Die schönsten Kinderbücher (Illustriert). Гарриет Бичер-Стоу

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Die schönsten Kinderbücher (Illustriert) - Гарриет Бичер-Стоу


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      "In einer Viertelstunde wird es voll schlagen", erwiderte der Mann, ihr mit der Laterne ins Gesicht leuchtend.

      "Vor einer Stunde kann ich nicht dort sein", flüsterte Nancy und rannte eilig die Straße hinunter. Sie jagte auf dem schmalen Pflaster nur so dahin, stieß rücksichtslos die Vorübergehenden in ihrem tollen Lauf an und drängte sich mit Gewalt durch Haufen von Menschen, die ihr im Wege waren.

      Es war elf Uhr abends, als sie sich dem Orte ihrer Bestimmung näherte. Dieser war ein Haus in einer ruhigen, aber schönen Straße unweit des Hydeparks. Mit einem raschen Entschlusse trat sie in den Hausflur. Die Pförtnerstube war leer. Sie blickte unsicher umher und ging auf die Treppe zu.

      "Nun, junge Frau", rief ein adrett gekleidetes Dienstmädchen aus einer Tür ihr zu, "zu wem wollen Sie denn?"

      "Zu einer Dame, die in diesem Hause wohnt", antwortete Nancy.

      "Zu einer Dame?" fragte das Mädchen und musterte Nancy unverschämt von oben bis unten. "Bitte, zu welcher Dame?"

      "Zu Fräulein Maylie!"

      Das Dienstmädchen forderte nun einen Diener auf, Nancy die nötige Auskunft zu geben, worauf sich dieser das Gesuch vortragen ließ.

      "Wen soll ich melden?" fragte er.

      "Der Name tut nichts zur Sache!"

      "Und was ist Ihr Anliegen?" fuhr der Bediente fort.

      "Das kommt auch nicht in Betracht. Ich muß die Dame selbst sprechen!"

      "Da wird nichts draus", damit schob er sie zur Haustür. "Scheren Sie sich weg!"

      "Man kann mich nur mit Gewalt hinausbringen, und dazu dürften wohl zwei wie Sie nötig sein", schrie Nancy laut. "Ist denn keiner hier", sagte sie, sich umblickend, "der für ein armes Mädchen eine einfache Botschaft ausrichten will?"

      Das machte auf einen gutmütigen Koch, der mit der anderen Dienerschaft dem Auftritte zusah, Eindruck, und er legte sich ins Mittel.

      "Weißt du, Joe, tue ihr doch den Gefallen."

      "Hat doch keinen Zweck!" versetzte der Bediente. "Die junge Dame wird doch solche Person nicht annehmen. Das glaubst du wohl selbst nicht!"

      Diese Anspielung auf Nancys zweideutiges Aussehen weckte ein gewaltiges Maß tugendhafter Entrüstung in den Herzen der vier Dienstmädchen. Sie erklärten mit großer Geschwätzigkeit, dieses Geschöpf sei eine Schande ihres Geschlechts, und man könne nichts Besseres tun, als sie ohne Gnade auf die Straße zu setzen.

      "Fangt mit mir an, was ihr wollt", sagte Nancy zu den Männern, "aber tut zuerst, um was ich euch bat. Um Gottes willen, richtet meine Botschaft an die junge Dame aus."

      Der gutmütige Koch unterstützte ihre Bitte und erreichte damit, daß der zuerst erschienene Diener die Meldung übernahm.

      "Also was soll ich der Herrschaft sagen?" fragte er, mit einem Fuß auf der Treppe.

      "Daß ein junges Mädchen dringend um eine Unterredung mit Fräulein Maylie unter vier Augen bittet. Die Dame wird nach meinen ersten Worten schon urteilen können, ob sie mich weiter anhören will oder mich hinauswerfen lassen muß."

      "Ich meine, das ist ein starkes Stück", sagte einer der Diener.

      "Richten Sie das aus", versetzte Nancy bestimmt, "und lassen Sie mich die Antwort wissen."

      Der Diener eilte die Treppe hinauf. Nancy stand bleich und mit zuckenden Lippen da, als dauernd abfällige Bemerkungen über sie, in denen die züchtigen Dienstmädchen sich gar nicht genugtun konnten, an ihr Ohr drangen. Ihre Beklommenheit nahm noch zu, als der Diener zurückkam und ihr sagte, sie möge hinaufgehen.

      "Was hat man eigentlich in der Welt davon, wenn man anständig bleibt?" meinte das eine Dienstmädchen.

      "Messing gilt mehr als das im Feuer erprobte Gold", sagte das zweite.

      Das dritte begnügte sich mit der Frage, aus welchem besseren Stoffe wohl Damen sein mögen.

      Und das vierte übernahm den Sopran in dem harmonischen Quartett: "Es ist 'ne Sünd' und Schande", womit die vier keuschen Dianen schlossen.

      Ohne auf diese Redensarten zu achten – denn sie hatte wichtigere Dinge auf dem Herzen –, folgte Nancy mit zitternden Knien dem Diener in ein kleines, durch eine Hängelampe erleuchtetes Zimmer. Hier verschwand er, und sie blieb allein.

      Vierzigstes Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

       Eine denkwürdige Zusammenkunft, die gewissermaßen die Fortsetzung des vorigen Kapitels ist

      Nancy hatte ihr Leben lang auf den Straßen der Hauptstadt und in den scheußlichsten Lasterhöhlen zugebracht, aber trotzdem hatte sie sich einen Rest von der Natur des Weibes bewahrt. Als sie hinter der Tür leichte sich nähernde Schritte vernahm und des großen Gegensatzes gedachte, den das kleine Gemach im nächsten Augenblick umschließen sollte, da fühlte sie sich von dem Gewicht ihrer eigenen tiefen Erniedrigung fast zu Boden gedrückt. Sie schrak zusammen, als könne sie die Gegenwart der Dame, die sie so dringend zu sprechen verlangt hatte, kaum ertragen.

      Doch gegen diese besseren Gefühle kämpft der Stolz – eine Eigenschaft, die die niedrigsten und verworfensten Geschöpfe mit den Höchststehenden und sich ihres Wertes Bewußten gemein haben. Die elende Genossin von Dieben und Halunken aller Art, die tiefgesunkene Bewohnerin der gemeinsten Schlupfwinkel, die Verbündete des Auswurfs der Zuchthäuser und Galeeren, die bildlich gesprochen mit dem Strick des Henkers um den Hals lebte – selbst dieses so tief herabgewürdigte Geschöpf fühlte sich zu stolz, um auch nur die geringste Regung des weiblichen Gefühls zu verraten. Es kam ihr wie eine Schwäche vor, obgleich sie doch nur durch dieses einzige Band mit der edleren Menschheit verknüpft war, deren äußere Spuren ein wüstes Leben schon in den Tagen ihrer Kindheit verwischt hatte.

      Nancy erhob die Augen so weit, um gewahren zu können, daß die Gestalt, die jetzt ins Zimmer trat, die eines zarten und schönen Mädchens war. Dann schlug sie die Augen wieder nieder und sprach mit angenommener Gleichmütigkeit:

      "Es hält schwer, Sie zu Gesicht zu bekommen, Fräulein! Wäre ich empfindlich gewesen und wieder fortgegangen, wie es wohl die meisten getan hätten, so würden Sie wohl eines Tages Grund gehabt haben, es zu bereuen."

      "Es tut mir leid, wenn man Sie unhöflich behandelt hat", sagte Rosa. "Doch denken Sie nicht mehr daran, und sagen Sie mir, warum Sie mich zu sprechen wünschen. Ich bin Fräulein Maylie."

      Der freundliche Ton dieser Antwort, die liebliche Stimme und das sanfte Benehmen, in dem keine Spur von Hochmut oder Verachtung war, überraschten Nancy derart, daß sie in Tränen ausbrach.

      "Ach, Fräulein – Fräulein", sagte Nancy, indem sie die Hände leidenschaftlich rang, "gäbe es mehr Ihresgleichen, so würden weniger sein wie ich – o gewiß."

      "Setzen Sie sich", sprach Rosa, "Sie bringen mich in Verlegenheit. Sind Sie arm oder unglücklich, so will ich Ihnen gern helfen, soweit es in meiner Macht steht. Glauben Sie mir. – Bitte, setzen Sie sich!"

      "Lassen Sie mich nur stehen, Fräulein", sagte Nancy, immer noch Tränen vergießend, "und sprechen Sie nicht in solchem gütigen Ton zu mir, bis Sie mich besser kennen. Doch es ist spät. Ist – die – Tür verschlossen?"

      "Ja", erwiderte Rosa, einige Schritte zurücktretend, "warum ?"

      "Weil ich im Begriff bin", antwortete Nancy, "mein Leben und das Leben anderer in Ihre Hände zu legen. Ich bin das Mädchen, das den kleinen Oliver an jenem Abend, als er das Haus in Pentonville verfieß, zu Fagin, dem alten Juden, zurückschleppte."

      "Sie?" rief Rosa erstaunt.

      "Ja, ich, mein Fräulein", sagte Nancy. "Ich bin die schlechte Person, von der Sie gehört haben, die unter Dieben lebt, und, soweit ihre Erinnerung reicht, keine bessere


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