Gesammelte Werke: Psychoanalytische Studien, Theoretische Schriften & Briefe. Sigmund Freud
Читать онлайн книгу.Auflehnung gegen den Vater die infantile Bedingung seiner vielleicht ebenso großartigen Leistung als Forscher. Er glich, nach dem schönen Gleichnis Mereschkowskis, einem Menschen, der in der Finsternis zu früh erwacht war, während die anderen noch alle schliefen. Er wagte es, den kühnen Satz auszusprechen, der doch die Rechtfertigung jeder freien Forschung enthält: Wer im Streite der Meinungen sich auf die Autorität beruft, der arbeitet mit seinem Gedächtnis anstatt mit seinem Verstand. So wurde der erste moderne Naturforscher, und eine Fülle von Erkenntnissen und Ahnungen belohnte seinen Mut, seit den Zeiten der Griechen als der erste, nur auf Beobachtung und eigenes Urteil gestützt, an die Geheimnisse der Natur zu rühren. Aber wenn er die Autorität geringschätzen und die Nachahmung der »Alten« verwerfen lehrte und immer wieder auf das Studium der Natur als auf die Quelle aller Wahrheit hinwies, so wiederholte er nur in der höchsten dem Menschen erreichbaren Sublimierung die Parteinahme, die sich bereits dem kleinen, verwundert in die Welt blickenden Knaben aufgedrängt hatte. Aus der wissenschaftlichen Abstraktion in die konkrete individuelle Erfahrung rückübersetzt, entsprachen die Alten und die Autorität doch nur dem Vater, und die Natur wurde wieder die zärtliche, gütige Mutter, die ihn genährt hatte. Während bei den meisten anderen Menschenkindern – auch noch heute wie in Urzeiten – das Bedürfnis nach dem Anhalt an irgendeine Autorität so gebieterisch ist, daß ihnen die Welt ins Wanken gerät, wenn diese Autorität bedroht wird, konnte Leonardo allein dieser Stütze entbehren; er hätte es nicht können, wenn er nicht in den ersten Lebensjahren gelernt hätte, auf den Vater zu verzichten. Die Kühnheit und Unabhängigkeit seiner späteren wissenschaftlichen Forschung setzt die vom Vater ungehemmte infantile Sexualforschung voraus und setzt sie unter Abwendung vom Sexuellen fort.
Wenn jemand wie Leonardo in seiner ersten Kindheit der Einschüchterung durch den Vater entgangen ist und in seiner Forschung die Fesseln der Autorität abgeworfen hat, so wäre es der grellste Widerspruch gegen unsere Erwartung, wenn wir fänden, daß derselbe Mann ein Gläubiger geblieben ist und es nicht vermocht hat, sich der dogmatischen Religion zu entziehen. Die Psychoanalyse hat uns den intimen Zusammenhang zwischen dem Vaterkomplex und der Gottesgläubigkeit kennengelehrt, hat uns gezeigt, daß der persönliche Gott psychologisch nichts anderes ist als ein erhöhter Vater, und führt uns täglich vor Augen, wie jugendliche Personen den religiösen Glauben verlieren, sobald die Autorität des Vaters bei ihnen zusammenbricht. Im Elternkomplex erkennen wir so die Wurzel des religiösen Bedürfnisses; der allmächtige, gerechte Gott und die gütige Natur erscheinen uns als großartige Sublimierungen von Vater und Mutter, vielmehr als Erneuerungen und Wiederherstellungen der frühkindlichen Vorstellungen von beiden. Die Religiosität führt sich biologisch auf die lang anhaltende Hilflosigkeit und Hilfsbedürftigkeit des kleinen Menschenkindes zurück, welches, wenn es später seine wirkliche Verlassenheit und Schwäche gegen die großen Mächte des Lebens erkannt hat, seine Lage ähnlich wie in der Kindheit empfindet und deren Trostlosigkeit durch die regressive Erneuerung der infantilen Schutzmächte zu verleugnen sucht. Der Schutz gegen neurotische Erkrankung, den die Religion ihren Gläubigen gewährt, erklärt sich leicht daraus, daß sie ihnen den Elternkomplex abnimmt, an dem das Schuldbewußtsein des einzelnen wie der ganzen Menschheit hängt, und ihn für sie erledigt, während der Ungläubige mit dieser Aufgabe allein fertig werden muß.
Es scheint nicht, daß das Beispiel Leonardos diese Auffassung der religiösen Gläubigkeit des Irrtums überführen könnte. Anklagen, die ihn des Unglaubens, oder, was jener Zeit ebensoviel hieß, des Abfalles vom Christenglauben beschuldigten, regten sich bereits zu seinen Lebzeiten und haben in der ersten Lebensbeschreibung, die Vasari von ihm gab, einen bestimmten Ausdruck gefunden. In der zweiten Ausgabe seiner Vite 1568 hat Vasari diese Bemerkungen weggelassen. Uns ist es vollkommen begreiflich, wenn Leonardo angesichts der außerordentlichen Empfindlichkeit seines Zeitalters in religiösen Dingen sich direkter Äußerungen über seine Stellung zum Christentum auch in seinen Aufzeichnungen enthielt. Als Forscher ließ er sich durch die Schöpfungsberichte der Heiligen Schrift nicht im mindesten beirren; er bestritt zum Beispiel die Möglichkeit einer universellen Sündflut und rechnete in der Geologie ebenso unbedenklich wie die Modernen mit Jahrhunderttausenden.
Unter seinen »Prophezeiungen« finden sich so manche, die das Feingefühl eines gläubigen Christen beleidigen müßten, zum Beispiel:
Die Bilder der Heiligen angebetet.
»Es werden die Menschen mit Menschen reden, die nichts vernehmen, welche die Augen offen haben und nicht sehen; sie werden zu diesen reden und keine Antwort bekommen; sie werden Gnaden erbitten von dem, welcher Ohren hat und nicht hört; sie werden Lichter anzünden für den, der blind ist.«
Oder: Vom Klagen am Karfreitag (l. c. 297).
»In allen Teilen Europas wird von großen Völkerschaften geweint werden um den Tod eines einzigen Mannes, der im Orient gestorben.«
Von Leonardos Kunst hat man geurteilt, daß er den heiligen Gestalten den letzten Rest kirchlicher Gebundenheit benahm und sie ins Menschliche zog, um große und schöne menschliche Empfindungen an ihnen darzustellen. Muther rühmt von ihm, daß er die Dekadenzstimmung überwand und den Menschen das Recht auf Sinnlichkeit und frohen Lebensgenuß wiedergab. In den Aufzeichnungen, welche Leonardo in die Ergründung der großen Naturrätsel vertieft zeigen, fehlt es nicht an Äußerungen der Bewunderung für den Schöpfer, den letzten Grund all dieser herrlichen Geheimnisse, aber nichts deutet darauf hin, daß er eine persönliche Beziehung zu dieser Gottesmacht festhalten wollte. Die Sätze, in welche er die tiefe Weisheit seiner letzten Lebensjahre gelegt hat, atmen die Resignation des Menschen, der sich der ’ÁíÜãêç, den Gesetzen der Natur, unterwirft und von der Güte oder Gnade Gottes keine Milderung erwartet. Es ist kaum ein Zweifel, daß Leonardo die dogmatische wie die persönliche Religion überwunden und sich durch seine Forscherarbeit weit von der Weltanschauung des gläubigen Christen entfernt hatte.
Aus unseren vorhin erwähnten Einsichten in die Entwicklung des kindlichen Seelenlebens wird uns die Annahme nahegelegt, daß auch Leonardos erste Forschungen im Kindesalter sich mit den Problemen der Sexualität beschäftigten. Er verrät es uns aber selbst in durchsichtiger Verhüllung, indem er seinen Forscherdrang an die Geierphantasie knüpft und das Problem des Vogelfluges als eines hervorhebt, das ihm durch besondere Schicksalsverkettung zur Bearbeitung zugefallen sei. Eine recht dunkle, wie eine Prophezeiung klingende Stelle in seinen Aufzeichnungen, die den Vogelflug behandeln, bezeugt aufs schönste, mit wie viel Affektinteresse er an dem Wunsche hing, die Kunst des Fliegens selbst nachahmen zu können: »Es wird seinen ersten Flug nehmen der große Vogel, vom Rücken seines großen Schwanes aus, das Universum mit Verblüffung, alle Schriften mit seinem Ruhme füllen und ewige Glorie sein dem Neste, wo er geboren ward.« Er hoffte wahrscheinlich, selbst einmal fliegen zu können, und wir wissen aus den wunscherfüllenden Träumen der Menschen, welche Seligkeit man sich von der Erfüllung dieser Hoffnung erwartet.
Warum träumen aber so viele Menschen vom Fliegenkönnen? Die Psychoanalyse gibt hierauf die Antwort, weil das Fliegen oder Vogel sein nur die Verhüllung eines anderen Wunsches ist, zu dessen Erkennung mehr als eine sprachliche und sachliche Brücke führt. Wenn man der wißbegierigen Jugend erzählt, ein großer Vogel, wie der Storch, bringe die kleinen Kinder, wenn die Alten den Phallus geflügelt gebildet haben, wenn die gebräuchlichste Bezeichnung der Geschlechtstätigkeit des Mannes im Deutschen »vögeln« lautet, das Glied des Mannes bei den Italienern direkt l’uccello (Vogel) heißt, so sind das nur kleine Bruchstücke aus einem großen Zusammenhange, der uns lehrt, daß der Wunsch, fliegen zu können, im Traume nichts anderes bedeutet als die Sehnsucht, geschlechtlicher Leistungen fähig zu sein. Es ist dies ein frühinfantiler Wunsch. Wenn der Erwachsene seiner Kindheit gedenkt, so erscheint sie ihm als eine glückliche Zeit, in der man sich des Augenblicks freute und wunschlos der Zukunft entgegenging, und darum beneidet er die Kinder. Aber die Kinder selbst, wenn sie früher Auskunft geben könnten, würden wahrscheinlich anderes berichten. Es scheint, daß die Kindheit nicht jenes selige Idyll ist, zu dem wir es nachträglich entstellen, daß die Kinder vielmehr von dem einen Wunsch, groß zu werden, es den Erwachsenen gleichzutun, durch die Jahre der Kindheit gepeitscht werden. Dieser Wunsch treibt alle ihre Spiele. Ahnen die Kinder im Verlaufe ihrer Sexualforschung, daß der Erwachsene auf dem einen rätselvollen und doch so wichtigen Gebiete etwas Großartiges kann, was ihnen zu wissen und zu tun versagt ist, so regt sich in ihnen ein ungestümer