Geschichten vom Pferdehof. Lise Gast
Читать онлайн книгу.losrannten.
„Richtig!“ rief Tante und schlug sich vor die Stirn. Aber dann hatte sie den rettenden Gedanken.
„Lauft in die ‚Krone‘. Das ist die Gastwirtschaft mit Metzgerei, da könnt ihr durch die Gaststube hinein und von dort aus in den Laden.“
Gut, das war auch ziemlich nahe. Wir rannten los.
Pennys Vater hat seit letztem Weihnachten ein Zimmer in Onkels Haus belegt, in dem seine Möbel stehen, und wenn er in Hohenstaufen ist, wohnt er dort.
Wir waren an der „Krone“ angekommen und gingen hinein. Viele Leute waren sicher nicht in der Gaststätte. Penny schob die schwere Tür zur Gaststube auf, und wir schlüpften hinein. Von dort aus konnte man in die Küche gehen, und dort fanden wir die Gastwirtsfrau.
Wir erzählten, daß wir „hintenherum“ etwas haben wollten, und sie lachte und schloß uns den Metzgerladen auf. Während sie Fleisch für Gehacktes durch die elektrische Maschine drehte, flüsterte Penny mir zu: „Hast du ihn gesehen?“
„Wen?“ fragte ich.
„Na, den Gero. Den vom Zirkus.“
„Wo?“ Ich hatte nichts gesehen. Penny hat ihre flinken Augen überall.
„In der Gaststube. Dort drüben am Fenster sitzt er.“
„Ach!“
Nein, ich hatte nicht achtgegeben, wer dort saß.
„Paß auf, wenn wir zurückgehen“, sagte Penny, bezahlte und bedankte sich. Die Wirtin ließ uns wieder aus dem Laden durch den Flur in die Gaststube, während sie den Laden abschloß. Es war dämmerig hier, und ich spähte sofort zum Fenster hinüber. Ja, da saß der Junge, den wir kannten: vom Zirkus, vom Sammeln und von der Schule her. Er hatte ein halbvolles Bierglas vor sich und starrte hinein, während er uns überhaupt nicht wahrnahm. Penny hielt mich am Ärmel fest.
Ich sah sie fragend an. Sie deutete mit dem Kinn auf den Jungen. Der stand jetzt auf, ging langsam, ein wenig müde, zum Zigarettenautomaten, warf Geld hinein und zog die kleine Lade mit einem Ruck heraus. Dann nahm er die Schachtel, setzte sich wieder an seinen Platz, zündete sich eine Zigarette an und stierte wieder in sein Glas.
Wir sind dann gegangen. Leise, damit er uns nicht sah, aber da war, glaube ich, keine Gefahr, er blickte überhaupt nicht auf.
„Hast du gesehen? Zieht sich Zigaretten, trinkt Bier ...“ Penny flüsterte noch, als wir schon wieder draußen waren und er uns bestimmt nicht mehr hören konnte. Ich nickte, sagte aber nichts. Wir dachten beide genau dasselbe.
Diesmal rannten wir nicht. Wir rennen sonst eigentlich immer, Penny ist so ein Sausewind und kann nicht langsam gehen, aber diesmal gingen wir langsam, beide tief in Gedanken. Keine von uns sprach aus, was sie dachte. Aber wir wußten es voneinander.
„So eine Gemeinheit. Versäuft und verraucht das Geld, das er angeblich für Hafer sammelt“, sagte ich schließlich, ich konnte nicht mehr schweigen. „Das sagen wir aber Onkel Albrecht – oder deinem Vater – oder der Polizei!“
Penny blieb stehen. Wir waren noch gar nicht zu Hause, aber ich hielt unwillkürlich auch an und sah zu ihr hinüber. Ihre dunklen Augen unter den Zottelhaaren sahen mich an.
„Oder meinst du, nicht?“ fragte ich, unsicher werdend. Wenn Penny gar nichts sagt und nicht rennt, dann wird mir unheimlich zumute.
„Ich weiß nicht, du“, sagte sie schließlich. „Ob – ob es dadurch – besser wird?“
„Na – auf jeden Fall könnte man doch – man könnte ihm das Geld wegnehmen und selber Hafer dafür kaufen, damit – die Ponys müssen doch zu fressen haben, den Winter durch, das ist wichtiger, als daß der Kerl Bier trinkt“, sagte ich nach einer Weile. Penny sah mich noch immer an. Sie war keinen Schritt weitergegangen.
„Komm, Tante wartet“, erinnerte ich sie. Da löste sich ihre Starre ein wenig, und wir gingen heim, lieferten das Fleisch in der Küche ab, zählten das restliche Geld hin, und dann verdrückten wir uns. Ohne ein Wort gesagt zu haben, liefen wir in unsere kleine Wohnung hinunter. Penny setzte sich an den Tisch.
„Aber gemein finde ich es doch“, sagte ich nach einer Weile. Es empörte mich. Wir hatten ganz schön gearbeitet, um die zwanzig Mark zusammenzubekommen, und dieser Gero nahm sie und ging damit in die Wirtschaft und trank Bier. So viel älter als wir war er auch nicht. Und rauchte. Und die Ponys hatten das Nachsehen. Das vor allem giftete mich so. Ich sagte dann aber nichts mehr. Pennys Augen können sich so verändern – sie waren jetzt wie zwei tiefe, tiefe dunkle Seen, bei denen man nicht ahnt, was auf dem Grund liegt.
Pennys Vater mußte abreisen. Wir brachten ihn mit Rupert zur Bahn, das war eine kleine Ablenkung und Entspannung. Aber ich hatte es sozusagen in den Knochen, daß etwas passieren würde ...
Am nächsten Tag war also Schulausflug, wir hatten keine große Lust dazu, aber besser als Schule war es jedenfalls. Tante Trullala packte uns Herrlichkeiten ein für unterwegs, und wir schoben los. Da passierte es.
Das heißt – nun ja, eine Keilerei gibt es ja manchmal, vor allem, wenn Neue in eine Klasse kommen. Rupert sagt, das nennt man die Hackordnung, neue Hühner werden zunächst mal von den alteingesessenen gehackt, bis sie sich akklimatisiert haben und in die Herde aufgenommen sind. Insofern war das nicht so schlimm. Und Herr Körner hat es auch fertiggebracht, daß es einigermaßen glimpflich ausging, also nichts mehr zu registrieren war als Nasenbluten und blaue Flecken und ein blaues Auge und ein paar zerrissene Sachen. Immerhin ...
Wir waren zur Spielburg hinaufgegangen und hatten dort erst mal haltgemacht, und Herr Körner erzählte, daß früher hier Kampfspiele stattgefunden hätten. Er beschrieb uns das alles sehr lebendig, fand ich. Wie die Zuschauer im Kreise standen und anfeuernd schrien, und in der Mitte fand der Kampf statt. Es ist sehr schön an der Spielburg. Dort ist auch die Höhle – unsere Höhle, denke ich immer –, in der wir in einer Silvesternacht mal gesessen und Feuer gemacht haben.
Vor allem für die Zirkuskinder erzählte Herr Körner das, denn die anderen aus der Klasse wußten es natürlich. Die beiden Jungen hörten schweigend zu, und Marfa hatte ein ziemlich spöttisches Lächeln um den Mund, so, als ob sie dächte: Naja, so was erzählt man eben, wenn man sich wichtig machen will. Das ärgerte mich. Penny schien es genauso zu gehen. Als Herr Körner dann schwieg, fing sie an zu erzählen: daß es hier auch spukte.
Einmal hatten Jungen hier oben ein Feuer zu machen versucht, darin wollten sie etwas verbrennen, was nicht gefunden werden sollte, alte Briefe oder Papiere oder so was. Das ging aber nicht, es war, als ob eine große Hand darüberstriche; sie versuchten es immer wieder, zuletzt eigentlich nur noch, um sich zu beweisen, daß etwas nicht stimmen konnte – sie fanden es gleichzeitig schön und schauerlich, daß es nicht ging.
„Vermutlich, weil sie nasses Holz genommen hatten“, sagte Marfa jetzt ganz laut und grinste unverschämt. Penny wurde aufgeregt vor Ärger, und weil ein paar lachten, und versuchte zu erklären, daß ...
„So dumm werden die Jungen ja wohl nicht gewesen sein“, sagte sie wütend. Da mischte sich einer der größeren Jungen aus der Klasse ein: „Ich kenne diese Geschichte auch. Nachdem das Feuer das dreizehntemal ausgegangen war, haben die beiden Jungen ...“
„Ja, das hat Irene auch erzählt! Sie haben eine Stimme gehört, die etwas rief, aber nicht deutsch, sondern in einer anderen Sprache“, fiel Penny wieder ein. Da sagte Gero ganz laut und höhnisch: „Das war wohl dein Vater, der Mogler. Oder willst du vielleicht behaupten, daß er wirklich zaubern kann?“
Und da ging es los! Es war, als ob jemand in eine Eisdecke gestoßen hätte, unter der heißes Wasser brodelte. So was gibt’s nicht, ich weiß, aber es wirkte so auf mich. Die ganze Klasse war in Sekundenschnelle ein einziges Durcheinander von Schreien, Stößen und Schlägen, Mädchen ebenso wie Jungen. Wie Herr Körner letzten Endes Ruhe schaffte, ist mir immer schleierhaft geblieben. Vielleicht hat er als Junge auch viel gerauft und wußte noch ein paar Tricks: daß man zum Beispiel einem, der auf einen andern losgeht, schnell ein Bein stellt, so daß er stolpert,