Und so was nennt ihr Liebe. Marie Louise Fischer

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Und so was nennt ihr Liebe - Marie Louise Fischer


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einzelnen Schüler einen Kommentar zur Arbeit und zur Benotung.

      Jürgens Magen krampfte sich zusammen, während er darauf wartete, an die Reihe zu kommen. Für ihn hing viel von dieser Klassenarbeit ab, unter Umständen Versetztwerden oder Hängenbleiben. Er war schwach in Latein, und wenn er in Mathematik diesmal auch auf ein Ungenügend kam … Er vergrub die Zähne in der Unterlippe, während er auf den Lehrer starrte.

      Dr. Opitz war ein schlanker Mann, der fast hager wirkte, weil er seine Anzüge aus Bequemlichkeitsgründen stets etwas zu groß wählte. Aber die Jungen, die ihn im Turnzeug kannten, wußten, daß diese schlotternde Kleidung einen sportlich durchtrainierten, fast jugendlichen Körper verbarg. Dr. Opitz hatte eine besondere Art, ernst und durchdringend zu blicken, auch wenn er lächelte – und zu lächeln, auch wenn er etwas recht Unangenehmes sagte. »Molitor!«

      Jürgen fuhr hoch, wollte nach vorne stürzen, beherrschte sich aber und schlenderte scheinbar gelassen zum Schreibtisch des Lehrers. Dr. Opitz hielt das Heft abwägend in der Hand, sah ihm durch seine leicht getönten Brillengläser entgegen. »Tut mir leid, Molitor, Sie haben auch diesmal daneben gehauen. Wie kaum anders zu erwarten war.«

      Es war sein Lächeln und sein Ton, der Jürgen rasend machte. »Na wenn schon«, sagte er aufsässig.

      »Ich sehe, Sie nehmen es leicht, Molitor. Nun ja, Sie waren an einer akademischen Laufbahn wohl ohnehin nie interessiert.«

      »Stimmt haargenau«, sagte Jürgen wild, »ich kann mir was Besseres vorstellen!«

      Dr. Opitz verlor nicht für eine Sekunde seine ironische Gelassenheit, wegen der er von seinen Schülern bewundert und gefürchtet wurde. »Was zum Beispiel?« fragte er. »Wollen Sie Ihrem Vater nacheifern und ins Bankfach einsteigen? Dazu müssen Sie aber rechnen können. Nein, ich sehe keine andere Karriere für Sie, denn als … Berufssportler! Wie wäre es damit? Dazu brauchen Sie nur Ihre Muskeln, und die sind ja soweit in Ordnung.«

      Einige Jungen lachten, und Jürgen fuhr herum. »Ihr habt’s gerade nötig!« fauchte er. »Ihr!«

      Dr. Opitz hob abwehrend die Hände. »Nicht handgreiflich werden, Molitor, bitte nicht! Sparen Sie Ihre Kräfte für später, bei uns am Gymnasium wird man dafür nicht bezahlt.«

      Jürgen riß das Heft an sich, drehte sich um und stapfte auf seinen Platz zurück. Er knallte es auf seinen Arbeitstisch, ließ sich auf seinen Stuhl fallen, stemmte die Ellbogen auf, stützte das Kinn in die Hände, starrte blicklos vor sich hin und versuchte, sich zu beruhigen.

      »Sie sollten sich Ihre Arbeit ruhig einmal ansehen«, stichelte Dr. Opitz, »es lohnt sich, wenn vielleicht auch nur zur Abschreckung. Lassen Sie sich von den roten Strichen nicht irritieren, es handelt sich um die Spuren meiner unzulänglichen Bemühungen, Ihre Fehler zu verbessern.«

      »Wenn du jetzt nicht sofort die Schnauze hältst«, murmelte Jürgen, »bringe ich dich um!«

      Dr. Opitz hatte schon den nächsten Schüler aufgerufen, er wurde dennoch aufmerksam. »Haben Sie etwas gesagt, Molitor?«

      Jürgen biß die Zähne aufeinander, seine Wangenmuskeln arbeiteten.

      »Nein?« fragte Dr. Opitz freundlich. »Dann muß ich mich getäuscht haben. Wenn ich Ihnen dennoch einen unmaßgeblichen Rat geben darf: bereiten Sie Ihre Eltern darauf vor, daß Ihre Versetzung gefährdet ist. Es wäre schlecht, wenn der blaue Brief sie völlig überraschend träfe. Vielleicht nehmen sie die Sache nicht ganz so leicht wie Sie selbst.«

      Als sie nach Schulschluß nebeneinander die breite Treppe hinuntergingen, sagte Gerd: »Ehrlich, Jürgen, ich verstehe dich nicht! Daß du immer wieder auf die öden Witze von Opitz hereinfällst. Der legt es doch nur darauf an, einen hochzunehmen. Das solltest du doch inzwischen wissen.«

      »Weiß ich auch. Ich bin ja kein Idiot. Ich hatte einfach eine Wut im Bauch.«

      »Na und?«

      »Wenn ich hängenbleibe … du ahnst ja nicht, was das zu Hause für ein Theater gibt. Dann bin ich bei meinem Vater vollkommen unten durch.«

      Sie waren auf dem Hof bei Gerd Singers rotem Sportauto angekommen. Er schloß die Türe auf. »Macht dir das was aus?«

      Jürgen flankte über die andere Türe, plumpste auf den Sitz.

      »Angenehm wäre es mir jedenfalls nicht.«

      Der Freund ließ den Motor an. »Bürgerliche Vorurteile. Sieh mich an, ich bin schon zweimal sitzengeblieben, aber das kann mich nicht erschüttern.«

      »Wenn du’s diesmal nicht schaffst, mußt du von der Schule.«

      »Kann mir nicht passieren. Meine Regierung hat einen erheblichen Batzen für neue Geräte in der Turnhalle gestiftet. Da getrauen sie sich nicht mehr, mich backen zu lassen.«

      »Ach so«, sagte Jürgen verwirrt.

      Gerd steuerte durch das Tor. »Mit Geld, mein Sohn, schafft man alles. Geld haben ist besser als Genie.«

      »Eigentlich ist das doch eine ganz große Gemeinheit!«

      »Ist es, alter Junge, ist es. Es geht auf dieser Welt nicht gerecht zu, das erwarten nur die Kinder. Fang endlich an, die Menschen so zu sehen, wie sie sind!«

      Gerd fuhr nicht geradewegs nach Oberkassel, sondern schlug einen Umweg ein. Er gönnte sich und seinem Freund das Vergnügen, gemächlich, vom Graf-Adolf-Platz her, die Königsallee hinunter zu fahren. Die Kastanien hatten schon dicke Knospen, und einige Cafés hatten bereits Tische und Stühle ins Freie gestellt. An den Schaufenstern vorbei flanierten modisch gekleidete Frauen und Mädchen.

      Gerd blickte ihnen nach und pfiff durch die Zähne. »Sollen wir uns zwei aufreißen?« fragte er.

      »Doch nicht jetzt«, sagte Jürgen, »ich muß nach Hause.«

      »Weiß schon: Mutti wartet mit der Suppe!«

      »Jeder hat’s eben nicht so gut wie du!«

      »Bist du sicher, daß ich es so gut habe?« fragte er überraschen ernst.

      »Na, du hast jedenfalls deine Freiheit.«

      »Aber mehr auch nicht.« Gerd wechselte auffallend eilig das Thema. »Wie ist das jetzt, soll ich dich heute nachmittag zum Schießen abholen? Ja oder nein?«

      »Aber sicher«, sagte Jürgen, »warum denn nicht?«

      Als Jürgen am frühen Nachmittag mit zum Grafenberger Wald hinausfuhr, war ihm denkbar unbehaglich zumute. Ihm lag gar nichts an der ganzen Schießerei, er war nur mitgekommen, weil er fürchtete, sich durch eine Absage eine Blöße zu geben, und weil es ihn reizte, etwas zu tun, was die Eltern, die Lehrer und all diese verdammten überheblichen Erwachsenen bestimmt schockieren würde. Aber während sie die Stadt durchquerten, stand er Todesängste aus, sie könnten in einen Unfall verwickelt werden und man würde die Pistole bei ihnen entdecken.

      Doch auch diese Angst hatte einen gewissen prickelnden Reiz, und als sie unbeschadet den Wald erreichten, kam das erhebende Gefühl dazu, allen Aufpassern ein Schnippchen geschlagen zu haben. Die Suche nach einem für die geplanten Schießübungen geeigneten Platz war aufregender als das Indianerspiel längst vergangener Kindertage.

      Gerd fuhr das Auto in eine Schneise, und sie gingen zu Fuß weiter. Jürgen trug ein paar alte Blumentöpfe, die der Freund von zu Hause mitgenommen hatte. Sie arbeiteten sich zu einer kleinen Lichtung durch, die dicht von Tannen und Unterholz umgeben war, und Gerd erklärte, hier sei es richtig. Er wies Jürgen an, einen der Tontöpfe auf die Spitze einer jungen, etwa zwei Meter hohen Tanne zu setzen. Dann spannte er den Hahn, während Jürgen sich in Sicherheit brachte.

      Es gab einen betäubenden Knall. Der Blumentopf fiel von der Tanne. Jürgen rannte hin. Ein Stück war herausgesplittert.

      »Streifschuß!« rief er und steckte den Topf wieder auf.

      »Es ist gar nicht so einfach«, gestand Gerd, »das reißt einem ja fast den Arm weg. Willst du mal?«

      Jürgen


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