialen oder zerrütteten Familienverhältnissen, nein, seine Familie ist intakt, eine ganz normale mitteleuropäische Durchschnittsfamilie. Der Vater hat es durch Fleiß und Strebsamkeit dahin gebracht, seinen Angehörigen einen gewissen Wohlstand zu schaffen. Die Mutter hat, noch bevor der heutige Angeklagte zur Welt kam, ihren beruflichen Ehrgeiz aufgegeben und seitdem nur für ihren Mann und ihre Kinder gelebt. Eine ideale Familie also, möchte es fast scheinen. Auch anlagemäßig ist der jugendliche Täter vollkommen normal, der Grad seiner Intelligenz entspricht seinem Alter, wenn auch eine gewisse Konzentrationsschwäche bemerkbar ist. Zweifellos befindet er sich körperlich und seelisch noch in dem schwierigen Stadium der Pubertät. Aber nichts deutet auf ein gestörtes Triebleben, nichts auch auf krankhafte Veranlagung. Ist er also für seine Tat voll verantwortlich zu machen?« Professor Goldmann legt eine kleine Pause ein, schlägt den Aktendeckel zu, den Zeigefinger zwischen zwei Seiten, sieht die Richter nacheinander durch die Gläser seiner randlosen Brille an. »Ja, und auch wieder nein. Eines steht fest, selbst wenn wir diese Frage bejahen, so können und dürfen wir ihm die Verantwortung auf keinen Fall allein zuschieben. Es stimmt, er hat in einer entscheidenden Situation seines Lebens versagt. Aber dazu wäre es niemals gekommen, wenn nicht seine Umwelt, wir alle, am meisten aber die Menschen, die ihm am nächsten standen, ebenfalls versagt hätten, denn nur so konnte es passieren, daß der jugendliche Täter in diese für ihn nicht mehr selbstverantwortlich zu bewältigende Situation geriet.«

      Er wendet sich dem Staatsanwalt zu, sagt kampfbereit: »Es ist falsch, das Motiv der Tat in einer Auseinandersetzung zwischen Jürgen Molitor und seinem Opfer zu suchen, in Rivalität, Eifersucht, einem jäh entflammten Streit, Reibereien irgendwelcher Art, nein, die Ursachen zur Tat liegen tiefer und … ganz woanders.«

      1.

      Es war Martina, die an diesem Sonntag den Funken ins Pulverfaß warf allerdings ohne jede böse Absicht und vor allen Dingen, ohne zu ahnen, daß sie eine Kettenreaktion auslösen würde.

      Die Familie Molitor hatte in dem großen, gemütlichen Zimmer ihrer Altbauwohnung in der Markgrafenstraße in Düsseldorf-Oberkassel friedlich bei einem sehr späten und sehr reichlichen Frühstück zusammengesessen. Noch etwas verdöst vom ungewohnt langen Schlaf und vom eintönigen Rauschen des Frühjahrsregens, der draußen niederging, hatten sie ausgiebig und ziemlich schweigsam gegessen. Nur Martina war mit fröhlichen kleinen Bemerkungen bemüht gewesen, für eine gute Stimmung zu sorgen.

      Als die Mutter aufstand, um den Tisch abzuräumen, war sie sofort zugesprungen. »Warte, Mutti, ich helfe dir!«

      Ihre Mutter hatte mit leichtem Erstaunen die Augenbrauen gehoben, denn sie war eine derartige Hilfsbereitschaft bei ihren Kindern keineswegs gewohnt. Aber sie enthielt sich jeden Kommentars, sagte nur: »Nett von dir.«

      Martina war in die Küche geeilt, mit dem großen Tablett wiedergekommen und hatte eifrig begonnen, es vollzustellen. Als sie es forttragen wollte, hatte es die Mutter ihr abgenommen, »Laß mich lieber!«

      Jürgen, in Manchesterhosen und Sporthemd, Sandalen an den bloßen Füßen, hatte sich vor den Radioapparat gehockt und an den verschiedenen Knöpfen herumgedreht. Aber außer kirchlichen Sendungen und klassischer Musik konnte er ihm nichts entlocken. »Immer derselbe Mist«, raunzte er, »ausgerechnet, wenn man mal Zeit hätte …«

      Der Vater hatte sich eine Zigarette angezündet, leerte seine Kaffeetasse, stand auf und ging zur Türe.

      Martina, die Pfeffer- und Salzstreuer in den Schrank geräumt hatte, war sofort alarmiert. »Was ist los, Papa?« rief sie. »Wo willst du hin?«

      »Mir eine Sonntagszeitung besorgen.«

      Sie holte ihn mit sanfter Gewalt zurück. »Komm, bleib sitzen. Du mußt nicht selbst gehen, bei dem Regen.« Damit bugsierte sie ihn in seinen Lieblingssessel. »Ich werde sie dir holen …«

      Helmuth Molitor sah mit einem kleinen, belustigten Zwinkern zu ihr auf. Es war ihm klar, daß sie etwas im Schilde führte. Aber es gefiel ihm, wie sie ihn umschmeichelte und dabei ihre strahlenden braunen Augen, die sie geschickt durch kühne Lidstriche optisch noch vergrößert hatte, auf kindlichste Weise aufriß, die Lippen zu einem Babymund schürzte. Er fand, daß sie alles in allem recht attraktiv sei, doch in seinen Stolz als Vater mischte sich leises Bedauern darüber, wie groß seine Kinder schon waren – beinahe schon erwachsen –, ein Bedauern, das er sich jedoch selber niemals eingestand.

      Er gab ihr zärtlich einen kleinen Klaps. »Ich


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