Gesammelte Werke: Psychoanalytische Studien, Theoretische Schriften & Briefe. Sigmund Freud

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Gesammelte Werke: Psychoanalytische Studien, Theoretische Schriften & Briefe - Sigmund Freud


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wahrscheinlich ein Bauernmädchen, die später mit einem anderen Einwohner von Vinci verheiratet war. Diese Mutter kommt in der Lebensgeschichte Leonardos nicht mehr vor, nur der Dichter Mereschkowski glaubt ihre Spur nachweisen zu können. Die einzige sichere Auskunft über Leonardos Kindheit gibt ein amtliches Dokument aus dem Jahre 1457, ein Florentiner Steuerkataster, in welchem unter den Hausgenossen der Familie Vinci Leonardo als fünfjähriges illegitimes Kind des Ser Piero angeführt wird. Die Ehe Ser Pieros mit einer Donna Albiera blieb kinderlos, darum konnte der kleine Leonardo im Hause seines Vaters aufgezogen werden. Dies Vaterhaus verließ er erst, als er, unbekannt in welchem Alter, als Lehrling in die Werkstatt des Andrea del Verrocchio eintrat. Im Jahre 1472 findet sich Leonardos Name bereits im Verzeichnis der Mitglieder der »Compagnia dei Pittori«. Das ist alles.

      II. KAPITEL

       Inhaltsverzeichnis

       Ein einziges Mal, soviel mir bekannt ist, hat Leonardo in eine seiner wissenschaftlichen Niederschriften eine Mitteilung aus seiner Kindheit eingestreut. An einer Stelle, die vom Fluge des Geiers handelt, unterbricht er sich plötzlich, um einer in ihm auftauchenden Erinnerung aus sehr frühen Jahren zu folgen.

      »Es scheint, daß es mir schon vorher bestimmt war, mich so gründlich mit dem Geier zu befassen, denn es kommt mir als eine ganz frühe Erinnerung in den Sinn, als ich noch in der Wiege lag, ist ein Geier zu mir herabgekommen, hat mir den Mund mit seinem Schwanz geöffnet und viele Male mit diesem seinen Schwanz gegen meine Lippen gestoßen.«

      Eine Kindheitserinnerung also, und zwar höchst befremdender Art. Befremdend wegen ihres Inhaltes und wegen der Lebenszeit, in die sie verlegt wird. Daß ein Mensch eine Erinnerung an seine Säuglingszeit bewahren könne, ist vielleicht nicht unmöglich, kann aber keineswegs als gesichert gelten. Was jedoch diese Erinnerung Leonardos behauptet, daß ein Geier dem Kinde mit seinem Schwanz den Mund geöffnet, das klingt so unwahrscheinlich, so märchenhaft, daß eine andere Auffassung, die beiden Schwierigkeiten mit einem Schlage ein Ende macht, sich unserem Urteile besser empfiehlt. Jene Szene mit dem Geier wird nicht eine Erinnerung Leonardos sein, sondern eine Phantasie, die er sich später gebildet und in seine Kindheit versetzt hat. Die Kindheitserinnerungen der Menschen haben oft keine andere Herkunft; sie werden überhaupt nicht, wie die bewußten Erinnerungen aus der Zeit der Reife, vom Erlebnis an fixiert und wiederholt, sondern erst in späterer Zeit, wenn die Kindheit schon vorüber ist, hervorgeholt, dabei verändert, verfälscht, in den Dienst späterer Tendenzen gestellt, so daß sie sich ganz allgemein von Phantasien nicht strenge scheiden lassen. Vielleicht kann man sich ihre Natur nicht besser klarmachen, als indem man an die Art und Weise denkt, wie bei den alten Völkern die Geschichtsschreibung entstanden ist. Solange das Volk klein und schwach war, dachte es nicht daran, seine Geschichte zu schreiben; man bearbeitete den Boden des Landes, wehrte sich seiner Existenz gegen die Nachbarn, suchte ihnen Land abzugewinnen und zu Reichtum zu kommen. Es war eine heroische und unhistorische Zeit. Dann brach eine andere Zeit an, in der man zur Besinnung kam, sich reich und mächtig fühlte, und nun entstand das Bedürfnis zu erfahren, woher man gekommen und wie man geworden war. Die Geschichtsschreibung, welche begonnen hatte, die Erlebnisse der Jetztzeit fortlaufend zu verzeichnen, warf den Blick auch nach rückwärts in die Vergangenheit, sammelte Traditionen und Sagen, deutete die Überlebsel alter Zeiten in Sitten und Gebräuchen und schuf so eine Geschichte der Vorzeit. Es war unvermeidlich, daß diese Vorgeschichte eher ein Ausdruck der Meinungen und Wünsche der Gegenwart als ein Abbild der Vergangenheit wurde, denn vieles war von dem Gedächtnis des Volkes beseitigt, anderes entstellt worden, manche Spur der Vergangenheit wurde mißverständlich im Sinne der Gegenwart gedeutet, und überdies schrieb man ja nicht Geschichte aus den Motiven objektiver Wißbegierde, sondern weil man auf seine Zeitgenossen wirken, sie aneifern, erheben oder ihnen einen Spiegel vorhalten wollte. Das bewußte Gedächtnis eines Menschen von den Erlebnissen seiner Reifezeit ist nun durchaus jener Geschichtsschreibung zu vergleichen, und seine Kindheitserinnerungen entsprechen nach ihrer Entstehung und Verläßlichkeit wirklich der spät und tendenziös zurechtgemachten Geschichte der Urzeit eines Volkes.

      Wenn die Erzählung Leonardos vom Geier, der ihn in der Wiege besucht, also nur eine spätgeborene Phantasie ist, so sollte man meinen, es könne sich kaum verlohnen, länger bei ihr zu verweilen. Zu ihrer Erklärung könnte man sich ja mit der offen kundgegebenen Tendenz begnügen, seiner Beschäftigung mit dem Problem des Vogelfluges die Weihe einer Schicksalsbestimmung zu leihen. Allein mit dieser Geringschätzung beginge man ein ähnliches Unrecht, wie wenn man das Material von Sagen, Traditionen und Deutungen in der Vorgeschichte eines Volkes leichthin verwerfen würde. Allen Entstellungen und Mißverständnissen zum Trotze ist die Realität der Vergangenheit doch durch sie repräsentiert; sie sind das, was das Volk aus den Erlebnissen seiner Urzeit gestaltet hat, unter der Herrschaft einstens mächtiger und heute noch wirksamer Motive, und könnte man nur durch die Kenntnis aller wirkenden Kräfte diese Entstellungen rückgängig machen, so müßte man hinter diesem sagenhaften Material die historische Wahrheit aufdecken können. Gleiches gilt für die Kindheitserinnerungen oder Phantasien der einzelnen. Es ist nicht gleichgültig, was ein Mensch aus seiner Kindheit zu erinnern glaubt; in der Regel sind hinter den von ihm selbst nicht verstandenen Erinnerungsresten unschätzbare Zeugnisse für die bedeutsamsten Züge seiner seelischen Entwicklung verborgen. Da wir nun in den psychoanalytischen Techniken vortreffliche Hilfsmittel besitzen, um dies Verborgene ans Licht zu ziehen, wird uns der Versuch gestattet sein, die Lücke in Leonardos Lebensgeschichte durch die Analyse seiner Kindheitsphantasie auszufüllen. Erreichen wir dabei keinen befriedigenden Grad von Sicherheit, so müssen wir uns damit trösten, daß so vielen anderen Untersuchungen über den großen und rätselhaften Mann kein besseres Schicksal beschieden war.

      Wenn wir aber die Geierphantasie Leonardos mit dem Auge des Psychoanalytikers betrachten, so erscheint sie uns nicht lange fremdartig; wir glauben uns zu erinnern, daß wir oftmals, zum Beispiel in Träumen, ähnliches gefunden haben, so daß wir uns getrauen können, diese Phantasie aus der ihr eigentümlichen Sprache in gemeinverständliche Worte zu übersetzen. Die Übersetzung zielt dann aufs Erotische. Schwanz, »coda«, ist eines der bekanntesten Symbole und Ersatzbezeichnungen des männlichen Gliedes, im Italienischen nicht minder als in anderen Sprachen; die in der Phantasie enthaltene Situation, daß ein Geier den Mund des Kindes öffnet und mit dem Schwanz tüchtig darin herumarbeitet, entspricht der Vorstellung einer Fellatio, eines sexuellen Aktes, bei dem das Glied in den Mund der gebrauchten Person eingeführt wird. Sonderbar genug, daß diese Phantasie so durchwegs passiven Charakter an sich trägt; sie ähnelt auch gewissen Träumen und Phantasien von Frauen oder passiven Homosexuellen (die im Sexualverkehr die weibliche Rolle spielen).

      Möge der Leser nun an sich halten und nicht in aufflammender Entrüstung der Psychoanalyse die Gefolgschaft verweigern, weil sie schon in ihren ersten Anwendungen zu einer unverzeihlichen Schmähung des Andenkens eines großen und reinen Mannes führt. Es ist doch offenbar, daß diese Entrüstung uns niemals wird sagen können, was die Kindheitsphantasie Leonardos bedeutet; anderseits hat sich Leonardo in unzweideutigster Weise zu dieser Phantasie bekannt, und wir lassen die Erwartung – wenn man will: das Vorurteil – nicht fallen, daß eine solche Phantasie wie jede psychische Schöpfung, wie ein Traum, eine Vision, ein Delirium, irgendeine Bedeutung haben muß. Schenken wir darum lieber der analytischen Arbeit, die ja noch nicht ihr letztes Wort gesprochen hat, für eine Weile gerechtes Gehör.

      Die Neigung, das Glied des Mannes in den Mund zu nehmen, um daran zu saugen, die in der bürgerlichen Gesellschaft zu den abscheulichen sexuellen Perversionen gerechnet wird, kommt doch bei den Frauen unserer Zeit – und, wie alte Bildwerke beweisen, auch früherer Zeiten – sehr häufig vor und scheint im Zustande der Verliebtheit ihren anstößigen Charakter völlig abzustreifen. Der Arzt begegnet Phantasien, die sich auf diese Neigung gründen, auch bei weiblichen Personen, die nicht durch die Lektüre der Psychopathia sexualis von v. Krafft-Ebing oder durch sonstige Mitteilung zur Kenntnis von der Möglichkeit einer derartigen Sexualbefriedigung gelangt sind. Es scheint, daß es den Frauen leicht wird, aus Eigenem solche Wunschphantasien zu schaffen. Die Nachforschung lehrt uns denn auch, daß diese von der Sitte so schwer geächtete Situation die harmloseste Ableitung zuläßt. Sie ist nichts anderes als die Umarbeitung


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