Grischa der Geiger. Rudolf Stratz
Читать онлайн книгу.sei. Dann schlich er lautlos den Gang entlang, in das Treppenhaus hinaus, bewegte zehnmal den knochendürren Zeigefinger in die Tiefe und meldete so: ‚Kommt in zehn Minuten . . .!‘
Und nochmals das Zeichen: ‚In zehn Minuten! Nicht in fünfzehn! Merkt es euch, ihr da unten vom Lubjarika-Platz! In zehn Minuten! Dann steht die Geheimkammer noch offen!‘ . . .
Grischa der Geiger war allein. Seine blauen Augen schweiften noch einmal durch den mondhellen, kahlen Raum, ob nicht in den einzigen Schattenflächen unter den verrosteten und zerbrochenen eisernen Bettstellen eine unbestimmte menschliche Gestalt bäuchlings liegett und lauern könnte . . .
Nichts zu sehen — natürlich — behalte du nur jetzt um Gottes willen deine Nerven, Grischa, in dieser entscheidenden Stunde! Nichts zu hören als aus dem Nebenraum, nicht durch die dicke Zwischenmauer, sondern vom Flur her durch die beiden dünnen, geschlossenen Türen, einmal das kurze, stöhnende Auflallen Iwan Flugs, des wahnsinnigen Professors„ im Schlaf. Es klang wie der Aufschrei eines gequälten Tieres. Dann war es wieder still. So unwahrscheinlich stil, so unheimlich still wie sonst nie in dieser som Morgen bis zum Abend von Gerufe, Gelaufe, Geläute, Gebämmere, Gebell erfüllten Hochburg der Mühseligen Moskaus. Nur von ferne immer noch die getragene dumpfe Musik zu Ehren des toten Litzband. Gott sei Dank: solch eine Trauerparade schreitet langsam. Noch dreizehn Minuten . . . noch dreizehn . . . an ihnen hängt Armut oder Reichtum . . . hängt Tod oder Leben . . .
Grischa kniete auf dem Teppich nieder. Er öffnete einen kleinen Koffer aus mottenzerfressenem Seehundsfell. Er warf die paar armseligen Stücke seine Habe heraus, die obenauf lagen: ein rotes Baumwollhemd mit nur einem Ärmel, einen einzelnen rechten Juchtenstiefel, ein Stück wasserfleckiges Roggenbrot, eine Schachtel mit einem Dutzend Streichhölzer, ein Bündel Bindfadenenden zum Befestigen der Stiefelsohlen, zwei alte Flanellappen zum Umwickeln der Beine gegen die Kälte — Dinge son Wert in Moskau.
Dann wurde Grischas bärtiges Antlitz ernst und andächtig. Er holte eine kleine Blendlaterne heraus und entzündete das Talgstümpfchen in ihrer Mitte und hielt sie so, dass ihr Schein zwischen den drei Blechseiten nur die Wandfläche neben Grischas Lagerecke schwach erhellte. Nun griff er nach einer dünnten Schnur aus grüner Seide. Er hatte sie um seinen Leib gemickelt aus dem Ausland mitgebracht. Er wusste: sie war über zwei Meter lang, auf den Millimeter genau so lang wie das russische Längenmass, der Faden.
Grischa der Geiger mass diese Fadenlänge waagrecht von der Stubenecke aus, in der sein Bett stand, an der Zwischenwand zu der Nummer neun nebenan ab. Er machte an dem Endpunkt mit einem verkohlten Streichholzstummel einen schwarzen Tupf auf die schmutziggraue Tünche. Nun mass er vom Boden aus die halbe Fadenlänge senkrecht zu diesem Tupf empor und malte an ihrem Ende ein kleines schwarzes Zündholzkreuz auf die Mauer. Zu sehen war an dieser Stelle der Wand nichts als Staub und Kalkgebröckel. Aber Grischa hatte schon oft genug, wenn er allein im Zimmer war, da etwas beobachtet . . .
Grischa der Geiger fischte aus dem Seehundskoffer ein sorgsam in Lederstücke gervickeltes, gestieltes Vergrösserungsglas. Er hielt es in der Rechten. Er trat dicht an die Wand und beleuchtete mit der Laterne das winzige schwarze Kreuz. Er brachte mit leije zitternder Hand die Lupe vor das rechte Auge.
Durch den gewölbten Schliff dieses Rundspiegels gesehen, war da nicht mehr die einförmige, grobkörnige Tünche der Wand. Da war eine Mondlandschaft son kleinen Kratern und Hügeln, von eingetrockneten Seen, die Wanzenblut waren, von schwarzen Inseln, in die sich der Fliegenschmutz verwandelt hatte.
Und inmitten dieser, in das Riesige vergrösserten Kalkwelt klaffte jetzt da . . . da . . . da ganz deutlich unter dem schwarzen Kreuz ein winziger, ein ganz winziger, eben noch durch das Vergrösserungsglas erkennbarer Spalt.
Grischa der Geiger hatte einen Uhrschlüssel zwischen den Zähnen festgeklemmt. Er legte den kleinen Finger der linken Hand, in der er die Laterne hielt, auf das herzförmige Pfännchen in der Mauer. Er liess die Lupe leise aus seiner Rechten auf den Teppich gleiten. Er löschte mit feuchtem Zeigefinger die beiden Zeichen aus Zündholzkohle, die verräterischen Wegweiser an der Wand. Er nahm mit der rechten Hand den Uhrschlüssel aus den Lippen und drückte ihn vorsichtig, prüfend und tastend in diese kaum fühlbare Mulde unter seinem linken kleinen Finger hinein!
Guche, Grischa — suche . . .
Neben dir steht plötzlich dein Vater — durchsichtig im Vollmondschein und aus bläulichen Strahlen ein Gespenst — ein Gespenst? — nein! Ein guter Geist. Das ist der liebe Vater, der Betreuer deiner Kindheit, bleich, altersgrau, aber deutlich erkennbar, und es ist, als murmelten eine langbärtigen Lippen: du bist mein einziger Sohn und Erbe, Grigorij! Nimm dein Eigentum wieder!
Suche, Grischa — suche mit dem zitternden Uhrschlüssel die entscheidende, die stecknadelgrosse Stelle! Du kennst sie ja von früher. Du siehst dich wieder mit dem Vater hier vor der Wand stehen, vierzehnjährig, in grüner Gymnasiastenuniform, und der Bass des Vaters spricht: wenn du je in deinem Leben es nötig hättest, Schätze zu verbergen — siehe, Grigorij, hier ist der Ort.
Und zehn Jahre später stehst du wieder da mit dem Vater, aber diesmal schon bärtig, in feldgrauem Kriegsgewand, bereit, wider die Deutschen in den Kampf zu ziehen, gegen die dein Selbstherrscher, der Zar, jetzt die Mobilmachung aller seiner Völker zwischen der Memel und dem Stillen Ozean befohlen hat. Und der Vater bekreuzigt sich und seine tiefe Stimme spricht ‚Vielleicht findest du mich nicht mehr vor, wenn ihr siegreich aus Berlin heimkehrt. Darum merke dir noch einmal genau die Stelle!‘
Die Wolga ist breit. Oft kaum das andere Ufer zu sehen. In den Wogen der Wolga treibt, von der Jahrmarktsbrücke von Nishni-Nowgorod her, wo er sich in die Fluten gestürzt, die Leiche des Vaters dem Kaspischen Meer entgegen. Dein Vater hat wahr gesprochen. Du hast ihn nicht wiedergesehen, Grischa! Aber dein Erbteil hat er treulich aufbewahrt, dein Erbteil vor Gott und den Menschen! Seit sieben Jahren wartet es auf dich . . . hier . . . hinter diesen Mauern . . .
Was ist das? Auf Grischas Stirne tritt kalter Schweiss der Erregung — sein Herzschlag steht still, in der tiefen Stille des Hauses. Was ist das? . . . Nein! Es ist keine Täuschung: die Wand beginnt ganz leise zu zittern. Es ist, als käme ein seltsames Leben in den toten Stein, unter dem Druck des Uhrschlüssels auf diesen — gerade auf diesen Punkt, den er jetzt eben getroffen hat.
Die Wand fängt an, sich zu bervegen. Ein bisschen feitter Mörtelstaub rieselt von ihr herab. Er wird mehr, und mehr. Da drinnen im Gemäuer rumpelt es. Es seufzt, als erwache einer aus tiefem Schlaf . . .
Halte dein Herz mit beiden Händen, Grischa: da entsteht plötzlich ein langer, schmaler, schwarzer Spalt senkrecht im Grundweiss des Kalks. Er weitet sich langsam.
Jetzt ist er schon handbreit. Eine seltsame, warm süssliche Moderluft strömt aus ihm heraus . . .
Ein mannshohes, mannsbreites Mauerstück dreht sich an einem unsichtbaren, innen eingebauten Zapfen aus der Wand heraus, bleibt mit einem kurzen Ruck senkrecht zu ihr, in die Stube hinausragend, stehen. Neben ihm, da wo es bisher gewesen, klafft ein längliches Viereck von freier, staubdunkler Luft als Eingang in eine Kammer, in ein Mauerloch ohne Fenster, sechs Fuss im Geviert. Ein Mann kann in ihm aufrecht stehen. Seine Backsteinrückwand ist die zweite Hälfte der dicken Zwischenmauer gegen die Nachbarstube neun.
Immer noch rieselt der Kalt aus der geöffneten Fuge, in der sich das Wandstück im rechten Winkel gedreht hat. Und Grischas erster Gedanke, der ihm unwillkürlich durch den Kopf geht: wir müssen den Mörtelstaub auf dem Teppich sammeln. Wir müssen mit dem Staub, sobald die Wand sich wieder geschlossen hat, noch vor Sonnenaufgang den Spalt in ihr verstopft und überdeckt haben, damit kein fremdes Auge — vor allem nicht das einzige Auge des Hausverwalters Ossip – etwas merkt.
Dann kommt Grischa dem Geiger die klare Besinnung des Augenblicks wieder. Noch zehn Minuten Zeit . . . Er leuchtet mit der Laterne in die Geheimkammer. Und abermals wider seinen Willen eine Erinnerung an die Kindheit — an Märchen aus Tausendundeiner Nacht — an Aladin und die Wunderlampe . . .
So gleisst es da drinnen und funkelt im dürftigen, unstät zitternden Laternenlicht. Kostbare Kirchengewänder aus grauen Jahrhunderten liegen da in Stössen auf dem Steinbodent, juwelenbesetzte Brokatkronen türmen sich übereinander gestülpt,