Grischa der Geiger. Rudolf Stratz
Читать онлайн книгу.„Wir können ja nachsehen! Er ist ja blöde. Er erkenut ja niemanden!“
Leise hinüber zu Nummer neun. Leise die Tür auf. Noch mehr als Nummer acht ein verwüsteter, stinkender Menschenstall — einst ein kokettes Schmuckkästchen des Rokoko — der Kleine Rundsaal, menschenleer im blauen Mondschein. Nur in der einen Ecke hockt aufrecht auf den Resten einer Matratze ein verwildertes Menschengespenst, eine graue wirre Mähne sein Haupthaar, Hohlaugen in dem abgemagerten Gesicht, langsträhnig über der zottigen, zivischen dem schmutzigen Hemdspalt offenen Brust der aschfarbene Bart.
„Er ist wach — der Windhund!“
„Neit. Er schläft!“
Iwan Flug, der einstige Hochschullehrer, schläft gleich einem indischen Fakir aufrechtsitzend und mit offenen Uugen. Offen und doch erloschen diese gläsernen Pupillen. Er sieht niemanden. Er gibt kein Lebenszeichen. Der Anblick des wahnsinnigen Büssers ist unheimlich.
„Nun — dieser Floh wird uns nicht stechen!“ murmelt der Kirchensänger. Alle vier ziehen sich auf den Fussspitzen zurück.
„Horcht, Brüder!“ flüstert draussen auf dem Flur Grischa der Geiger. Seine Stimme zittert.
Ja — da tönen dumpf die Musikkapellen von drüben, von der Arbâtstrasse her. Der Nachtmind trägt die Internationale herüber.
„Wacht auf, Verdammte dieser Erde!‘
„Litzband ist auf dem Marsch!“ krächzt Vater Ilja und reibt sich kichernd die Hände.
‚ . . . die stets man noch zum Hungern zwingt!‘
„Vorwärts, Brüder — jetzt muss es geschehen!“ Grischa zischt es zwischen den Zähnen. Von dem Fenster der Stube Nummer acht aus, in die er mit seinen Genossen zurückeilt, kann man den Leichenzug nicht sehen. Nur roter Glast färbt in der Ferne wie Brandschein die Kirchen und Häuser der Arbâtschen Pforte. Man vermag das Lohen der Pechfackeln nur zu ahnen, den dumpfen. Tritt der Massen, das Schaukeln der Banner mit goldener Sichel und Hammer, der aufgehenden Sonne, dem roten Sowjetstern, das Rumpeln der Sarglafette und vor ihr in breiten Reihen die Machthaber Moskans — immer die gleichen entblössten, kurzgeschorenen, schnurrbärtigen Männerköpfe mit der niederen Stirtie, der grobgeformten Nase, der brutalen Härte um Kiefern und Kinn.
Und Grischa der Geiger dreht den Genossen ben Rücken zu, tritt in seine Ecke, faltet die Hände, senkt das blondbärtige Haupt, spricht ein kurzes Gebet. Dann wendet er sich wieder zu den anderen. Sein Wesen ist jetzt verändert. Kaltblütige Willenskraft atmet es statt der Träumerei.
„Diese Viertelstunde schenkt uns Gott der Herr!“ Grischa fährt in seinen Schafpelz und stülpt die Schirmkappe auf, als wollte er den Schatz im Hause suchen gehen. „Gott allein weiss, ob und wann diese Viertelstunde je wiederkehrt, in der mir unbeobachtet sind! Jede Minute ist kostbar. Wollt Ihr mir blind gehorchen, Brüder?“
„Befiehl uns, Herr!“
„Gut denn!“ Grischa richtet sich entschlossen auf. „So hört, was jeder tun soll! Der Gottlose hat jedenfalls das Hausfor offen gelassen, so lange alles aus dem Hause ist! Du, Machmet“, befiehlt er dem Tataren, „halte dich unten in der Torwölbung auf und gib Nachricht, wenn draussen auf der Strasse irgend etwas Verdächtiges sich zeige — Wagen mit Unbekannten vorfahren — Menschen, die Polizeikreaturen sein könnten, wie zufällig sich treffen und in das Haus treten. In einer Viertelstunde, ehe noch das Haus sich füllt, kehrst du hierher zurück und hilfst die Schätze vorläufig in unseren paar Kästen und unseren Matratzen zu verbergen, bis wir sie von morgen ab unbemerkt in deinen Teppichballen aus dett Haus zu dem Dolmetscher, dem Litauer, bringen können!“
„Ich höre, Herr!“ Machmet, der Tatar, huschte die Treppe hinab. Seine fast bartlosen Lippen grinsten unten am Tor zu Ossip, der breitbeinig dastand und ihm fragend seitt einziges, tückisches Auge zudrehte.
„Er geht ans Werk“, keuchte der Tatar. „In fünfzehn Minuten müsst ihr hinaufkommen und ihn überraschen. Der dumme Sperling ahnt nicht, dass die Geheimpolizei längst im Hause ist!“
„Sie warten auf ihn. Sie sitzen auf der Kellertreppe, rauchen Papyrossen und halten ihre Pistolen schussfertig“, sagte der Riese im roten Hemd. „Ich werde es ihnen melden: in einer Viertelstunde also!“
„Ich hoffe, man wird den Volksfeind gleich auf der Stelle angesichts seiner Schätze töten!“ sprach sinnend der kleine, bleiche Tatar.
„Es wäre das Beste!“ nickte Ossip, der Gottlose. „Man ist dann aller Mühen überhoben! Man wickelt Grischas Leiche in einen deiner Teppiche, fährt sie, so lange es noch Nacht ist, zur Moskma und wirft sie hinein! Wozu hackten da die Fischer die Eislöcher?“
„Du, Vater Ilja!“ spricht oben in Nummer acht Grischa zu dem Branntweinpächter, „hocke dich im Treppenhaus auf die Stufen! Du tust es ja oft, wenn du betrunken heimkommst und dir das Steigen sauer wird.
Deine Aufgabe ist es — so wie Nachmer die Strasse beobachtet — das Innere des Hauses im Auge zu behalten und, wenn du fremde Gesichter oder sonst etwas Gefahrdrohendes siehst, sofort Jermolai zu warnen. Du findest ihn hier oben auf unserem Flur. Er weiss, wo ich bin. In einer Viertelstunde bist auch du wieder auf unserer Nummer!“
„Gut, Guer Wohlgeboren!“ Vater Ilja schlurfte hinaus. Draussen schüttelte ein Kichern seinen schwammigen Körper. Er beugte sich über den Strick, der als Geländer diente, und spuckte hinunter. Der Lufklatsch unten war das verabredete Zeichen. Dort in der Liefe erschien der Kopf des Gottlosen und äugte in die Höhe. Der alte Gäufer oben spreizte dreimal die fünf Wurstfinger seiner Rechten. Das hiess: ,Wartet noch fünfzehn Minuten! Dann kommt alle herauf!‘ Ein Nicken unten: „Wir wissen schon Bescheid!‘
„Nun lasst uns beide gehen!“ sagt oben im Zimmer der Kirchensänger Jermolai zu Grischa, und Grischa der Geiger lächelt und schüttelt seinen blondmähnigen Kopf.
„Wir brauchen nicht zu gehen! Wir sind schon da!“
„Wie denn, Herr? Hier im Zimmer . . .?“ Der Schwindsüchtige schaut verstört die schmutzigen, hell vom Mond beschienenen Wände entlang.
„Glaubst du, ich hätte umsonst alles daran gesetzt, mir gerade in diesem Raum einen elenden Schlafplatz gegen einen besseren im Unterstock einzutauschen?“ sagt Grischa. „Ich gab vor, ich liebte es, gerade in einer Zimmerede zu nächtigen. So brachte mich Gottes Hilfe hierher und zu euch. Seit vielen Wochen bin ich meinem Reichtum so nahe, dass ich ihn mit Händen greifen könnte, wäre nicht die Mauer dazwischen!“
„Diese Mauer hier?“
„Ja. Dies sage ich nur dir, Jermolai! Du warst Kirchensänger. Von deinem Knabenalter ab war dein Leben dem Lob Gottes gereiht! . . . Dir vertraue ich am meisten von euch allen!“
„Öffne die Mauer! Zeig mir die Stelle!“
„Ich darf es nicht, Jermolai!“
„Wenn du mir doch vertraust, Herr, wie du sagst!“
„Ich habe meinem Vater geschworen, niemals anders als auf dem Sterbebett einem Menschen den Zugang zu dem Schatz zu verraten! Dieser Schwur bindet nich! Verarge es mir nicht, Bruder!“
Grischa der Geiger fasste den Psalmensänger Jermolai mit einer Hand an der Schulter, drückte mit der anderen die Türe auf und schob ihn auf den Flur hinaus.
„Du wirst da draussen als dritter Posten vor dem Zimmer Wache stehen und jeden fernhalten, der etwa aus irgendeinem Grund zu uns will!“ sagte er. „Still! Keinen Widerspruch! Hast du Lust, im Polizeihof einen Fangschuss hinters Ohr zu kriegen?“
„Gott schütze uns vor der Polizei!“
„So tue, was ich sage! Berwache die Tür, da sie sich nicht verriegeln lässt. Ich muss hier allein mein Werk vollbringen! In einer Viertelstunde, wenn die Geheimkammer wieder geschlossen ist, rufe ich dich herein! Du stammst aus Kasan! Schwöre bei der wundertätigen Kasanschen Mutter, dass du nicht früher eindringst!“
Jermolai,