Gesammelte Werke: Psychoanalytische Studien, Theoretische Schriften & Briefe. Sigmund Freud

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Gesammelte Werke: Psychoanalytische Studien, Theoretische Schriften & Briefe - Sigmund Freud


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geliebten Mutter war ein solcher. In dieser Rechnung über die Begräbniskosten haben wir die bis zur Unkenntlichkeit entstellte Äußerung der Trauer um die Mutter vor uns. Wir verwundern uns, wie solche Entstellung zustande kommen konnte, und können es auch unter den Gesichtspunkten der normalen seelischen Vorgänge nicht verstehen. Aber unter den abnormen Bedingungen der Neurosen und ganz besonders der sogenannten Zwangsneurose ist uns ähnliches wohlbekannt. Dort sehen wir die Äußerung intensiver, aber durch Verdrängung unbewußt gewordener Gefühle auf geringfügige, ja läppische Verrichtungen verschoben. Es ist den widerstrebenden Mächten gelungen, den Ausdruck dieser verdrängten Gefühle so sehr zu erniedrigen, daß man die Intensität dieser Gefühle für eine höchst geringfügige einschätzen müßte; aber in dem gebieterischen Zwang, mit dem sich diese kleinliche Ausdruckshandlung durchsetzt, verrät sich die wirkliche, im Unbewußten wurzelnde Macht der Regungen, die das Bewußtsein verleugnen möchte. Nur ein solcher Anklang an das Geschehen bei der Zwangsneurose kann die Leichenkostenrechnung Leonardos beim Tode seiner Mutter erklären. Im Unbewußten war er noch wie in Kinderzeiten durch erotisch gefärbte Neigung an sie gebunden; der Widerstreit der später eingetretenen Verdrängung dieser Kinderliebe gestattete nicht, daß ihr im Tagebuche ein anderes, würdigeres Denkmal gesetzt werde, aber was sich als Kompromiß aus diesem neurotischen Konflikt ergab, das mußte ausgeführt werden, und so wurde die Rechnung eingetragen und kam als Unbegreiflichkeit zur Kenntnis der Nachwelt.

      Es scheint kein Wagnis, die an der Leichenrechnung gewonnene Einsicht auf die Schülerkostenrechnungen zu übertragen. Demnach wäre auch dies ein Fall, in dem sich bei Leonardo die spärlichen Reste libidinöser Regungen zwangsartig einen entstellten Ausdruck schufen. Die Mutter und die Schüler, die Ebenbilder seiner eigenen knabenhaften Schönheit, wären seine Sexualobjekte gewesen – soweit die sein Wesen beherrschende Sexualverdrängung eine solche Kennzeichnung zuläßt –, und der Zwang, die für sie gemachten Ausgaben mit peinlicher Ausführlichkeit zu notieren, wäre der befremdliche Verrat dieser rudimentären Konflikte. Es würde sich so ergeben, daß Leonardos Liebesleben wirklich dem Typus von Homosexualität angehört, dessen psychische Entwicklung wir aufdecken konnten, und das Auftreten der homosexuellen Situation in seiner Geierphantasie würde uns verständlich, denn es besagte nichts anderes, als was wir vorhin von jenem Typus behauptet haben. Es erforderte die Übersetzung: Durch diese erotische Beziehung zur Mutter bin ich ein Homosexueller geworden

      IV. KAPITEL

       Inhaltsverzeichnis

       Die Geierphantasie Leonardos hält uns noch immer fest. In Worten, welche nur allzu deutlich an die Beschreibung eines Sexualaktes anklingen (»und hat viele Male mit seinem Schwanz gegen meine Lippen gestoßen«), betont Leonardo die Intensität der erotischen Beziehungen zwischen Mutter und Kind. Es hält nicht schwer, aus dieser Verbindung der Aktivität der Mutter (des Geiers) mit der Hervorhebung der Mundzone einen zweiten Erinnerungsinhalt der Phantasie zu erraten. Wir können übersetzen: Die Mutter hat mir ungezählte leidenschaftliche Küsse auf den Mund gedrückt. Die Phantasie ist zusammengesetzt aus der Erinnerung an das Gesäugtwerden und an das Geküßtwerden durch die Mutter.

      Dem Künstler hat eine gütige Natur gegeben, seine geheimsten, ihm selbst verborgenen Seelenregungen durch Schöpfungen zum Ausdruck zu bringen, welche die anderen, dem Künstler Fremden, mächtig ergreifen, ohne daß sie selbst anzugeben wüßten, woher diese Ergriffenheit rührt. Sollte in dem Lebenswerk Leonardos nichts Zeugnis ablegen von dem, was seine Erinnerung als den stärksten Eindruck seiner Kindheit bewahrt hat? Man müßte es erwarten. Wenn man aber erwägt, was für tiefgreifende Umwandlungen ein Lebenseindruck des Künstlers durchzumachen hat, ehe er seinen Beitrag zum Kunstwerk stellen darf, wird man gerade bei Leonardo den Anspruch auf Sicherheit des Nachweises auf ein ganz bescheidenes Maß herabsetzen müssen. Wer an Leonardos Bilder denkt, den wird die Erinnerung an ein merkwürdiges, berückendes und rätselhaftes Lächeln mahnen, das er auf die Lippen seiner weiblichen Figuren gezaubert hat. Ein stehendes Lächeln auf langgezogenen, geschwungenen Lippen; es ist für ihn charakteristisch geworden und wird vorzugsweise »leonardesk« genannt. In dem fremdartig schönen Antlitz der Florentinerin Mona Lisa del Giocondo hat es die Beschauer am stärksten ergriffen und in Verwirrung gebracht. Dies Lächeln verlangte nach einer Deutung und fand die verschiedenartigsten, von denen keine befriedigte. »Voilà quatre siecles bientôt que Monna Lisa fait perdre la tête à tous ceux qui parlent d’elle, après l’avoir longtemps regardée.«

      Muther: »Was den Betrachter namentlich bannt, ist der dämonische Zauber dieses Lächelns. Hunderte von Dichtern und Schriftstellern haben über dieses Weib geschrieben, das bald verführerisch uns anzulächeln, bald kalt und seelenlos ins Leere zu starren scheint, und niemand hat ihr Lächeln enträtselt, niemand ihre Gedanken gedeutet. Alles, auch die Landschaft ist geheimnisvoll traumhaft, wie in gewitterschwüler Sinnlichkeit zitternd.«

      Die Ahnung, daß sich in dem Lächeln der Mona Lisa zwei verschiedene Elemente vereinigen, hat sich bei mehreren Beurteilern geregt. Sie erblicken darum in dem Mienenspiel der schönen Florentinerin die vollkommenste Darstellung der Gegensätze, die das Liebesleben des Weibes beherrschen, der Reserve und der Verführung, der hingebungsvollen Zärtlichkeit und der rücksichtslos heischenden, den Mann wie etwas Fremdes verzehrenden Sinnlichkeit. So äußert Müntz: »On sait quelle énigme indéchiffrable et passionnante Monna Lisa Gioconda ne cesse depuis bientôt quatre siècles, de proposer aux admirateurs pressés devant elle. Jamais artiste (j’emprunte la plume du délicat écrivain qui se cache sous le Pseudonyme de Pierre de Corlay) ›a-t-il traduit ainsi l’essence même de la fémininité: tendresse et coquetterie, pudeur et sourde volupté, tout le mystère d’un cœur qui se réserve, d’un cerveau qui réfléchit, d’une personnalité qui se garde et ne livre d’elle-même que son rayonnement …‹« Der Italiener Angelo Conti sieht das Bild im Louvre von einem Sonnenstrahl belebt. »La donna sorrideva in una calma regale: i suoi istinti di conquista, di ferocia, tutta l’eredità della specie, la volontà della seduzione e dell’ agguato, la grazia del inganno, la bontà che cela un proposito crudele, tutto ciò appariva alternativamente e scompariva dietro il velo ridente e si fondeva nel poema del suo sorriso … Buona e malvagia, crudele e compassionevole, graziosa e felina, ella rideva …«

      Leonardo malte vier Jahre an diesem Bilde, vielleicht von 1503 bis 1507, während seines zweiten Aufenthaltes in Florenz, selbst über 50 Jahre alt. Er wendete nach Vasaris Bericht die ausgesuchtesten Künste an, um die Dame während der Sitzungen zu zerstreuen und jenes Lächeln auf ihren Zügen festzuhalten. Von all den Feinheiten, die sein Pinsel damals auf der Leinwand wiedergab, hat das Bild in seinem heutigen Zustand wenig nur bewahrt; es galt, als es im Entstehen war, als das höchste, was die Kunst leisten könnte; sicher ist aber, daß es Leonardo selbst nicht befriedigte, daß er es für nicht vollendet erklärte, dem Besteller nicht ablieferte und mit sich nach Frankreich nahm, wo sein Beschützer Franz I. es von ihm für das Louvre erwarb.

      Lassen wir das physiognomische Rätsel der Mona Lisa ungelöst und verzeichnen wir die unzweifelhafte Tatsache, daß ihr Lächeln den Künstler nicht minder stark fasziniert hat als alle die Beschauer seit 400 Jahren. Dies berückende Lächeln kehrt seitdem auf allen seinen Bildern und denen seiner Schüler wieder. Da die Mona Lisa Leonardos ein Porträt ist, können wir nicht annehmen, er habe ihrem Angesicht aus eigenem einen so ausdrucksschweren Zug geliehen, den sie selbst nicht besaß. Es scheint, wir können kaum anders als glauben, daß er dies Lächeln bei seinem Modell fand und so sehr unter dessen Zauber geriet, daß er von da an die freien Schöpfungen seiner Phantasie mit ihm ausstattete. Dieser naheliegenden Auffassung gibt zum Beispiel A. Konstantinowa Ausdruck:

      »Während der langen Zeit, in welcher sich der Meister mit dem Porträt der Mona Lisa del Giocondo beschäftigte, hatte er sich mit solcher Teilnahme des Gefühls in die physiognomischen Feinheiten dieses Frauenantlitzes hineingelebt, daß er diese Züge – besonders das geheimnisvolle Lächeln und den seltsamen Blick – auf alle Gesichter übertrug, welche er in der Folge malte oder zeichnete; die mimische Eigentümlichkeit der Gioconda kann selbst auf dem Bilde Johannes des Täufers im Louvre wahrgenommen werden; – vor allem aber sind sie in Marias Gesichtszügen auf dem Anna Selbdritt-Bilde


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