Endlich im Pferdeglück. Lise Gast
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„Wie weit bist du mit den Schularbeiten, Anja?“
„Hab keine auf.“
„Keine auf? Auch kein Latein?“ Mutter wunderte sich. Anja hatte die ganzen Wochen lang, die sie nun schon in die neue Schule ging, täglich gestöhnt, sie bekämen so viel auf. Mutter hatte nie Latein gelernt, sie hielt das für geistiges Steineklopfen, und ihre kleine Tochter tat ihr Leid. Umso erstaunter war sie heute sowohl über das „Hab keine auf“ wie über den Ton, in dem Anja es gerufen hatte. Es klang gar nicht fröhlich und erleichtert, im Gegenteil. „Da stimmt doch was nicht“, dachte Mutter und ging nun doch in Anjas Zimmer. Bisher hatte sie von der Küche aus gerufen. Anja war in Mantel und Mütze.
„Wolltest du weggehen?“
„Ja.“
„Und weshalb hast du nichts auf?“
„Ach, ich hatte schon. Ich hab es in der Schule gemacht. Wir hatten eine Freistunde.“
„Eine Freistunde? Aha, eine ohne Unterricht, oder? Du, Anja, wenn du nichts aufhast und sowieso raus wolltest – es ist ja so schön heute, der reinste Frühling –, da könntest du doch die Jungen mitnehmen. Im neuen Wagen. Eine Stunde oder zwei. Ich hab so viel zu tun.“
Am kommenden Sonntag sollte getauft werden, in der schönen neuen Kirche. Vier Paten waren eingeladen worden und wollten auch kommen, für jeden Jungen zwei. Anja konnte es schon nicht mehr hören.
Geschwister hatte sie sich wohl gewünscht, als sie noch mit Mutter allein war, aber welche zum Spielen und Rumspringen, Gleichaltrige, mit denen man radeln und Verstecken spielen und sonst was unternehmen konnte. Aber keine, die man „behalten“ musste, stundenlang.
„Ich – ich wollte –“
„Was wolltest du denn?“ Mutters Stimme klang ungeduldig. In letzter Zeit war das oft so. Immer, dachte Anja rebellisch. Immer ist Mutter jetzt ungeduldig, immer hat sie keine Zeit, immer ist wichtiger, was sie will, als das, was ich möchte. Sie kam sich schlecht behandelt vor.
„In den Reitverein“, sagte sie patzig. „Du hast doch gesagt, wenn ich mit den Schularbeiten fertig bin, kann ich gehen.“
„Aber du warst doch gestern erst dort, und vorgestern, überhaupt die ganze Woche. Sag, hast du die Rassel gesehen, die Volker so gern hat? Die mit dem weißen Griff? Wenn er die in der Hand hat, ist er zufrieden. Ach, dort liegt sie. Gib sie doch mal rüber! Und mach mir die Tür auf …“
Anja gehorchte stumm. Mutter hatte die beiden kleinen Jungen fertig angezogen und in den neuen Wagen gelegt. Es war kein wirklich neuer, sondern ein gebrauchter, breiter als ein gewöhnlicher Kinderwagen, man sah sofort, dass es ein Zwillingswagen war.
Anja fand das grässlich. Jeder, dem man auf der Straße begegnete, machte den Hals lang und guckte hinein. Kinderwagen schieben war überhaupt nur für Mütter schön, und nun gar einen so auffallenden …
Sie sagte das nicht. Schweigend half sie Mutter, den Wagen vom Flur über die kleine Treppe hinunterzutragen und öffnete das Gartenpförtchen.
„Ja, jetzt habt ihr es schön! Anja führt euch! Dass wir noch solche Tage bekommen, ehe es richtig kalt wird“, schwatzte Mutter und zupfte den beiden die Kapuzen zurecht. „Ja, da lachst du, kleiner Mann, nicht wahr? Das gefällt dir.“
„Wie lange muss ich denn …“, fragte Anja maulig. Mutter sah auf ihre Armbanduhr.
„Um fünf wird es dunkel. Sagen wir bis fünf. Ich hab so viel zu tun, dass ich nicht weiß, wo ich anfangen soll. Aber jetzt los.“
Sie winkte den beiden Kleinen zu, lachend und zärtlich, ehe sie ins Haus zurückhuschte.
Anja war die Petersilie verhagelt. Bis fünf – das kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Der ganze Nachmittag war hin ‚sie schluckte, einmal, nochmal, ein drittes Mal. Der Klumpen, der ihr im Hals saß, ging nicht hinunter.
Immerzu die beiden Kleinen. Immerzu: „Komm, fass mal an, halt mal, hilf mal.“ Erst hatte sie es auf den Umzug geschoben. Dass beim Umzug mehr zu tun war als gewöhnlich, das war ihr klar. Aber jetzt war der Umzug doch vorbei. Dafür kam jetzt die Taufe und der viele Besuch, und dann kam vermutlich wieder etwas, und –
Nun würde Kerlchen umsonst warten. Herr Anders hatte ihn bestimmt auf die Weide gebracht, wenn es dort auch nicht mehr viel zu knabbern gab. Aber er bekam Luft und Sonne, der arme alte Kerl, und nun stand er und wartete, und sie kam nicht.
Missmutig schob sie den Kinderwagen den Fußweg entlang.
An der Ecke der Straße stand ein Telefonhäuschen. Es war neu, leuchtend gelb – Anja sah es an, gleich darauf fuhr sie mit der Hand in die Tasche. Der Geldbeutel, nein, sie hatte ihn nicht mit. Nur Möhrenstückchen und Zucker waren in der Tasche, die brauchte sie nun nicht, und sie halfen ihr nicht. So was Dummes! Da hätte sie doch wenigstens Petra anrufen können.
Petra lag tagsüber, das wusste Anja, daheim im Wohnzimmer auf der Couch, direkt neben dem Telefon. Cornelia hatte ihr das erzählt, am Tag nach dem Unfall.
„Man kann sie also jederzeit anrufen, ist das nicht prima? Eine Gehirnerschütterung ausliegen, das dauert mindestens zehn Tage. Und da langweilt man sich schrecklich, weil man ja nicht fühlt, dass man krank ist. Ruf sie doch mal an, sie freut sich bestimmt.“
Und nun hatte sie kein Geld dabei! Heute ging auch alles schief.
Das mit den fertigen Schularbeiten stimmte nämlich auch nicht, jedenfalls nicht so ganz. Sie hatte in der Freistunde in der Schule zwar etwas getan – die Vokabeln, die sie lernen sollten, herausgeschrieben, aber richtig gelernt hatte sie sie noch nicht. Zum richtigen Lernen kam man in der Freistunde nicht, die Jungen nutzten die Zeit immer aus, um Unfug zu treiben – in ihrer Klasse des Gymnasiums waren mehr Jungen als Mädchen, und die paar Mädchen, drei außer ihr, mochte sie nicht sehr. Keine von ihnen hatte Interesse an Pferden …
Wenn sie doch in Petras Klasse wäre! Aber Petra war zwei Jahre über ihr, und selbst, wenn sie sitzen blieb, sie sagte manchmal, dieses Jahr würde es sie erwischen, ihre Schwestern wären auch mal sitzen geblieben, na was denn! –, selbst dann wäre noch ein Jahrgang zwischen ihnen. Anja hatte das Gefühl, als gäbe es überhaupt keinen Lichtpunkt mehr für sie, auf den sie zuleben, nichts, auf das sie sich freuen könnte. Trübe sah es aus.
„Na, du machst ja ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter“, hörte sie plötzlich jemanden sagen, und gleich darauf strahlte ihr Gesicht auf: Cornelia.
Sie kam den Fußweg entlang, in Cordhosen und Gummireitstiefeln, die Schultertasche links, in der rechten Hand eine überdimensionale Tüte vom Supermarkt. Ihr Wagen parkte am Gehsteig gegenüber, ein alter, roter, nicht sehr eleganter VW. Aber er passte so richtig zu Cornelia.
„Ach. Weil ich –“ Sie wies mit dem Kinn auf ihre Kinderwagenfracht. „Immer muss ich die kleinen Brüder ausfahren, das ist so langweilig.“
„Immer? Ach, so oft doch vielleicht nicht. Gestern warst du doch den ganzen Nachmittag im Reitverein.“ Cornelias Stimme klang munter, und sie hatte solch einen flotten, vergnügten Schritt – Anja schloss sich unwillkürlich ihrem Tempo an.
„Sind Sie heute geritten?“, fragte sie. Cornelia nickte.
„Ausnahmsweise. Was glaubst du, wie schwierig es ist, dass ich mal zwei Tage hintereinander kann. Eigentlich langt es nicht auf einmal. Wie geht’s Petra? Hast du sie angerufen?“
„Nein, ich wollte. Aber ich hab mein Geld zu Hause liegen gelassen.“ Anja gab sich einen Stoß. „Könnten Sie mir bitte zwei Zehner borgen? Dann würde ich –“
Cornelia lachte. Sie blieb stehen, setzte die Tüte ab. Ein paar Apfelsinen rollten heraus, Anja sprang hinterher und fing sie ein – und riss die Schultertasche auf.
„Da. Nicht geborgt, geschenkt. Ruf sie an, und grüß von mir. Ich käme mal vorbei. Ich hab sowieso ein miserables Gewissen, dass ich noch nicht wieder dort war. Unser Peterlein, musste ihr das passieren! Sie wollte so gern das