Anne nimmt alle Hürden. Lise Gast
Читать онлайн книгу.will unter sich sein. Ich begrüße noch die Gäste, und spätestens halb zwölf sind wir zurück. Das genügt. Dann wird noch ein wenig weitergefeiert, und wir beide tanzen ein-, zweimal herum, du mit Bava und ich mit Harm.“ Mutter tanzte sehr gern. Herr Birkner sah sie misstrauisch an.
„Muss ich das?“
„Du musst nicht, aber du wirst bestimmt gern wollen“, hatte sie das Gespräch geschickt und diplomatisch beendet, „und nun sag schon ja. Ich jedenfalls freu mich auf die ‚Fledermaus‘.“
Das tat sie wirklich, auch heute wieder, als sie sich in Windeseile umzog. Im Flur traf sie auf neu hereinströmende Gäste. Sie kannte und duzte alle Freunde ihrer Kinder. „Jaja, ich komme wieder. Ich bleibe euch nicht erspart!“, rief sie und entwand sich männlichen Armen, die sich kühn um sie zu schlingen versuchten. „Ihr wisst ja, dass ich gehe, da ist es leicht, mutig zu tun.“ Hinaus war sie. Die jungen Leute lachten.
„Frau Birkner ist in Ordnung!“
Das Motto dieses Faschingsabends hieß: „Du und ich in fünfzehn Jahren.“ Zwar fanden alle jugendlichen Gäste, dass sie nach Ablauf dieser unendlich langen Zeitspanne eigentlich schon uralt und sozusagen nicht mehr zu rechnen seien, aber man schwelgte trotzdem in Wunschträumen. Jeder hatte Berufspläne, die jetzt für ein paar Abendstunden Wahrheit werden sollten, und wenn es auch nur das Kostüm war.
Zunächst aber stürzten sich Chirurgen und Marsreisende, Lebedamen und Nobelpreisträger auf den Heringssalat, denn die meisten von ihnen waren Studenten und demnach chronisch hungrig, zumal jetzt gegen Ende des Semesters. Anne und Bava schleppten noch zwei große Holzteller voll Anschovis- und Käsebrötchen heran – einen dritten ließen sie vorsichtshalber versteckt in der Speisekammer –, und Harm füllte die Bowlengläser. Ehe aber der erste Schluck getrunken war, klingelte es, und Anne stürzte zur Tür. Ihr war im selben Augenblick eingefallen, dass ja Margot, ihr „Blutsbruder“ aus frühen Indianerspielen des Landlebens, noch fehlte. Richtig, sie war es.
Und ihr Erscheinen erweckte allgemeines begeistertes Bravo. Denn sie hatte, uneitel, wie sie war, als einzige der Damen gewagt, nicht auf hübsch, sondern auf komisch zu kommen. Jungen taten das eher, Mädel fast nie, was ja begreiflich ist.
Schon an sich nicht schlank, hatte sie die Breite ihrer Hüften noch übertrieben, „untermauert“, wie sie sagte, ein bäuerliches Kleid darüber gezerrt und ihr rotbackiges Gesicht mit einem knallbunten Kopftuch eingerahmt. Bäuerin – wer wollte heutzutage wohl noch Bäuerin sein? Margot. Unter einem Arm trug sie eine lebendige Gans, unter dem andern – kein Wunder, dass alles brüllte – ein ebenso lebendiges Ferkel.
„Deshalb komm ich ja so spät“, japste sie, „das Ferkel ist mir in der Straßenbahn ausgerückt. So ein Ferkel! Klar, ich hatte es in einer Kiste, aber ein Mitfahrender wollte unbedingt reingucken, und da musste ich auch noch nachzahlen!“
Margot stammte aus dem Dorf, in dem der Großvater der Birkner-Kinder, Muttis Vater, Arzt war. Dort hatte Anne drei unvergessliche Jahre ihrer Kindheit verlebt. Aus einem sechswöchigen Aufenthalt war so eine lange Zeit geworden. Anlass dazu war eine simple Grippe mit hartnäckigem Husten. Erfolg: eine solch wertbeständige Freundschaft wie die mit Margot und eine immer währende, nicht auszukurierende Sehnsucht nach dem Land.
Margot brachte sofort noch mehr Leben in die Bude. Sie ließ das Ferkel laufen und die Gans flattern. Allgemeines Gekreisch, das der Gäste aus Vergnügen, das der Gastgeber doch etwas erschrocken.
„Gut, dass Vater nicht da ist.“ Sogar Anne war nicht ganz wohl in ihrer Haut. Alles aber erwies sich als halb so wild. Das Ferkel kam in die Badewanne, die mit Holzwolle gepolstert einen schönen Behelfsstall abgab, und die Gans –
„Der hab ich eine Windelhose angezogen. Aus Billroth-Batist. Da kann nichts passieren“, beruhigte Margot und schob sich an den Tisch heran, „wie ist das, kriegt man hier was zu futtern?“
Als die Eltern Birkner kurz nach Mitternacht heimkamen, lief das Fest in vollen Touren. Der Plattenspieler dudelte, und im Jungenzimmer, zu diesem Zweck ausgeräumt und wild dekoriert, hopsten die Rock’n’Roll-Tänzer und -Tänzerinnen hin und her, dass man selbst Lust bekam, mitzumachen. Der Marsmensch hatte längst die unbequemen Umhüllungen abgeworfen und brachte der kleinen Lebedame, deren Backen ohne Schminke roter glühten als seine angemalte Nase, die ersten Tanzschritte bei. Anne und Margot hockten, in ein eifriges Geflüster vertieft, auf der Kinderbank im Flur. Die Bowle war noch nicht zur Hälfte ausgetrunken, man hatte anscheinend keine Zeit dazu. Auch geraucht wurde wenig, die meisten der jungen Leute waren entweder Sportler oder Nichtraucher von Natur oder aus Prinzip.
Groß war das Beifallsgeheul, als Frau Birkner jetzt, rasch aus Mantel und Hut geschält, mit Kaffee und Kuchen aufwartete. Anne und Margot waren aufgesprungen und reichten Tassen und Teller herum. Im Nu hatte sich alles um die große Kanne versammelt. Da der Tisch hinausgeräumt war, balancierte man Tasse und Kuchen mehr oder weniger geschickt in den Händen.
„Ihr Kuchen ist ein lyrisches Gedicht“, versicherte der Zirkusdirektor und machte kugelrunde Augen, während er ein unwahrscheinlich großes Stück in den Mund verfrachtete. Er konnte trotzdem weitersprechen. „Ich werde ihn zeit meines Lebens rühmen und nie vergessen, Frau Birkner!“
Mutter lachte.
„Bitte, Herr Birkner, Sie müssen auch eine Tasse trinken“, bat Margot und lief, um eine zu holen, als sie Annes Vater etwas unschlüssig an der Tür zum Jungenzimmer entdeckte. Alle Türen standen offen, das Fest wogte durch alle Räume. „Und hier, ein Stück Bienenstich, bitte, versuchen Sie doch mal!“
„Einen Moment, ich möchte mir erst die Hände waschen.“ Vater Birkner verschwand hinter der Badezimmertür. Margot, plötzlich an ihr lebendiges Requisit denkend, ließ vor Schreck beinah ihre Tasse fallen. „Was wird er jetzt sagen!“
Er sagte nicht viel. Dazu war die Stunde nicht angetan und die Fröhlichkeit zu groß und zu mitreißend. Und Margot erklärte wortreich, dass sie, sie allein schuld sei. Sie kannte Annes Vater.
Nein, er verdarb keine Stimmung. Es wurde fröhlich weitergefeiert, und als die andern gingen, blieb Margot noch da, räumte mit den Geschwistern das Nötigste zusammen, um später auf dem zerlegenen Diwan im Schwesternzimmer zu nächtigen. So war es immer, weil sie so weit entfernt wohnte. Auch Anne blieb stets bei ihr über Nacht, wenn sie dort zu Besuch war.
Am andern Vormittag gab es ein großes Katerfrühstück, es war Sonntag, die Sonne schien, und das ganze Fest wurde noch einmal erzählender- und lachenderweise mit vielen „Weißt-du-nochs“ durchgenommen.
„Ungeschminkt gefallt ihr mir besser“, sagte Herr Birkner und sah Töchter und Söhne der Reihe nach an, auch Margot. „Aber es gehört ja wohl dazu. Früher hatten wir allerdings immer ein Motto bei solchen Festen. Das gibt’s wohl jetzt nicht mehr?“
„Doch! Unseres hieß: Du und ich in fünfzehn Jahren!“, sagte Margot und biss in eine Gewürzgurke. „Ich hoffe nur, in fünfzehn Jahren nicht ganz so dick zu sein wie gestern.“
„Aber euer Gut bewirtschaften, das möchtest du doch“, sagte Harm vergnügt. „Mach dir keine Sorgen, so eine richtige dicke Doppelschulzin ist auch was wert!“
„Danke. Ich wollte nur, dass ihr alle günstig abstecht mit euren Figuren, daher nahm ich das Opfer auf mich.“
„Sicher! Nur!“
„Und du, Anne? Was bedeutete dein Kostüm?“, fragte der Vater. „Turnierreiterin? Eine zweite Helga Köhler?“
Anne wurde rot, so sehr sie es zu verhindern suchte.
„Nein. Nur Reitlehrerin“, sagte sie halblaut. Und damit war die Fackel im Pulverfass.
Übrigens – zur Explosion kam es nicht. In dieser Stunde nicht. Frau Birkner stand, wie ach so oft, als wachsamer Hellebardier Posten. Sie beruhigte und glich aus, verstand, das Thema zu wechseln und den Zorn ihres Mannes zunächst abzufangen. Trotzdem merkten alle die Gefahr, auch Margot. „Au backe, das rauchte“, sagte sie nachher zu Anne, als sie im Mädelzimmer stand und ihren Koffer packte. „Ich hatte mehr