Lill. Der Roman eines Sportmädchens. Rudolf Stratz
Читать онлайн книгу.— nein — — ich bin ganz bei Trost! . . . Aber es waren da eine Masse Verrückte . . .“
„Ja — Wo sollen die Leute denn sonst sein?“
„. . . und einer von ihnen — der Gefährlichste von allen — der immer zwei Wärter hinter sich hatte — seht Ihr drüben den kleinen Herrn mit dem kränklichen Gesicht und der zu hohen Schulter? — ja — der mit dem kleinen schwarzen Schnurrbart und den unheimlichen, grossen, dunklen Augen — das ist er!“
„Besondere Ehre für uns . . .“
,,Der ist seinen Wärtern irgendwie ausgekniffen und steht nun da schon die ganze Zeit und guckt zu. Das irritiert mich in einer Weise — das ruft mir fortwährend den wahnsinnigen gestrigen Abend vor die Augen . . . Ich kann gar nicht aufpassen . . . Gott weiss, auf was der schreckliche Mensch drüben noch verfällt! Er schaut mich immer so durchdringend an!“
„Na — da müssen wir doch das Spiel mal unauffällig einen Augenblick unterbrechen!“
Lill lehnte, lang und weiss, am Geländer und nagte unstet an der Unterlippe. Orff stand zwei Schritte abseits. Er redete keinen Ton. Er gähnte nur alle paar Sekunden, als ein Zeichen „an alle“, dass er die ganze Sache bis hierher habe. Viele Blicke richteten sich von den Zuschauerbänken auf das verzankte Paar. Hinter diesen Menschenreihen war der entsprungene Irre verschwunden. Die Stelle, wo er gestanden, leer. Aber irgendwo da im Hintergrund musste er noch sein Wesen treiben. Denn eine ganze Expedition hatte sich dorthin in Bewegung gesetzt: der Turniervorstand, der Bürgermeister, der Kurdirektor, der Geo, der Wilm, der Yo, der Fips. Nun kamen sie zurück. Sie lachten aus vollem Hals . . . .
„Jetzt seid Ihr wohl alle zusammen übergeschnappt?“ erkundigte sich Lill feindselig.
„Also Du — das ist einfach gottvoll . . .“
„Wenn ein gewalttätiger Geisteskranker frei herumläuft . .?“
„O Lill . ., Du holde Einfalt — Du . . .“
„Das ist doch weiss Gott nicht so wahnsinnig komisch!“
„Doch, verehrtes, gnädiges Fräulein! Es ist wirklich komisch!“ Der Kurdirektor hatte ganz feuchte Augen. „Dr. Hormuth selber musste, bei allem seinem sonstigen Ernst, laut lachen!“
„Worüber?“
„Na — über Dich!“ sprach Lills Bruder freundlich.
,So? Na! . . . Wer ist denn der Dr. Hormuth?“
„Der Direktor des Irrenhauses selber! Eben der kleine, verwachsene schwarze Herr drüben, der Ihnen solche Angst einflösst!“
Ach — verulkt mich gefälligst nicht!“ sagte Lill gereizt. „Ich kenn’ den Irren doch von gestern! Der und der Direktor! Pah!“
„Wirklich und wahrhaftig der Direktor! . . . Eine wissenschaftliche Grösse in Fachkreisen!“ bestätigte der Stadtvater. Der Kurvorsteher beteuerte:
„Eine weitbekannte Persönlichkeit! Er steht im Konversationslexikon!“
„Er hat schon mehrfach Universitäts-Professuren ausgeschlagen, weil er seine freie Forschung nicht aufgeben will. Er ist sehr viel auf Kongressen und Vorträgen unterwegs. Er leitet die Anstalt nur wegen des Studiums, an dem Patienten-Material.“
„. . .und ist selber einer von den Patienten!“ Lill stampfte mit dem Fuss. „Ich weiss doch, was ich weiss! Wart Ihr in der Klinik innen darin? Nein! Aber ich! Nun also: Zwei starke Männer marschierten immer dicht hinter ihm her . . .“
„Gewiss, gnädiges Fräulein, damit Dr. Hormuth als verantwortlicher Anstaltsleiter sofort Leute bei der Hand hatte, falls ein Kranker durch die Aufregung des Festabends unruhig werden sollte!“
„Lill — mache nur kein zu geistreiches Gesicht!“ riet ihr Bruder.
„Zu toll . . .“, sagte Lill nach einer Pause langsam und betreten. Sie schüttelte den Kopf und schaute nach der leeren Stelle in der Menschenmauer . . .
„Herr Dr. Hormuth hat, in seiner stillen Art, sehr viel Takt, meine Gnädigste!“ erläuterte der Kurdirektor. „Man sieht ihn sonst fast nie unter Menschen. Er war nur ganz ausnahmsweise gekommen, um Sie zu sprechen und wahrscheinlich noch einmal wegen des Missverständnisses gestern um Entschuldigung zu bitten!“
„Wäre er doch bei seinen Kostgängern geblieben!“ sprach Lill matt. Dann hätt’ ich nicht hier die Nervenpleite gekriegt, und wir ständen jetzt nicht 1 zu 5!“
„Herr Dr. Hormuth hat sich sofort zurückgezogen, als er hörte, dass sein Anblick Sie störte! Sie werden ihn sicher während des Spiels nicht mehr zu Gesicht bekommen!“
„Wenn er noch bleibt, wartet er im Hintergrund!“ versicherte der Bürgermeister. Lill sah ihn starr aus ihren grossen Augen an.
„Seit ich hier bei Ihnen bin, mache ich lauter Dummheiten!“ sagte sie erstaunt. Dann reckte sie sich jäh aus den schmalen Hüften in die Höhe und klatschte sich ungeduldig mit dem Schläger auf den Schenkel. „Herr von Orff — leben Sie eigentlich noch? . . Vorwärts! . . . Das zweite Spiel ist ja noch gar nicht perdü . . .“
„Das nennt sie nämlich spielen!“ erklärte Robby müde den Umstehenden und wippte hoffnungslos seine Waffe.
„Wir schaffen’s noch!“ rief Lill entschlossen, so laut, dass es jeder hören konnte, und lief nach dem Netz. „Zeigen Sie sich jetzt mal in Ihrer ganzen Grösse, Orff! Höchste Form! Ich tu’ auch, was ich nur kann! Ich schwör’ es Ihnen! Grosses Ehrenwort!“
Orff, der Crack, war auf einmal neu belebt. Er lächelte. Er schritt auf federnden Fussspitzen, elastisch den Körper wiegend, auf den Sand hinaus. Das war eine Aufgabe, die ihn amüsierte: einen derart verkorksten Satz noch zu retten . . . .
„Aber schlaf nicht wieder, Lill! Nun geht’s um die Wurst!“ murmelte er in einer unheilverkündenden Ruhe. Er schaukelte mit unwahrscheinlich weit gespreizten Beinen sprungbereit auf den Fussspitzen, den Arm mit dem Schläger nach hinten abwärts gestreckt. Er tat einen Satz über die halbe Fläche, fing den Feindesball, feuerte ihn zurück, machte Finten, fegte um die Ecke, hatte immer noch Atem, rastlos, gegen allen Turnierbrauch, zu schwatzen wie eine Elster, Lill mit dem Zähnefletschen einer Rothaut zu elektrisieren: „Da kommt er, Lill Töť ihn, Lill . . . Töte ihn . . . Gut so!“
Lill tötete den Ball. Sie schüttelte den fliegenden, dunkelblonden Schopf. Sie tanzte blutdürstig längs des Netzes. Das musste noch ganz anders kommen . . . so . . . und so! . . . Bewegung auf den Bänken der Zuschauer . . . Stimmengewirr . . . die treue kleine Mab schlug strahlend die mageren Hände zusammen.
„Lill kommt blendend! Hurra, Lill!“
„Die andere drüben spielt dabei eigentlich viel besser!“ sagte Rix Grusemann.
„Ja . . . schon . . . aber dafür Orff . . . Wie er der Lill hilft — sieh nur . . . sieh nur . . . Herrgott . . Orff . .“
Händeklatschen. Rufe: „Bitte sitzenbleiben!“ Geo, Lills Bruder, nickte mit der Erfahrung eines schon dreiundzwanzigjährigen Fachmanns.
„Ich kenn’ doch den Orff! Der ist unberechenbar wie ’ne Primadonna! Jetzt hat er seinen guten Tag . . .“
„. . . Weil ihm Lillchen gefällt . . .“
„Meinste?“
,,Auf Anhieb. Sonst hätt’ er doch gar nicht mit ihr gespielt — so blasiert wie er ist! Ihr Frauenzimmer verzieht ihn ja. Eine doller als die andere!“
„Jetzt ist Sport und nicht Flirt! . . . Donnerwetter ja: Orff und Lill holen auf, was das Zeug hält!“
„Drei Spiele hintereinander! So was sieht man selten!“
„Die anderen lassen nach! Die sind schon ganz nervös! Besonders sie!“
„Kein Wunder, wenn Orff derartig aus sich herausgeht . .“
Das