Endlich im Pferdeglück. Lise Gast
Читать онлайн книгу.standen Pferdebücher. Ein Schrank stand voller Preise – Pokale, Teller aus Silber, eingravierte Daten. Der Garten, der ums Haus lag, war geradezu ein Park. Und Frau Hartwig! Schön und schlank gewachsen und gepflegt, und trotzdem nicht „fein“, wie Anja Leute nannte, die sich Schmuck umhingen und nirgends hinfassen mochten, wo sie sich vielleicht ein wenig schmutzig machen konnten. Ja, wenn Mütter reiten … Anja dachte an ihre eigene, die rotbackig und rundlich war, den ganzen Tag mit Wickelschürzen herumlief, mit weißen, wenn sie die Jungen versorgte, sonst mit bunten, hübsch und appetitlich, das schon, aber …
Die sich gar nicht dafür interessierte, wenn man von Pferden erzählen wollte, die verstrubbelte Haare hatte und sich einfach ein Kopftuch darüber knüpfte, weil sie es selbst nicht mehr mit ansehen konnte …
Freilich, keiner will seine Mutter tauschen. Aber ein bisschen ändern könnte sich ihre Mutter schon, dachte Anja rebellisch, nicht nur das Muttertier für die beiden kleinen Jungen sein, die sie von morgens bis abends versorgte, fütterte, badete, schlafen legte oder herausnahm. Etwas anderes tat sie eigentlich nicht mehr, so schien es Anja. Die beiden Kerlchen waren süß, zugegeben, aber es gab ja auch noch andere Dinge auf der Welt.
Und Werner, dieser Dummkopf! Könnte dreimal die Woche reiten – Petra ritt dreimal, wenn es mit der Schule einigermaßen passte – und mochte nicht! So dumm! Wenn sie an seiner Stelle wäre, sie wüsste, was sie täte! Sogar eigene Pferde hatten Hartwigs, und –
„Na, Anja, du kommst ja so verträumt daher, dass du nicht mal deinen Vater erkennst!“, hörte sie es sagen, sie war eben in ihre Straße eingebogen.
„Ach, Vater, du! Ich war bei Petra, weißt du, die aus dem Reitverein, die die Gehirnerschütterung hat. Ja, es geht ihr gut, nur aufstehen darf sie noch nicht.“
„Hauptsache, es ist nichts Schlimmes. Komm, ich trag dir das Rad in den Keller – lauf zu Mutter, sie ruft.“
Anja hatte es schon gehört.
„Anja – endlich! Ich hab’ den ganzen Nachmittag auf dich gewartet. Wo warst du denn wieder, natürlich im Reitverein, oder?“
„Nein. Ich soll ja nicht.“ Anjas Stimme klang jetzt anders als vorhin, da sie mit Vater gesprochen hatte. Wütend, verbockt …
Es wurde kein schönes Heimkommen.
„Mit Anja ist wirklich nichts anzufangen, ich komm mit ihr in letzter Zeit überhaupt nicht zurecht“, klagte Mutter am Abend. „Den ganzen Nachmittag lässt man sie laufen, wohin sie will, und wenn sie dann endlich kommt, ist sie bockig und unfreundlich.“
„Zu mir war sie freundlich. Sie hat eine Freundin besucht, die im Bett liegt“, sagte Vater vorsichtig. Dass es eine aus dem Reitverein ist, sag ich jetzt besser nicht“, dachte er und schwieg.
Aber es nützte nichts.
„Ja, Petra wahrscheinlich. Es ist ja nett von ihr, sich um sie zu kümmern, aber den ganzen geschlagenen Nachmittag dort zu hocken, ohne dass sie vorher sagt, wohin sie geht … ich habe mich gesorgt! Ach ja, mit ihr ist es zur Zeit wirklich schwierig.“
Vater schwieg. Er mochte seine neue Tochter ausgesprochen gern, wünschte sich sehr, ein gutes Verhältnis zu ihr zu bekommen. Das aber musste man behutsam anfangen. Und dass seine Frau so gar kein gutes Haar an dem Kind ließ, machte ihn doch nachdenklich.
So, wie sie es sagte, war es sicherlich auch nicht. Aber Anja wurde meistens sofort unzugänglich und patzig, wenn Mutter etwas von ihr wollte. Mit Vorwürfen aber änderte man da nichts.
Er unterrichtete Kinder im Alter von Anja, und da erlebte er oft, sehr oft, dass Mütter kamen und behaupteten, mit ihren Töchtern wäre überhaupt nicht auszukommen; er aber fand in der Schule, dass es nette und aufgeschlossene und gescheite Schülerinnen waren.
„Abwarten“, sagte er. Aber Abwarten war nicht so leicht, wenn man das Temperament von Anjas Mutter besaß …
„Ich bin geritten!“
„Holen Sie ihn schon?“, fragte Anja. Es klang enttäuscht. Sie hatte sich soeben, später als sonst, von zu Hause wegstehlen können und war diese Sekunde erst bei Kerlchen angekommen, der am Zaun der Koppel stand und wahrhaftig nach ihr Ausschau gehalten hatte. Jedenfalls guckte er in die Richtung, aus der sie kam. Und nun war Herr Anders von der anderen Seite her gekommen und wollte ihn holen. „Heute gehst du mal nicht in den Reitverein“, hatte Mutter gesagt. „Es muss auch mal ohne gehen.“
Hier auf der Koppel zu stehen und Kerlchen zu streicheln, das war nicht „in den Reitverein gehen“. Sie sah zu Herrn Anders auf. „Aber die Möhre darf er doch noch fressen, so eilig ist es nicht, nein?“
„Nein. So eilig nicht. Ich hab Zeit. – Du, Anja?“
„Ja?“
„Wie wäre es – willst du ihn mal versuchen?“
„Kerlchen? Ihn reiten? Im Ernst?“ Anjas Augen waren ganz groß und rund geworden. „Darf ich wirklich? Darf er denn geritten werden?“
„Bis zum Stall gewiss. Ich hab das Reithalfter mitgebracht“, sagte Herr Anders. Er wartete, bis Kerlchen die Möhre verschnorpst hatte, und streifte ihm dann das Kopfstück über. Vorsichtig schob er das Gebiss ins Pferdemaul, schloss die Schnalle des Kinnriemens und dann die Schnallen am Kehlriemen. „Siehst du, so macht man das. Hier muss es eng anliegen, und hier muss eine Faust dazwischenpassen. Probier mal. Ja, so. Und nun –“
Anja stand schon links neben dem Pferd bereit, das eine Bein angewinkelt, wie Herr Anders es ihr damals gesagt hatte. Er legte die Hand darunter – schon war sie oben.
„Und nun: schön aufgerichtet sitzen, Schultern zurück, Beine lang. Fußspitzen anheben, Hacken runter, auch ohne Bügel. Ja, so. Ganz locker dabei – nun, das alles kommt mit der Zeit. Hier die Zügel. Sie müssen zwischen Ring- und kleinem Finger durchlaufen und zwischen Daumen und Zeigefinger – ja, du weißt es wohl schon. Hast gut aufgepasst, wenn du bei der Reitstunde zugesehen hast. Fäuste aufrecht, Daumen wie kleine Dächer darüber. Fein. Und jetzt klopfst du ein wenig mit den Hacken, ein wenig nur – richtig. Das tut ihm nicht weh, das sagt ihm nur: ‚Los, jetzt wollen wir.‘ Na also, er versteht dich ja!“
Kerlchen hatte sich, sobald Anja mit den Fersen an seine Flanke kam, Richtung Stall gewandt und ging im Schritt los. Anja fühlte den warmen, mächtigen Körper unter sich in Bewegung kommen, sie drückte die Knie fest an und die Fersen nach unten, wie der Reitlehrer es oft und oft gesagt hatte. Mitsamt dem Zügel hatte sie ein Büschel Mähnenhaar erwischt, das gab ihr noch mehr das Gefühl, dem Pferd nahe zu sein.
„Nein, nicht schneller. Heute noch nicht. Heute reiten wir Schritt“, sagte Herr Anders, der nebenher ging, ohne den Zügel anzufassen. „Schritt ist das erste und nicht das Leichteste, das glaubt einem anfangs niemand. Und Stürze aus dem Schritt sind oft schlimmer als andere.“
Das konnte sich Anja nicht vorstellen. Ein Sturz bei einem Sprung, ein Hineinsegeln ins Hindernis, wie sie es schon mehrmals gesehen hatte, oder ein Aus-dem-Sattel- Kommen, wenn das Pferd bockte, erschienen ihr viel gefährlicher. Sie sagte aber nichts; das wusste sie schon von den Stunden, die sie miterlebt hatte: Widersprechen durfte man nicht, nie. „Morgen oder übermorgen traben wir dann ein Stückchen, heute noch nicht“, fuhr Herr Anders mit gleichmäßiger, freundlicher Stimme fort, „merkst du es – er weiß genau, was er tun soll, ja? Guter alter Knochen, wie viele Kinder hat er getragen, so wie dich jetzt, vorsichtig und voller Behutsamkeit. Er war auch eine Weile Voltigierpferd. Was Voltigieren ist, weißt du, oder? Da läuft das Pferd an einer Leine im Kreis, an der Longe, heißt das, und die Kinder machen Turnübungen daran, springen auf und ab und machen die Fahne und die Mühle –“
„Das hab ich mal bei unsern Nachbarn im Fernsehen gesehen, bei einem großen Reiterfest. Da waren auch ganz kleine Kinder dabei, höchstens fünf Jahre alt, vielleicht erst vier.“
Anja wurde ganz eifrig. Herr Anders merkte, wie sie sich entspannte, während sie erzählte. Das hatte er gewollt.
„Die Mädels hatten winzige Röckchen