Neymar. Luca Caioli

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Neymar - Luca Caioli


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bauen. Seine Mutter war Carlota Fox, eine Brasilianerin mit englischen Vorfahren. Mit neun Jahren wurde Charlie, wie es in vornehmen Kreisen üblich war, auf die Schule nach England geschickt. Zunächst besuchte er die Banister Court School in Southampton, bevor er auf die höhere Schule in Hampshire ging.

      Banister war eine kleine, von Reverend George Ellaby gegründete Privatschule für die Söhne der Schiffskapitäne der Peninsular Steam Navigation Company. Der Direktor zu Millers Zeit war Christopher Ellaby, der Sohn des Reverends. Christopher Ellaby war ein begeisterter Anhänger des Fußballspiels. In England hatte der Fußball dank der am 26. Oktober 1863 gegründeten Football Association bereits ein offizielles Regelwerk. Als erster Verband überhaupt hatte die FA die Richtlinien des Spiels formuliert. Ellaby war während seiner Zeit in Oxford Kapitän der Collegemannschaft gewesen und gab nun seine Fußballbegeisterung an seine Zöglinge weiter.

      Charlie Miller war ein tüchtiger Athlet und wurde schon bald Spielführer seiner Schulmannschaft. Wegen seines Milchgesichts und seines schmächtigen Körperbaus verpassten seine Mitspieler ihm den Spitznamen „Nipper“, zu Deutsch in etwa „kleiner Knirps“. Trotz seiner Statur war er ein hervorragender Mittelstürmer, wenngleich er manchmal auch Linksaußen spielte. „Er ist unser bester Angreifer. Er ist schnell, seine Dribblings sind exzellent, und er hat einen strammen Schuss. Tore schießt er außerdem mit großer Leichtigkeit“, hieß es in seinem Zeugnis.

      41 Tore in 34 Spielen für Banister Court sowie drei Tore in 13 Spielen für die St. Mary’s Church of England Young Men’s Association, aus der später der heutige Erstligist FC Southampton hervorging, belegten seine Treffsicherheit. Millers Spielweise war leichtfüßig und schlitzohrig. Er war überaus einfallsreich, hatte eine großartige Ballkontrolle und eine Vorliebe für geschickte Finten, mit denen er seine Gegner verblüffte. Mit 17 erhielt er ein Angebot des Corinthian Football Club aus London, der Spieler aus Schulen und Universitäten in ganz England rekrutierte, um der Übermacht schottischer Teams zu begegnen. Jahre später diente Corinthian, auf Millers Anregung hin, als Vorbild für einen der berühmtesten Klubs aus São Paulo: die Corinthians.

      1894 kehrte Charlie nach abgeschlossener Ausbildung nach Brasilien zurück. Im Gepäck hatte er zwei in Liverpool hergestellte Fußbälle, die er von einem Mitspieler geschenkt bekommen hatte, dazu eine Luftpumpe, ein Paar Fußballschuhe, zwei Trikots (eins von Banister und eins von St. Mary’s) sowie einen dicken Wälzer mit dem Regelwerk der Football Association. Angeblich soll Charlie sogar auf der Heimreise trainiert haben. Dabei soll er ständig das Schiffsdeck rauf- und runtergedribbelt sein, um Passagiere und andere Hindernisse herum. Am 18. Februar kam Charlie in Santos an, und als sein Vater ihn fragte, was er aus England mitgebracht habe, sagte er: „Meinen Abschluss. Dein Sohn hat seine Ausbildung zum Fußballer mit Auszeichnung bestanden.“

      Der 21-jährige Anglobrasilianer begann wie sein Vater für die São Paulo Railway Company zu arbeiten und schloss sich dem São Paulo Athletic Club an, der im Mai 1888 von der britischen Gemeinde gegründet worden war. Die Mitglieder spielten allerdings lieber Cricket als Fußball. Sie wussten zwar, wie das Spiel funktionierte, aber niemand interessierte sich dafür – bis Charles Miller sie mit den Grundlagen vertraut machte.

      Freunden, Kollegen und hohen Beamten der Gaswerke, der Bank of London und der Bahngesellschaft erklärte er die Regeln sowie einschlägige Begriffe wie „Halbzeit“, „Ecke“ und „Strafstoß“. So konnte er nach und nach eine Reihe von Anhängern gewinnen. Er überredete sie, auf einem Platz im Stadtteil Várzea do Carmo, zwischen den Vierteln Luz und Bom Retiro, in der heutigen Rua do Gasômetro, zu trainieren. Viele Leute beobachteten neugierig, was auf dem Platz vor sich ging. Nur wenig später schrieb Celso de Araújo in einem Brief an seinen Freund, den Journalisten Alcindo Guanabara aus Rio de Janeiro: „In der Nähe von Bom Retiro gibt es einen Haufen Engländer, Verrückte, wie es nur Engländer sein können, die etwas herumtreten, das wie die Blase einer Kuh aussieht. Es scheint, dass ihnen dieses Ding große Freude bereitet, aber auch großen Kummer, wenn dieser merkwürdige gelbliche Sack in ein Rechteck aus hölzernen Stangen befördert wird.“

      Allen Skeptikern zum Trotz begann der Fußball unter den Gentlemen der britischen Gemeinde Fuß zu fassen, und Miller gelang es schließlich, für den 14. April 1895 ein Spiel zu organisieren. In Várzea do Carmo trafen zwei Mannschaften aus Brasilianern und Engländern aufeinander: die São Paulo Railway und die Companhia de Gás. Angeführt von Miller, der zwei Tore erzielte, besiegten die Eisenbahner die Gaswerke mit 4:2. Es waren nur wenige Zuschauer da: Freunde, leitende Angestellte und Arbeiter, dazu ein paar Esel, die in der Nähe grasten. Das war aber nebensächlich, denn es war das erste offizielle Fußballspiel in Brasilien und damit die Geburtsstunde des brasilianischen Nationalsports.

      Zwar hatten schon vor Charlies Rückkehr nach Brasilien die Arbeiter englischer Firmen und britische Seeleute zwischen 1875 und 1890 in den Straßen und an den Stränden von Rio Fußball gespielt, einmal sogar vor der Residenz von Prinzessin Isabella, die das brasilianische Kaiserreich im Namen ihres Vaters Dom Pedro II. regierte. Und es ist richtig, dass der Jesuitenpater José Montero am São Luis College von Itu ein Spiel namens bate bolão einführte, das von Professoren und Schülern betrieben wurde, so wie sie es in Eton zu tun pflegten. Es ist außerdem wahr, dass Spiele wie ballon anglais an verschiedenen kirchlichen und nichtkirchlichen Instituten in São Paulo, Rio de Janeiro und Rio Grande do Sul ausgeübt wurden. Aber für die Brasilianer war Charles Miller O pai do futebol, der Vater des Fußballs, denn er organisierte nicht nur das erste historische Match, sondern rief auch die Fußballabteilung des São Paulo Athletic Club ins Leben. Außerdem hatte er entscheidenden Anteil an der Gründung der ersten brasilianischen Fußballvereinigung am 14. Dezember 1901, der Liga Paulista de Futebol, aus der ein Jahr später die erste Liga des Landes hervorging.

      Am 3. Mai 1902 nahm die Liga mit fünf Mannschaften (São Paulo Athletic Club, Associação Atlética Mackenzie College, Sport Club Internacional, Sport Club Germânia und Club Athletico Paulistano) den Betrieb auf. SPAC (São Paulo Athletic Club) dominierte die ersten drei Spielzeiten. Die Spielkleidung des Vereins bestand aus hellblau und weiß gestreiften oder rein weißen Trikots, dazu schwarze Hosen und schwarze Stutzen. Mit zehn Toren in neun Spielen war Charles Miller Torschützenkönig der Saison 1902, im Finale erzielte er beide Treffer beim 2:1 gegen Paulistano. 1903 konnte SPAC den Titel mit einem erneuten Finalsieg gegen Paulistano verteidigen. Auch im Jahr darauf war SPAC siegreich, und Charlie war mit neun Treffern gemeinsam mit seinem Teamkollegen Boyes erneut erfolgreichster Torschütze.

      Miller spielte bis 1910 beim SPAC. Da war der Fußball in Brasilien bereits nicht mehr nur das Spiel der urbanen weißen Elite, die den Sport als Symbol des modernen Europas ansah, sondern wurde auch von den unteren Klassen betrieben. Für sie war der Sport auch ein Mittel, um sich auszudrücken, was ihnen in anderen sozialen Umfeldern nicht möglich war.

      Wie populär der Fußball schon damals in Brasilien war, zeigte auch die Tournee des Corinthian Football Club of London. Die Fußballer aus England trafen am 21. August 1910 mit der SS Amazon in Brasilien ein. Sie absolvierten drei Spiele gegen Fluminense und zwei weitere Teams, die sie alle deutlich gewannen. Dann fuhren sie nach São Paulo, um gegen Palmeiras, Paulistano und am 4. September gegen SPAC anzutreten. Es war eines der letzten Spiele des 36-jährigen Charles Miller. Die Engländer schlugen SPAC vernichtend mit 8:2. Auch in den anderen Partien hatten sie viele Tore erzielt. „Wir haben nichts anderes erwartet; jeder weiß, dass Corinthian auf technisch hohem Niveau spielt, wohingegen wir, fußballerisch gesehen, noch blutige Anfänger sind“, schrieb der Journalist Adriano Neiva da Motta e Silva, besser bekannt als De Vaney.

      Der Besuch der englischen Mannschaft erregte großes Interesse in der Öffentlichkeit. In den Zeitungen wurde über ihre Ankunft berichtet, vorm Hotel Majestic warteten Menschenmengen auf die Fußballer, und das Velodrom, wo die Spiele stattfanden, war restlos ausverkauft. „Die Zuschauer zollten jeder gelungenen Aktion Beifall, und die Luft war von französischem Parfum erfüllt. Sie waren etwas Besonderes, diese Spiele von Corinthian“, schrieben die Zeitungen in São Paulo.

      1910 hing Charles Miller die Fußballschuhe an den Nagel und widmete sich ganz seiner Arbeit bei der Royal Mail Line, einer Reederei mit Sitz in England. Jahre später baute er sein eigenes Reiseunternehmen auf und fungierte gleichzeitig als englischer Vizekonsul. Er heiratete


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