Zeit. Bodil Jönsson

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Zeit - Bodil Jönsson


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die uns gerade jetzt gehört. Gleichzeitigkeit ist ein wichtiger Begriff. Natürlich kennen Sie nicht alle jetzt lebenden Menschen, die Sie vielleicht gerne kennen lernen würden, aber zumindest theoretisch hindert Sie nichts daran, jeden beliebigen jetzt lebenden Menschen zu treffen. Mit Menschen aus Vergangenheit und Zukunft zu sprechen, ist dagegen unmöglich. Das ist auch auf der Ebene der Nationen und Staaten von Bedeutung. Wenn ein Land heute ein anderes zum Beispiel dadurch bedroht, dass es ihm den Zugang zum Wasser versperrt, dann entsteht ein Konflikt, der heute gelöst werden muss. Doch wenn eine Generation in einem Land einer kommenden Generation dort oder anderswo den Zugang zum Wasser nimmt, dann macht die fehlende Gleichzeitigkeit eine Lösung des Konflikts unmöglich. Zwischen den verschiedenen Parteien, zwischen Tätern und Opfern, ist kein Gespräch möglich.

      Das Einzigartige der Zeit

      Zeit macht sich auf sehr greifbare Weise bemerkbar, wenn es um Geburten oder Todesfälle geht. Plötzlich ist ein neuer kleiner Mensch da, der all seine Zeit noch vor sich hat und vielleicht die Ihre beansprucht. Ein anderer Mensch stirbt, und Sie können Ihre Zeit nicht mehr mit ihm teilen. Die Zeit (jene vielleicht 30 000 Tage, die uns zur Verfügung stehen) gemahnt uns an die Vergänglichkeit und Begrenztheit des menschlichen Lebens. Oder wagen wir nicht, darüber nachzudenken? Wurzellosigkeit hat nicht nur physische oder soziale Ursachen. Es gibt auch eine zeitliche Wurzellosigkeit. Doch dieser Gedanke ist fast schon ein Tabu.

      Unser Alltag ist erfüllt von Ereignissen, Menschen und Orten. Dann und wann behaupten wir, im Hier und Jetzt zu leben oder von nun an nur noch leben zu wollen. Doch im Jetzt werden wir handlungsunfähig, wenn wir nicht wissen, was wir in einem Monat tun werden. Das Bild der Zukunft ist unerlässlich für ein Leben im Jetzt. Das gilt auch für die Vergangenheit und für die Erinnerungen, auf die wir zurückgreifen können. Damals, jetzt und später sind die Ecksteine im Strom des Lebens.

      Die Sonderstellung, das Einzigartige der Zeit auch mitten im Alltag begreiflich werden zu lassen, dazu möchte ich gerne beitragen. »Zeit, das einzige, was uns gehört«, das ist eine Tatsache, die man als etwas Erfreuliches, als Denkanstoß oder als drängende Herausforderung auffassen kann – je nach Lust und Laune.

      2. Kapitel

      Uhrzeit und empfundene Zeit

      Jeder Mensch besitzt innere »Spione«, die mal mehr, mal weniger aktiv sind. Eine Frau, die gerade von ihrer Schwangerschaft erfahren hat, sieht überall andere Schwangere und Eltern mit Kinderwagen. Wer sich einredet, dass der Leberfleck auf dem Rücken gefährlich sein könnte, spürt die ganze Zeit, wie die Bluse darauf scheuert. Beim Pilzesammeln sehen gelbe Birkenblätter leicht aus wie Pfifferlinge. Was ein Mensch wahrnimmt, wird in hohem Maße von diesen »Spionen« bestimmt. Vielleicht sollten wir uns eher als Suchende verstehen denn als Empfangende?

      Mitunter sind bestimmte Kenntnisse ausschlaggebend dafür, was und wie intensiv wir etwas erleben. Wie für die Biologin angesichts der Vielfalt der Arten und für den Musikliebhaber im Konzertsaal. Wie für die Astronomin, die am Nachthimmel mehr und auf andere Weise sieht als der Amateur.

      Wie viele Augenblicke hat eine Viertelstunde?

      Mit der Zeit verhält es sich jedoch anders. Dafür besitzen wir kaum innere Spione. Uns ist es nicht gegeben, Profis des Zeitempfindens zu werden. Aber man kann vieles andere lernen – zum Beispiel pünktlich zu kommen, man kann eine Uhrmacherlehre machen oder als Logistik-Spezialist Zeitströme lenken, man kann als Projektleiter die Abfolge bestimmter Aufgaben akribisch nach Zeitintervallen berechnen, und man kann als Physikerin theoretisch und experimentell das Wesen der Zeit ergründen. Aber wenn ich mich frage: »Wie viele Augenblicke hat eine Viertelstunde?« oder »Wie viele Augenblicke hat eine Weile?«, dann hilft mir all mein physikalisches Wissen nicht weiter. Natürlich kann ich als Physikerin erklären, wie eine Sekunde definiert wird und was fünfzehn Minuten sind. Aber das hilft mir nicht, wenn ich – ohne andere Maßstäbe als mir selbst – beschreiben soll, wie lange eine Viertelstunde oder eine Weile sind.

      Ich glaube, man sollte zwei verschiedene Arten von Zeit unterscheiden: die persönliche (empfundene) Zeit einerseits und die Uhrzeit (eigentlich »Atomzeit«) andererseits. Beide Zeitarten haben nichts miteinander gemein. Ohne besondere Hilfsmittel kann der Mensch objektive Zeit – die Uhrzeit – nur eingeschränkt wahrnehmen. Unsere inneren Uhren gehen jeden Tag, jede Stunde, ja, vielleicht sogar jede Minute anders. Sie sind alles andere als zuverlässig.

      Doch die empfundene Zeit verstreicht im Grunde nicht anders als die Uhrzeit – nur gelten beide Zeiten in unterschiedlichen Dimensionen. Meine persönliche Zeit, mein individuelles Zeitempfinden kann ich nur nach meinem eigenen Takt einteilen – um so ein Zeitmaß zu gewinnen, das den Bezug zu der anderen, künstlichen Zeitmessung erlaubt. Seltsam, oder?

      So seltsam ist es eigentlich gar nicht. Technische Gegenstände dienen oft der Aufgabe, etwas Zwischenmenschliches zu erleichtern. Mancher hält Technik für etwas Unmenschliches. Aber das stimmt nicht. Menschen verhalten sich menschlich oder nicht. Technik ist einfach technisch – es sei denn, sie sei dermaßen fehlkonstruiert, dass man sie als »untechnisch« bezeichnen müsste. Was Mensch und Technik verbindet, sind eigentlich die Beziehungen der Menschen untereinander. Das Telefon wäre ja nicht erfunden worden, wenn es nicht Menschen gäbe, die wir anrufen können. Es hätte niemals Eisenbahnen gegeben, wenn wir niemanden besuchen könnten. Und ganz bestimmt gibt es Präzisionsuhren nur deshalb, weil wir uns mit anderen Menschen verabreden wollen oder mit ihnen klären müssen, wie viel Zeit für eine bestimmte Aktivität zur Verfügung steht.

      Definierte, messbare Zeit: Uhrzeit

      Die künstliche Uhrzeit zu beschreiben ist kein Problem, da hat man sich auf Definitionen geeinigt. Uhrzeit wird wie andere physikalische Größen auch in bestimmten Einheiten gemessen. Zusammen mit Nina Reistad habe ich das Buch »Experimentelle Physik« geschrieben. Wir weisen darin u.a. darauf hin, dass es nicht weiter verwundern sollte, dass eine Sekunde so lang ist, wie sie eben ist, dass es schon Gründe gibt, warum ein Kilogramm dieses bestimmte Gewicht hat und ein Meter seine bestimmte Länge. Solche Maßeinheiten besitzen zweckmäßigerweise eine Größe, die man handhaben kann. Die Zeiteinheit Sekunde entspricht ziemlich genau dem Intervall zwischen zwei Herzschlägen. Die Maßeinheit Kilogramm ist ebenfalls sinnvoll – der Mensch wiegt soundso viel Kilogramm. Die Längeneinheit Meter ist naheliegend, denn die meisten Menschen sind zwischen einem und zwei Metern groß. Die Temperatureinheit von einem Grad Celsius passt ebenfalls ganz gut, denn man spürt recht genau, wenn sich die Temperatur um ein oder zwei Grad verändert.

      Trotzdem bleibt es erstaunlich, dass diese Maßeinheiten überall auf der Erde verbreitet sind. Selbst Menschen in Weltgegenden, die nicht in Meter, Kilogramm, Grad Celsius messen, können mit Größen wie 1 m, 1 kg, 1 °C umgehen – sogar von einem System ins andere umrechnen. Und was die Zeit betrifft, so ist es doch bemerkenswert, dass eine Sekunde überall auf der Welt als Einheit akzeptiert wird.

      Entfernung und Zeit

      Maßeinheiten sollten unveränderlich sein. Deshalb orientierte man sich früher an Phänomenen, die man beobachten konnte und für dauerhaft hielt. Folglich wurden die verschiedenen Maßeinheiten mit geografischen und astronomischen Phänomenen verknüpft. Zum Beispiel legte man die Längeneinheit 1 Meter als ein Zehnmillionstel der Entfernung zwischen Äquator und Nordpol in Höhe der Meeresoberfläche fest. Zeitbegriff und Zeiteinheiten wurden an astronomische Bewegungsphänomene gekoppelt. Als sich die Messtechniken verbessert hatten, stellte man jedoch fest, dass Himmelsphänomene durchaus nicht unveränderlich waren.

      Im Jahre 1870 erklärte der englische Physiker James Clerk Maxwell: »Wenn wir absolute, unveränderliche Einheiten für Zeit, Länge und Masse gewinnen wollen, dürfen wir uns nicht an Bewegung oder Masse der Planeten halten, sondern müssen uns an Wellenlänge, Frequenzen und Massen von unvergänglichen, unveränderlichen und vollständig gleichartigen Atomen orientieren.«

      Tatsächlich definieren wir heute den Meter anhand atomarer Wellenlängen und die Sekunde auf der Basis von Strahlungsfrequenzen


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