Gesammelte Werke: Psychoanalytische Studien, Theoretische Schriften & Briefe. Sigmund Freud
Читать онлайн книгу.gewohnt war. Er brachte sich nicht mehr dazu, seinen Anspruch zu beschränken, das Kunstwerk zu isolieren, es aus dem großen Zusammenhang zu reißen, in den er es gehörig wußte. Nach den erschöpfendsten Bemühungen, alles in ihm zum Ausdruck zu bringen, was sich in seinen Gedanken daran knüpfte, mußte er es unfertig im Stiche lassen oder es für unvollendet erklären.
Der Künstler hatte einst den Forscher als Handlanger in seinen Dienst genommen, nun war der Diener der Stärkere geworden und unterdrückte seinen Herrn.
Wenn wir im Charakterbilde einer Person einen einzigen Trieb überstark ausgebildet finden, wie bei Leonardo die Wißbegierde, so berufen wir uns zur Erklärung auf eine besondere Anlage, über deren wahrscheinlich organische Bedingtheit meist noch nichts Näheres bekannt ist. Durch unsere psychoanalytischen Studien an Nervösen werden wir aber zwei weiteren Erwartungen geneigt, die wir gern in jedem einzelnen Falle bestätigt finden möchten. Wir halten es für wahrscheinlich, daß jener überstarke Trieb sich bereits in der frühesten Kindheit der Person betätigt hat und daß seine Oberherrschaft durch Eindrücke des Kinderlebens festgelegt wurde, und wir nehmen ferner an, daß er ursprünglich sexuelle Triebkräfte zu seiner Verstärkung herangezogen hat, so daß er späterhin ein Stück des Sexuallebens vertreten kann. Ein solcher Mensch würde also zum Beispiel forschen mit jener leidenschaftlichen Hingabe, mit der ein anderer seine Liebe ausstattet, und er könnte forschen, anstatt zu lieben. Nicht nur beim Forschertrieb, sondern auch in den meisten anderen Fällen von besonderer Intensität eines Triebes würden wir den Schluß auf eine sexuelle Verstärkung desselben wagen.
Die Beobachtung des täglichen Lebens der Menschen zeigt uns, daß es den meisten gelingt, ganz ansehnliche Anteile ihrer sexuellen Triebkräfte auf ihre Berufstätigkeit zu leiten. Der Sexualtrieb eignet sich ganz besonders dazu, solche Beiträge abzugeben, da er mit der Fähigkeit der Sublimierung begabt, das heißt imstande ist, sein nächstes Ziel gegen andere, eventuell höher gewertete und nicht sexuelle, Ziele zu vertauschen. Wir halten diesen Vorgang für erwiesen, wenn uns die Kindergeschichte, also die seelische Entwicklungsgeschichte, einer Person zeigt, daß zur Kinderzeit der übermächtige Trieb im Dienste sexueller Interessen stand. Wir finden eine weitere Bestätigung darin, wenn sich im Sexualleben reifer Jahre eine auffällige Verkümmerung dartut, gleichsam als ob ein Stück der Sexualbetätigung nun durch die Betätigung des übermächtigen Triebes ersetzt wäre.
Die Anwendung dieser Erwartungen auf den Fall des übermächtigen Forschertriebes scheint besonderen Schwierigkeiten zu unterliegen, daman gerade den Kindern weder diesen ernsthaften Trieb noch bemerkenswerte sexuelle Interessen zutrauen möchte. Indes sind diese Schwierigkeiten leicht zu beheben. Von der Wißbegierde der kleinen Kinder zeugt deren unermüdliche Fragelust, die dem Erwachsenen rätselhaft ist, solange er nicht versteht, daß alle diese Fragen nur Umschweife sind und daß sie kein Ende nehmen können, weil das Kind durch sie nur eine Frage ersetzen will, die es doch nicht stellt. Ist das Kind größer und einsichtsvoller geworden, so bricht diese Äußerung der Wißbegierde oft plötzlich ab. Eine volle Aufklärung gibt uns aber die psychoanalytische Untersuchung, indem sie uns lehrt, daß viele, vielleicht die meisten, jedenfalls die bestbegabten Kinder etwa vom dritten Lebensjahr an eine Periode durchmachen, die man als die der infantilen Sexualforschung bezeichnen darf. Die Wißbegierde erwacht bei den Kindern dieses Alters, soviel wir wissen, nicht spontan, sondern wird durch den Eindruck eines wichtigen Erlebnisses geweckt, durch die erfolgte oder nach auswärtigen Erfahrungen gefürchtete Geburt eines Geschwisterchens, in der das Kind eine Bedrohung seiner egoistischen Interessen erblickt. Die Forschung richtet sich auf die Frage, woher die Kinder kommen, geradeso, als ob das Kind nach Mitteln und Wegen suchte, ein so unerwünschtes Ereignis zu verhüten. Wir haben so mit Erstaunen erfahren, daß das Kind den ihm gegebenen Auskünften den Glauben verweigert, zum Beispiel die mythologisch so sinnreiche Storchfabel energisch abweist, daß es von diesem Akte des Unglaubens an seine geistige Selbständigkeit datiert, sich oft in erstem Gegensatze zu den Erwachsenen fühlt und diesen eigentlich niemals mehr verzeiht, daß es bei diesem Anlasse um die Wahrheit betrogen wurde. Es forscht auf eigenen Wegen, errät den Aufenthalt des Kindes im Mutterleibe und schafft sich, von den Regungen der eigenen Sexualität geleitet, Ansichten über die Herkunft des Kindes vom Essen, über sein Geborenwerden durch den Darm, über die schwer zu ergründende Rolle des Vaters, und es ahnt bereits damals die Existenz des sexuellen Aktes, der ihm als etwas Feindseliges und Gewalttätiges erscheint. Aber wie seine eigene Sexualkonstitution der Aufgabe der Kinderzeugung noch nicht gewachsen ist, so muß auch seine Forschung, woher die Kinder kommen, im Sande verlaufen und als unvollendbar im Stiche gelassen werden. Der Eindruck dieses Mißglückens bei der ersten Probe intellektueller Selbständigkeit scheint ein nachhaltiger und tief deprimierender zu sein.
Wenn die Periode der infantilen Sexualforschung durch einen Schub energischer Sexualverdrängung abgeschlossen worden ist, leiten sich für das weitere Schicksal des Forschertriebes drei verschiedene Möglichkeiten aus seiner frühzeitlichen Verknüpfung mit sexuellen Interessen ab. Entweder die Forschung teilt das Schicksal der Sexualität, die Wißbegierde bleibt von da an gehemmt und die freie Betätigung der Intelligenz vielleicht für Lebenszeit eingeschränkt, besonders da kurze Zeit nachher durch die Erziehung die mächtige religiöse Denkhemmung zur Geltung gebracht wird. Dies ist der Typus der neurotischen Hemmung. Wir verstehen sehr wohl, daß die so erworbene Denkschwäche dem Ausbruch einer neurotischen Erkrankung wirksamen Vorschub leistet. In einem zweiten Typus ist die intellektuelle Entwicklung kräftig genug, um der an ihr zerrenden Sexualverdrängung zu widerstehen. Einige Zeit nach dem Untergang der infantilen Sexualforschung, wenn die Intelligenz erstarkt ist, bietet sie eingedenk der alten Verbindung ihre Hilfe zur Umgehung der Sexualverdrängung, und die unterdrückte Sexualforschung kehrt als Grübelzwang aus dem Unbewußten zurück, allerdings entstellt und unfrei, aber mächtig genug, um das Denken selbst zu sexualisieren und die intellektuellen Operationen mit der Lust und der Angst der eigentlichen Sexualvorgänge zu betonen. Das Forschen wird hier zur Sexualbetätigung, oft zur ausschließlichen, das Gefühl der Erledigung in Gedanken, der Klärung, wird an die Stelle der sexuellen Befriedigung gesetzt; aber der unabschließbare Charakter der Kinderforschung wiederholt sich auch darin, daß dies Grübeln nie ein Ende findet und daß das gesuchte intellektuelle Gefühl der Lösung immer weiter in die Ferne rückt.
Der dritte, seltenste und vollkommenste, Typus entgeht kraft besonderer Anlage der Denkhemmung wie dem neurotischen Denkzwang. Die Sexualverdrängung tritt zwar auch hier ein, aber es gelingt ihr nicht, einen Partialtrieb der Sexuallust ins Unbewußte zu weisen, sondern die Libido entzieht sich dem Schicksal der Verdrängung, indem sie sich von Anfang an in Wißbegierde sublimiert und sich zu dem kräftigen Forschertrieb als Verstärkung schlägt. Auch hier wird das Forschen gewissermaßen zum Zwang und zum Ersatz der Sexualbetätigung, aber infolge der völligen Verschiedenheit der zugrunde liegenden psychischen Prozesse (Sublimierung anstelle des Durchbruchs aus dem Unbewußten) bleibt der Charakter der Neurose aus, die Gebundenheit an die ursprünglichen Komplexe der infantilen Sexualforschung entfällt, und der Trieb kann sich frei im Dienste des intellektuellen Interesses betätigen. Der Sexualverdrängung, die ihn durch den Zuschuß von sublimierter Libido so stark gemacht hat, trägt er noch Rechnung, indem er die Beschäftigung mit sexuellen Themen vermeidet.
Wenn wir das Zusammentreffen des übermächtigen Forschertriebes bei Leonardo mit der Verkümmerung seines Sexuallebens erwägen, welches sich auf sogenannte ideelle Homosexualität einschränkt, werden wir geneigt sein, ihn als einen Musterfall unseres dritten Typus in Anspruch zu nehmen. Daß es ihm nach infantiler Betätigung der Wißbegierde im Dienste sexueller Interessen dann gelungen ist, den größeren Anteil seiner Libido in Forscherdrang zu sublimieren, das wäre der Kern und das Geheimnis seines Wesens. Aber freilich der Beweis für diese Auffassung ist nicht leicht zu erbringen. Wir bedürften hiezu eines Einblickes in die seelische Entwicklung seiner ersten Kinderjahre, und es erscheint töricht, auf solches Material zu hoffen, wenn die Nachrichten über sein Leben so spärlich und so unsicher sind und wenn es sich überdies um Auskünfte über Verhältnisse handelt, die sich noch bei Personen unserer eigenen Generation der Aufmerksamkeit der Beobachter entziehen.
Wir wissen sehr wenig von der Jugend Leonardos. Er wurde 1452 in dem kleinen Städtchen Vinci zwischen Florenz und Empoli geboren; er war ein uneheliches Kind, was in jener Zeit gewiß nicht als schwerer bürgerlicher Makel betrachtet wurde; sein Vater war Ser Piero