Gesammelte Werke: Psychoanalytische Studien, Theoretische Schriften & Briefe. Sigmund Freud

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Gesammelte Werke: Psychoanalytische Studien, Theoretische Schriften & Briefe - Sigmund Freud


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Seelenlebens bedarf es urzeitlicher Analogien. Für uns sind die Genitalien schon seit einer langen Reihe von Generationen die Pudenda, Gegenstände der Scham, und bei weiter gediehener Sexualverdrängung sogar des Ekels. Wirft man einen umfassenden Blick auf das Sexualleben unserer Zeit, besonders das der die menschliche Kultur tragenden Schichten, so ist man versucht zu sagen: Widerwillig nur fügen sich die heute Lebenden in ihrer Mehrheit den Geboten der Fortpflanzung und fühlen sich dabei in ihrer menschlichen Würde gekränkt und herabgesetzt. Was an anderer Auffassung des Geschlechtslebens unter uns vorhanden ist, hat sich auf die roh gebliebenen, niedrigen Volksschichten zurückgezogen, versteckt sich bei den höheren und verfeinerten als kulturell minderwertig und wagt seine Betätigung nur unter den verbitternden Mahnungen eines schlechten Gewissens. Anders war es in den Urzeiten des Menschengeschlechts. Aus den mühseligen Sammlungen der Kulturforscher kann man sich die Überzeugung holen, daß die Genitalien ursprünglich der Stolz und die Hoffnung der Lebenden waren, göttliche Verehrung genossen und die Göttlichkeit ihrer Funktionen auf alle neu erlernten Tätigkeiten der Menschen übertrugen. Ungezählte Göttergestalten erhoben sich durch Sublimierung aus ihrem Wesen, und zur Zeit, da der Zusammenhang der offiziellen Religionen mit der Geschlechtstätigkeit bereits dem allgemeinen Bewußtsein verhüllt war, bemühten sich Geheimkulte, ihn bei einer Anzahl von Eingeweihten lebend zu erhalten. Endlich geschah es im Laufe der Kulturentwicklung, daß so viel Göttliches und Heiliges aus der Geschlechtlichkeit extrahiert war, bis der erschöpfte Rest der Verachtung verfiel. Aber bei der Unvertilgbarkeit, die in der Natur aller seelischen Spuren liegt, darf man sich nicht verwundern, daß selbst die primitivsten Formen von Anbetung der Genitalien bis in ganz rezente Zeiten nachzuweisen sind und daß Sprachgebrauch, Sitten und Aberglauben der heutigen Menschheit die Überlebsel von allen Phasen dieses Entwicklungsganges enthalten

      Wir sind durch gewichtige biologische Analogien darauf vorbereitet, daß die seelische Entwicklung des Einzelnen den Lauf der Menschheitsentwicklung abgekürzt wiederhole, und werden darum nicht unwahrscheinlich finden, was die psychoanalytische Erforschung der Kinderseele über die infantile Schätzung der Genitalien ergeben hat. Die kindliche Annahme des mütterlichen Penis ist nun die gemeinsame Quelle, aus der sich die androgyne Bildung der mütterlichen Gottheiten wie der ägyptischen Mut und die »coda« des Geiers in Leonardos Kindheitsphantasie ableiten. Wir heißen ja diese Götterdarstellungen nur mißverständlich hermaphroditisch im ärztlichen Sinne des Wortes. Keine von ihnen vereinigt die wirklichen Genitalien beider Geschlechter, wie sie in manchen Mißbildungen vereinigt sind zum Abscheu jedes menschlichen Auges; sie fügen bloß den Brüsten als Abzeichen der Mütterlichkeit das männliche Glied hinzu, wie es in der ersten Vorstellung des Kindes vom Leibe der Mutter vorhanden war. Die Mythologie hat diese ehrwürdige, uranfänglich phantasierte Körperbildung der Mutter für die Gläubigen erhalten. Die Hervorhebung des Geierschwanzes in der Phantasie Leonardos können wir nun so übersetzen: Damals, als sich meine zärtliche Neugierde auf die Mutter richtete und ich ihr noch ein Genitale wie mein eigenes zuschrieb. Ein weiteres Zeugnis für die frühzeitige Sexualforschung Leonardos, die nach unserer Meinung ausschlaggebend für sein ganzes späteres Leben wurde.

      Eine kurze Überlegung mahnt uns jetzt, daß wir uns mit der Aufklärung des Geierschwanzes in Leonardos Kindheitsphantasie nicht begnügen dürfen. Es scheint mehr in ihr enthalten, was wir noch nicht verstehen. Ihr auffälligster Zug war doch, daß sie das Saugen an der Mutterbrust in ein Gesäugtwerden, also in Passivität und damit in eine Situation von unzweifelhaft homosexuellem Charakter verwandelte. Eingedenk der historischen Wahrscheinlichkeit, daß sich Leonardo im Leben wie ein homosexuell Fühlender benahm, drängt sich uns die Frage auf, ob diese Phantasie nicht auf eine ursächliche Beziehung zwischen Leonardos Kinderverhältnis zu seiner Mutter und seiner späteren manifesten, wenn auch ideellen Homosexualität hinweist. Wir würden uns nicht getrauen, eine solche aus der entstellten Reminiszenz Leonardos zu erschließen, wenn wir nicht aus den psychoanalytischen Untersuchungen von homosexuellen Patienten wüßten, daß eine solche besteht, ja daß sie eine innige und notwendige ist.

      Die homosexuellen Männer, die in unseren Tagen eine energische Aktion gegen die gesetzliche Einschränkung ihrer Sexualbetätigung unternommen haben, lieben es, sich durch ihre theoretischen Wortführer als eine von Anfang an gesonderte geschlechtliche Abart, als sexuelle Zwischenstufen, als ein »drittes Geschlecht« hinstellen zu lassen. Sie seien Männer, denen organische Bedingungen vom Keime an das Wohlgefallen am Mann aufgenötigt, das am Weibe versagt hätten. So gerne man nun aus humanen Rücksichten ihre Forderungen unterschreibt, so zurückhaltend darf man gegen ihre Theorien sein, die ohne Berücksichtigung der psychischen Genese der Homosexualität aufgestellt worden sind. Die Psychoanalyse bietet die Mittel, diese Lücke auszufüllen und die Behauptungen der Homosexuellen der Probe zu unterziehen. Sie hat dieser Aufgabe erst bei einer geringen Zahl von Personen genügen können, aber alle bisher vorgenommenen Untersuchungen brachten das nämliche überraschende Ergebnis. Bei allen unseren homosexuellen Männern gab es in der ersten, vom Individuum später vergessenen Kindheit eine sehr intensive erotische Bindung an eine weibliche Person, in der Regel an die Mutter, hervorgerufen oder begünstigt durch die Überzärtlichkeit der Mutter selbst, ferner unterstützt durch ein Zurücktreten des Vaters im kindlichen Leben. Sadger hebt hervor, daß die Mütter seiner homosexuellen Patienten häufig Mannweiber waren, Frauen mit energischen Charakterzügen, die den Vater aus der ihm gebührenden Stellung drängen konnten; ich habe gelegentlich das gleiche gesehen, aber stärkeren Eindruck von jenen Fällen empfangen; in denen der Vater von Anfang an fehlte oder frühzeitig wegfiel, so daß der Knabe dem weiblichen Einfluß preisgegeben war. Sieht es doch fast so aus, als ob das Vorhandensein eines starken Vaters dem Sohne die richtige Entscheidung in der Objektwahl für das entgegengesetzte Geschlecht versichern würde.

      Nach diesem Vorstadium tritt eine Umwandlung ein, deren Mechanismus uns bekannt ist, deren treibende Kräfte wir noch nicht erfassen. Die Liebe zur Mutter kann die weitere bewußte Entwicklung nicht mitmachen, sie verfällt der Verdrängung. Der Knabe verdrängt die Liebe zur Mutter, indem er sich selbst an deren Stelle setzt, sich mit der Mutter identifiziert und seine eigene Person zum Vorbild nimmt, in dessen Ähnlichkeit er seine neuen Liebesobjekte auswählt. Er ist so homosexuell geworden; eigentlich ist er in den Autoerotismus zurückgeglitten, da die Knaben, die der Heranwachsende jetzt liebt, doch nur Ersatzpersonen und Erneuerungen seiner eigenen kindlichen Person sind, die er so liebt, wie die Mutter ihn als Kind geliebt hat. Wir sagen, er findet seine Liebesobjekte auf dem Wege des Narzißmus, da die griechische Sage einen Jüngling Narzissus nennt, dem nichts so wohl gefiel wie das eigene Spiegelbild und der in die schöne Blume dieses Namens verwandelt wurde.

      Tieferreichende psychologische Erwägungen rechtfertigen die Behauptung, daß der auf solchem Wege homosexuell Gewordene im Unbewußten an das Erinnerungsbild seiner Mutter fixiert bleibt. Durch die Verdrängung der Liebe zur Mutter konserviert er dieselbe in seinem Unbewußten und bleibt von nun an der Mutter treu. Wenn er als Liebhaber Knaben nachzulaufen scheint, so läuft er in Wirklichkeit vor den anderen Frauen davon, die ihn untreu machen könnten. Wir haben auch durch direkte Einzelbeobachtung nachweisen können, daß der scheinbar nur für männlichen Reiz Empfängliche in Wahrheit der Anziehung, die vom Weibe ausgeht, unterliegt wie ein Normaler; aber er beeilt sich jedesmal, die vom Weibe empfangene Erregung auf ein männliches Objekt zu überschreiben, und wiederholt auf solche Weise immer wieder den Mechanismus, durch den er seine Homosexualität erworben hat.

      Es liegt uns ferne, die Bedeutung dieser Aufklärungen über die psychische Genese der Homosexualität zu übertreiben. Es ist ganz unverkennbar, daß sie den offiziellen Theorien der homosexuellen Wortführer grell widersprechen, aber wir wissen, daß sie nicht umfassend genug sind, um eine endgültige Klärung des Problems zu ermöglichen. Was man aus praktischen Gründen Homosexualität heißt, mag aus mannigfaltigen psychosexuellen Hemmungsprozessen hervorgehen, und der von uns erkannte Vorgang ist vielleicht nur einer unter vielen und bezieht sich nur auf einen Typus von »Homosexualität«. Wir müssen auch zugestehen, daß bei unserem homosexuellen Typus die Anzahl der Fälle, in denen die von uns geforderten Bedingungen aufzeigbar sind, weitaus die jener Fälle übersteigt, in denen der abgeleitete Effekt wirklich eintritt, so daß auch wir die Mitwirkung unbekannter konstitutioneller Faktoren nicht abweisen können, von denen man sonst das Ganze der Homosexualität abzuleiten pflegt. Wir hätten überhaupt keinen Anlaß gehabt, auf die psychische Genese der von uns studierten


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