Gesammelte Werke: Psychoanalytische Studien, Theoretische Schriften & Briefe. Sigmund Freud

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Gesammelte Werke: Psychoanalytische Studien, Theoretische Schriften & Briefe - Sigmund Freud


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in Liebe umarmt hat; auch von einer intimen seelischen Beziehung zu einer Frau, wie die Michelangelos zur Vittoria Colonna, ist nichts bekannt. Als er noch als Lehrling im Hause seines Meisters Verrocchio lebte, traf ihn mit anderen jungen Leuten eine Anzeige wegen verbotenen homosexuellen Umganges, die mit seinem Freispruch endete. Es scheint, daß er in diesen Verdacht geriet, weil er sich eines übel beleumundeten Knaben als Modells bediente. Als Meister umgab er sich mit schönen Knaben und Jünglingen, die er zu Schülern annahm. Der letzte dieser Schüler, Francesco Melzi, begleitete ihn nach Frankreich, blieb bis zu seinem Tode bei ihm und wurde von ihm zum Erben eingesetzt. Ohne die Sicherheit seiner modernen Biographen zu teilen, die die Möglichkeit eines sexuellen Verkehrs zwischen ihm und seinen Schülern natürlich als eine grundlose Beschimpfung des großen Mannes verwerfen, mag man es für weitaus wahrscheinlicher halten, daß die zärtlichen Beziehungen Leonardos zu den jungen Leuten, die nach damaliger Schülerart sein Leben teilten, nicht in geschlechtliche Betätigung ausliefen. Man wird ihm auch von sexueller Aktivität kein hohes Maß zumuten dürfen.

      Die Eigenart dieses Gefühls-und Geschlechtslebens läßt sich im Zusammenhalt mit Leonardos Doppelnatur als Künstler und Forscher nur in einer Weise begreifen. Von den Biographen, denen psychologische Gesichtspunkte oft sehr ferne liegen, hat meines Wissens nur einer, Edm. Solmi, sich der Lösung des Rätsels genähert; ein Dichter aber, der Leonardo zum Helden eines großen historischen Romans gewählt hat, Dmitry Sergewitsch Mereschkowski, hat seine Darstellung auf solches Verständnis des ungewöhnlichen Mannes gegründet und seine Auffassung, wenn auch nicht in dürren Worten, so doch nach der Weise des Dichters in plastischem Ausdruck unverkennbar geäußert. Solmi urteilt über Leonardo: »Aber das unstillbare Verlangen, alles ihn Umgebende zu erkennen und mit kalter Überlegenheit das tiefste Geheimnis alles Vollkommenen zu ergründen, hatte Leonardos Werke dazu verdammt, stets unfertig zu bleiben.« In einem Aufsatze der Conference Fiorentine wird die Äußerung Leonardos zitiert, die sein Glaubensbekenntnis und den Schlüssel zu seinem Wesen ausliefert:

      »Nessuna cosa si può amare nè odiare, se prima non si ha cognition di quella.«

      Also: Man hat kein Recht, etwas zu lieben oder zu hassen, wenn man sich nicht eine gründliche Erkenntnis seines Wesens verschafft hat. Und dasselbe wiederholt Leonardo an einer Stelle des Traktats von der Malerei, wo er sich gegen den Vorwurf der Irreligiosität zu verteidigen scheint:

      »Solche Tadler mögen aber stillschweigen. Denn jenes (Tun) ist die Weise, den Werkmeister so vieler bewundernswerter Dinge kennenzulernen, und dies der Weg, einen so großen Erfinder zu lieben. Denn wahrlich, große Liebe entspringt aus großer Erkenntnis des geliebten Gegenstandes, und wenn du diesen wenig kennst, so wirst du ihn nur wenig oder gar nicht lieben können …«

      Der Wert dieser Äußerungen Leonardos kann nicht darin gesucht werden, daß sie eine bedeutsame psychologische Tatsache mitteilen, denn was sie behaupten, ist offenkundig falsch, und Leonardo mußte dies ebensogut wissen wie wir. Es ist nicht wahr, daß die Menschen mit ihrer Liebe oder ihrem Haß warten, bis sie den Gegenstand, dem diese Affekte gelten, studiert und in seinem Wesen erkannt haben, vielmehr lieben sie impulsiv auf Gefühlsmotive hin, die mit Erkenntnis nichts zu tun haben und deren Wirkung durch Besinnung und Nachdenken höchstens abgeschwächt wird. Leonardo konnte also nur gemeint haben, was die Menschen üben, das sei nicht die richtige, einwandfreie Liebe, man sollte so lieben, daß man den Affekt aufhalte, ihn der Gedankenarbeit unterwerfe und erst frei gewähren lasse, nachdem er die Prüfung durch das Denken bestanden hat. Und wir verstehen dabei, daß er uns sagen will, bei ihm sei es so; es wäre für alle anderen erstrebenswert, wenn sie es mit Liebe und Haß so hielten wie er selbst.

      Und bei ihm scheint es wirklich so gewesen zu sein. Seine Affekte waren gebändigt, dem Forschertrieb unterworfen; er liebte und haßte nicht, sondern fragte sich, woher das komme, was er lieben oder hassen solle, und was es bedeute, und so mußte er zunächst indifferent erscheinen gegen Gut und Böse, gegen Schönes und Häßliches. Während dieser Forscherarbeit warfen Liebe und Haß ihre Vorzeichen ab und wandelten sich gleichmäßig in Denkinteresse um. In Wirklichkeit war Leonardo nicht leidenschaftslos, er entbehrte nicht des göttlichen Funkens, der mittelbar oder unmittelbar die Triebkraft – il primo motore – alles menschlichen Tuns ist. Er hatte die Leidenschaft nur in Wissensdrang verwandelt; er ergab sich nun der Forschung mit jener Ausdauer, Stetigkeit, Vertiefung, die sich aus der Leidenschaft ableiten, und auf der Höhe der geistigen Arbeit, nach gewonnener Erkenntnis, läßt er den lange zurückgehaltenen Affekt losbrechen, frei abströmen wie einen vom Strome abgeleiteten Wasserarm, nachdem er das Werk getrieben hat. Auf der Höhe einer Erkenntnis, wenn er ein großes Stück des Zusammenhanges überschauen kann, dann erfaßt ihn das Pathos und er preist in schwärmerischen Worten die Großartigkeit jenes Stückes der Schöpfung, das er studiert hat, oder – in religiöser Einkleidung – die Größe seines Schöpfers. Solmi hat diesen Prozeß der Umwandlung bei Leonardo richtig erfaßt. Nach dem Zitat einer solchen Stelle, in der Leonardo den hehren Zwang der Natur (»O mirabile necessità…«) gefeiert hat, sagt er: Tale trasfigurazione della scienza della natura in emozione, quasi direi, religiosa, è uno dei tratti caratteristici de’ manoscritti vinciani, e si trova cento e cento volte espressa ...

      Man hat Leonardo wegen seines unersättlichen und unermüdlichen Forscherdranges den italienischen Faust geheißen. Aber von allen Bedenken gegen die mögliche Rückverwandlung des Forschertriebs in Lebenslust abgesehen, die wir als die Voraussetzung der Fausttragödie annehmen müssen, möchte man die Bemerkung wagen, daß die Entwicklung Leonardos an spinozistische Denkweise streift.

      Die Umsetzungen der psychischen Triebkraft in verschiedene Formen der Betätigung sind vielleicht ebensowenig ohne Einbuße konvertierbar wie die der physikalischen Kräfte. Das Beispiel Leonardos lehrt, wie vielerlei anderes an diesen Prozessen zu verfolgen ist. Aus dem Aufschub, erst zu lieben, nachdem man erkannt hat, wird ein Ersatz. Man liebt und haßt nicht mehr recht, wenn man zur Erkenntnis durchgedrungen ist; man bleibt jenseits von Liebe und Haß. Man hat geforscht, anstatt zu lieben. Und darum vielleicht ist Leonardos Leben so viel ärmer an Liebe gewesen als das anderer Großer und anderer Künstler. Die stürmischen Leidenschaften erhebender und verzehrender Natur, in denen andere ihr Bestes erlebten, scheinen ihn nicht getroffen zu haben.

      Und noch andere Folgen. Man hat auch geforscht, anstatt zu handeln, zu schaffen. Wer die Großartigkeit des Weltzusammenhanges und dessen Notwendigkeiten zu ahnen begonnen hat, der verliert leicht sein eigenes kleines Ich. In Bewunderung versunken, wahrhaft demütig geworden, vergißt man zu leicht, daß man selbst ein Stück jener wirkenden Kräfte ist und es versuchen darf, nach dem Ausmaß seiner persönlichen Kraft ein Stückchen jenes notwendigen Ablaufes der Welt abzuändern, der Welt, in welcher das Kleine doch nicht minder wunderbar und bedeutsam ist als das Große.

      Leonardo hatte vielleicht, wie Solmi meint, im Dienste seiner Kunst zu forschen begonnen, er bemühte sich um die Eigenschaften und Gesetze des Lichts, der Farben, Schatten, der Perspektive, um sich die Meisterschaft in der Nachahmung der Natur zu sichern und anderen den gleichen Weg zu weisen. Wahrscheinlich überschätzte er schon damals den Wert dieser Kenntnisse für den Künstler. Dann trieb es ihn, noch immer am Leitseil des malerischen Bedürfnisses, zur Erforschung der Objekte der Malerei, der Tiere und Pflanzen, der Proportionen des menschlichen Körpers, vom Äußeren derselben weg zur Kenntnis ihres inneren Baues und ihrer Lebensfunktionen, die sich ja auch in ihrer Erscheinung ausdrücken und von der Kunst Darstellung verlangen. Und endlich riß ihn der übermächtig gewordene Trieb fort, bis der Zusammenhang mit den Anforderungen seiner Kunst zerriß, so daß er die allgemeinen Gesetze der Mechanik auffand, daß er die Geschichte der Ablagerungen und Versteinerungen im Arnotal erriet und bis daß er in sein Buch mit großen Buchstaben die Erkenntnis eintragen konnte: Il sole non si move. Auf so ziemlich alle Gebiete der Naturwissenschaft dehnte er seine Forschungen aus, auf jedem einzelnen ein Entdecker oder wenigstens Vorhersager und Pfadfinder. Doch blieb sein Wissensdrang auf die Außenwelt gerichtet, von der Erforschung des Seelenlebens der Menschen hielt ihn etwas fern; in der »Academia Vinciana«, für die er kunstvoll verschlungene Embleme zeichnete, war für die Psychologie wenig Raum.

      Versuchte er dann von der Forschung zur Kunstübung zurückzukehren, von der er ausgegangen war, so erfuhr er an sich die Störung durch die neue Einstellung seiner Interessen und die veränderte Natur seiner psychischen Arbeit.


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