Zeit. Bodil Jönsson
Читать онлайн книгу.propagiert werden, nicht weiterkommen. Das Thema ist so persönlich, dass wir nur dann etwas erreichen, wenn wir im tiefsten Inneren daran arbeiten und uns immer wieder damit befassen. Ich schreibe dieses Buch gewissermaßen im Geiste von Krilon. (Die Krilon-Trilogie des Schriftstellers Eyvind Johnson behandelt auf eindrucksvolle Weise die Bedeutung des Gesprächs – auch des Gesprächs, das wir mit uns selbst führen.)
Wie Krilon schleiche ich um die Auseinandersetzung herum. Immer wieder kehre ich zu ihr zurück, aus verschiedenen Richtungen, zu immer anderen Treffpunkten. Einerseits, weil man so oft am besten lernt – nicht durch ein einmaliges Erlebnis oder durch sture Wiederholung, sondern durch Variation. Und andererseits, weil man sein Verhältnis zur Zeit nicht ein für alle Mal klären kann.
Dagegen kann man lernen, die Symptome wieder zu erkennen. Und sich einige Standardtricks zulegen, mit denen man aus dem destruktiven Zeitwirbel auszubrechen vermag.
Freie Zeit
Ob man sich nun zu der Lebenslüge bekennt, man habe wenig Zeit, oder dazu, Zeit genug zu haben – ein verändertes Zeitempfinden führt auf jeden Fall zu neuen Prioritäten in Bezug auf das, was man tut und wie man seine Zeit verwendet. Wer einen voll gepackten Terminkalender hat, stellt regelmäßig fest, dass die vielen Termine und Verabredungen sich gegenseitig Konkurrenz machen. Er muss ständig neue Prioritäten festlegen. (Aber auch wer freie Zeit erleben will, muss Prioritäten setzen.) Er muss Dinge aufgeben, um andere zu tun. Muss etwas fallen lassen, um sich etwas anderes gönnen zu können. Muss sein Leben so einrichten, dass das Projekt »freie Zeit« auf die Bühne treten kann. Um neue Dinge denken und unternehmen zu können. Das erfordert Zeit und Raum, die Umgebung muss mehr Rücksicht nehmen und auf Störungen verzichten. Und – vor allem – man muss aufhören, sich selbst dauernd abzulenken und sich von all dem Kleinkram auffressen zu lassen.
Viele Bälle gleichzeitig in der Luft zu halten, heißt nicht, auch mit allen zugleich zu jonglieren. Vielleicht muss man ganz ungestört sein, wenn man sie auffängt, einen nach dem anderen. Danach können sie auch mal in rascher Folge wechseln, es dürfen nur nicht zu viele werden. Wo die Grenze verläuft, ist bei jedem anders. Selbst kann ich sehr viele Bälle im Griff halten, aber wenn dann noch einer und noch einer dazukommt, taucht die Grenze in geradezu lächerlicher Deutlichkeit auf. Wenn ich diese Grenze überschreite, verliere ich die Kontrolle und lasse auch den einen Ball fallen, den ich krampfhaft festzuhalten versuche. Jeder Gedanke und jede Handlung braucht mehr und mehr Zeit, je mehr Bälle ich dazunehme.
Ein Lob der Vielfalt
Vor langer Zeit habe ich mir das Altern wie einen umgedrehten Trichter vorgestellt – das Leben, dachte ich, würde immer enger und gleichförmiger werden. Was ich bisher erlebt habe, lässt auf das genaue Gegenteil schließen. Da, als ich jung war, niemand mit mir über solche Themen gesprochen hat, möchte ich es gerne hier und jetzt bezeugen. Das Leben verliert mit dem Alter nicht zwangsläufig an Qualität. Es ist auch möglich, dass unser Erleben mit jedem Tag stärker wird. Schließlich haben wir so viel erlebt, dass jede neue Erfahrung eine ganze Reihe von Assoziationen auslöst. Eine solche Vielfalt hätte ich vor dreißig Jahren nicht erfahren können, ganz einfach, weil ich noch nicht so viel erlebt hatte. Das ist wie bei der Biologin, die mehrere hundert Grassorten unterscheidet, wo ein anderer nur grün und immer wieder grün sieht. Oder wie bei dem erfahrenen Musikliebhaber, der in der Fülle der Musik versinkt oder einzelne Stimmen heraushört oder sich vielleicht Gedanken über die Ähnlichkeiten mit anderen Kompositionen macht. Das Erleben solcher Menschen ist naturgemäß reicher als das anderer. Und deshalb wird ihr nächstes Erlebnis noch reicher sein. Der Trichter verbreitert sich. Sofern man nicht blasiert wird, versteht sich.
Im Laufe der Jahre hat sich bei mir, und das ist sicher vielen vertraut, ganz tief im Inneren ein Kern der Zuversicht und Geborgenheit gebildet. Ich traue mir zu, zu handeln, etwas auszuprobieren, zu empfinden und zu erleben. Auf diese Weise erweitere ich meine Grenzen und drehe den Trichter um, das Leben wird breiter, nicht enger.
Manchmal fällt mir auf, wie wenig ich mich an die Zeit erinnere, als mein Leben einfach so dahinrollte. Ich erinnere mich daran wie an eine Stimmung, einen Glücksschimmer. Und das ist bereits viel. Aber mehr ist mir davon auch nicht geblieben. Was in meiner Erinnerung lebendig geblieben ist, was sich mir eingeprägt hat, ist das, was wirklich schwierig gewesen ist. Nicht, dass ich mich in meinen Problemen suhle oder sie immer wieder durchkaue. Zum Glück habe ich keinerlei Hang zur Verbitterung. Im Gegenteil, wenn die Probleme hinter mir liegen, freue ich mich fast immer darüber, dass es sie gab. Erst sie haben es mir ermöglicht, mehr zu erleben, mehr zu wagen, mehr zu wollen und die Zeit anders zu empfinden.
Abwechselnde Aktivitäten
Es bringt Vor- und Nachteile mit sich, wenn man verschiedene Aktivitäten aufeinander folgen lässt und zwischendurch Pausen einlegt (sofern man mit dem unproduktiven und bohrenden Stress, der in den Übergangsphasen auftritt, umgehen kann).
Ein Vorteil der abwechselnden Aktivitäten kann das sein, was ich DD – »Denken dauert« – nenne (Kapitel 5). Verhält es sich möglicherweise so, dass wir uns manchmal ein wenig langweilen, einen Gedanken alt werden lassen müssen, damit er in dem Bereich unseres Inneren, der sich unserem Einfluss entzieht, reifen kann? Man kann nicht ununterbrochen Neues denken. Man braucht auch Pausen. Und die kann man sich verschaffen, indem man tatsächlich eine Pause einlegt oder einfach etwas ganz anderes tut.
Ein Nachteil abwechselnder Aktivitäten kann darin liegen, dass der Wechsel so unverhältnismäßig viel Zeit kostet. Die Startphase ist so lang und die Bremsstrecke auch, dass für die eigentliche Aktivität einfach keine Zeit mehr bleibt. Ich gehe im dritten Kapitel unter der Überschrift »Rüstzeit« näher darauf ein.
Ein Vorteil ist, dass man der Monotonie entgeht.
Ein Nachteil dagegen, dass man sich vielleicht aus der Menge der möglichen Aktivitäten nur die leichten, rasch zu erledigenden aussucht und dass auf diese Weise Wichtiges ungeschehen bleibt: die schwierigen, auf Dauer angelegten und letztlich befriedigenden Aktivitäten.
Stillstand und Bewegung
In Stillstand und Bewegung kommen unterschiedliche Eigenschaften zum Tragen. Das gilt für Menschen und Materie gleichermaßen. Stellen Sie sich eine Flasche Sirup vor. Was können Sie über die Eigenschaften des Sirups aussagen, solange Sie die Flasche nicht auf den Kopf stellen? Sie sehen die Farbe, Sie können einen Finger hineinstecken und den Sirupgeschmack kosten. Aber dass Sirup ausgesprochen zähflüssig ist, können Sie erst in Erfahrung bringen, wenn Sie die Flasche umdrehen und ihren Inhalt in Bewegung setzen. Dann treten seine dynamischen Eigenschaften zutage.
Im statischen Zustand kommen dynamische Eigenschaften nicht zum Vorschein. Wir begegnen gleichsam einem neuen Menschen, wenn wir dynamische Eigenschaften bei jemandem entdecken, den wir bisher nur in Situationen des Stillstands erlebt haben. Der Mensch, der im Wald mit Ihnen am Lagerfeuer vor dem Zelt sitzt, ist nur teilweise dieselbe Person wie mitten im hektischen Alltag der Großstadt.
Es ist also nicht überraschend, dass Stellenangebote in den Zeitungen heute andere Eigenschaften fordern als früher. Früher waren Zuverlässigkeit und Stabilität (statische Eigenschaften) gefragt, heute sind es Kreativität, Flexibilität und Tatkraft.
Gleichzeitigkeit
Früher sorgte die Zeit für den Lauf der Dinge. Mit der Zeit hatte die Natur ein wunderbares Instrument gefunden, um zu verhindern, dass alles auf einmal geschah. Jetzt scheint diese Eigenschaft der Zeit aufgehoben zu sein – (fast) alles passiert gleichzeitig. Der unsichtbare Stiefel, der früher zwischen Dauerhaftigkeit und flüchtiges Tagesgeschehen trat, indem er tagaus tagein über alle Erfindungen, Forschungsergebnisse und Moden hinwegschritt, hat seine Funktion eingebüßt. Alle unsere Zukunftsbilder könnten sich als irrelevant erweisen, weil uns vielleicht gar nicht mehr viel Zukunft bleibt.
Ein schrecklicher Gedanke? Ja, vielleicht. Aber es ist auch wunderbar, dass ich gerade jetzt