Geschichten vom Pferdehof. Lise Gast
Читать онлайн книгу.und riefen – und wo steckte er schließlich? Im Hunde-Reh-Zwinger. Wir zerrten ihn mit Triumphgeheul heraus.
Dann aber mußte er wegfahren, und Frau Engel und ihre Tochter waren auch fertig umgezogen und stiegen ins Auto. Wir winkten beiden Wagen nach und liefen dann vergnügt ins Haus zurück und von dort aus in den Garten, der dahinter liegt. Jetzt mußten wir erst mal alles genau auskundschaften.
Eins sahen wir sofort: Ein Reh im Garten ist für jemanden, der sich mit dem Gärtnern Mühe gibt, nicht einfach. Susi knabbert alles, aber auch alles an, was in ihrer Reichweite liegt. Sogar die Rosen, die doch scharfe Dornen haben. Mit ihrem feinen Mäulchen macht es ihr nichts aus, die Triebe abzubeißen und zu verspeisen.
Eine Schaukel gab es auch im Garten. Sie hing an einer großen Kiefer mit dicken Ästen, und wir probierten sie gleich aus. Und dann fanden wir auf einem überdachten Sitzplatz eine Tischtennisplatte mit Netz und Schlägern und Bällen. Da haben wir uns gleich ein Match geliefert, Penny und ich, und ich glaube, Frau Engel und ihre Tochter sind deshalb so schlank, weil sie Tischtennis spielen. Denn wenn einem ein Ball wegspringt, springt er in den Garten hinein und kullert davon; der Garten ist nämlich etwas abschüssig, und man muß hinterherlaufen und sich bücken und suchen und dann wieder bergauf laufen, und das alles macht schlank. Wenn man in einem Raum spielt, braucht man die Bälle nur von der Erde aufzuheben. Wir fanden es hier aber viel schöner als in irgendeinem Hobbykeller.
Als wir uns ausgetobt hatten, riefen wir erst mal in Hohenstaufen an. Frau Engel hatte ausdrücklich gesagt, wir dürften telefonieren. Tante Trullala meldete sich. Penny sagte hoheitsvoll: „Kann ich bitte Herrn Boss sprechen?“
Die Tante schaltete sofort und antwortete: „Wauwau am Apparat!“ Wir ließen die Hunde schön grüßen und erzählten, wie herrlich wir es hier hätten und ob Rupert schon angekommen wäre. Dann legten wir uns auf den Rasen, jede mit einem Stoß Bücher neben sich, die Ulli uns herausgesucht hatte, und fingen an zu lesen. Darüber verging der Vormittag im Nu. Schließlich mußten wir Susi die Flasche zurechtmachen.
Da alles an der Wandtafel stand, ging das ohne Schwierigkeiten vor sich. Wir probierten, ob sie nicht zu heiß war, und liefen dann hinaus, um Susi zu locken. Ein bißchen bange waren wir, ob sie auch kommen würde, aber im Gegenteil! Kaum sah sie die Flasche, da sprang sie heran und hob das Guschel, und gleich darauf zog sie am Schnuller, daß der von der Flasche rutschte und die Milch sich auf den Rasen ergoß. Erschrocken hielten wir die Flasche senkrecht und gingen noch mal in die Küche, um sie aufzufüllen. Zum Glück hatten wir reichlich Milch gekocht. Und nun paßten wir gut auf und hielten den Schnuller fest an das Glas gepreßt, und Susi trank ihren Schoppen, wie man hier in Schwaben sagt, bis auf den letzten Tropfen aus.
Der Nachmittag war schnell um, und mit der Abendflasche für Susi passierte keine Panne. Dann bekam Nimrod sein Abendbrot (das hatten wir auch an der Wandtafel notiert), und für uns machten wir Rührei, was ich sehr gern esse. Ehe es dunkel wurde – im September wird es zeitig dunkel–, machten wir noch einen kleinen Rundgang, sahen nach, ob auch alle Gartentüren zu waren, und krochen dann ins Bett, um noch zu lesen, solange wir wollten. Nimrod und Susi waren von selbst in ihren Zwinger gegangen, und wir machten vorsichtshalber die Tür zu. So, nun konnte eigentlich nichts passieren.
Was man träumt, wenn man das erste Mal unter einem fremden Dach schläft, soll in Erfüllung gehen. Na, da konnte ich mich ja auf etwas gefaßt machen! Ich träumte das verrückteste Zeug, was man sich nie ausdenken kann, war in einer Schule, in der Rehböcke in den Bänken saßen, mit richtigen kleinen Gehörnen, und ich sollte mich dazusetzen, hatte aber Angst vor ihnen. Frau Engel hatte uns nämlich erzählt, daß es gefährlich ist, kleine Rehböcke aufzuziehen, wenn man ihnen nicht rechtzeitig die Freiheit wiedergibt. Sie sind dann nicht mehr scheu vor den Menschen, weil sie ja mit Menschen aufgewachsen sind, aber Fremde mögen sie nicht, und es kann vorkommen, daß sie sich auf Spaziergänger stürzen und sie forkeln. So war ich richtig froh, als ich aufwachte, von einem grellen, langanhaltenden Läuten hochgerissen, und als ich mich umsah, wußte ich erst gar nicht, wo ich war. Dann aber kapierte ich es und lief im Schlafanzug an die Haustür. Es war der Postbote. Er hatte ein Paket für Engels, deshalb hatte er geläutet. Ich nahm es und bezahlte die Gebühr von meinem eigenen Geld, und dann ging ich befriedigt ins Schlafzimmer zurück, wo Penny noch immer schlief. Ich weckte sie, denn wir mußten ja Susi füttern.
Sie stand schon am Gitter und wartete, als wir mit der Flasche kamen, und es war zu hübsch, wie sie trank. Für Nimrod hatten wir Hundekuchen, weil er sein richtiges Futter erst abends bekommt, aber er sollte auch nicht in den Mond gucken, wenn Susi etwas bekam. Dann machten wir uns selber ein Frühstück und beschlossen, in den Wald zu gehen. Vielleicht gab es Brombeeren. Nimrod durfte mit, aber an der Leine. Wir wußten, wo sie hing: im Flur an einem Haken neben dem Waldhorn. Wir versprachen Susi wiederzukommen – sie kümmerte sich jedoch überhaupt nicht darum, um so besser – und zogen los. Den Hausschlüssel hatte ich mir an einem Bindfaden um den Hals gebunden.
Wirklich, es gab schon Brombeeren. Wir pflückten und aßen und fanden dann eine Trimm-dich-Strecke im Wald, offensichtlich ganz neu angelegt, das sah man an den hellen, geschälten Stämmen. Wir machten Bocksprünge über die dazu aufgestellten Baumstümpfe, schaukelten an den Ringen, rannten bergauf und bergab, balancierten auf Stämmen und übten Liegestütze, wie es auf den Bildern vorgeschrieben war. Total erschossen, naßgeschwitzt und brüllhungrig gingen wir heim, um Susi die Mittagsflasche zu geben. Dann legten wir uns in die Liegestühle und beschlossen, an diesem Tag keinen Schritt mehr zu laufen. Wenn wir gewußt hätten, wieviel wir noch laufen würden ...!
Aber zunächst war alles friedlich, kein Mensch kam, um uns zu stören, und Susi knabberte im Garten herum, während Nimrod sich zu uns gelegt hatte. Er war von der Trimm-dich-Strecke ganz schön müde, obwohl er ja alles, was an den Geräten geturnt werden muß, nicht hatte mitmachen müssen.
Nachmittags läutete es an der Haustür, und Penny lief hin, um nachzusehen, wer es war. Ich hörte sie sich mit jemandem angeregt unterhalten, und dann fuhr ich wie der Teufel aus meinem Stuhl hoch, denn Penny hatte ganz laut geschrien. Ich war im nächsten Augenblick bei ihr und sah, was los war.
Die Gartentore hatten wir am Abend nicht nur zugemacht, sondern vorsichtshalber abgeschlossen und am Morgen nicht wieder aufgemacht, damit die beiden, Nimrod und Susi, nicht ausreißen konnten. Aber die Haustür! Penny hatte, wie das ihre Gewohnheit ist, weil sie immer rennt, alle Türen hinter sich aufgelassen, Susi war ihr nachgelaufen, und während Penny mit der Frau verhandelte, die geläutet hatte und irgend etwas bringen oder holen wollte, war Susi an ihr vorbeigeschlüpft und, ehe es Penny sich versah, auf der Straße. Himmel, jetzt war sie draußen, wie bekamen wir sie wieder?
„Nicht rennen, nicht rennen, sonst rennt sie uns weg!“ flüsterte ich, und wir schlichen uns ganz langsam und vorsichtig hinter Susi her. Sie aber wußte anscheinend genau, was es geschlagen hatte, und sprang davon, zum großen Glück nicht auf die Straße zum Städtchen hinunter, wo Autos fuhren, sondern bergauf über die Wiesen und Felder, dem Wald zu. O Himmel, Himmel, wie sollten wir sie da jemals wiederkriegen!
Penny wollte gleich losrasen, aber ich schrie, sie sollte warten, wir müßten überlegen. Auf alle Fälle brauchten wir etwas, mit dem wir sie festmachen konnten, wenn wir sie fingen – ich nahm Halsband und Leine von Nimrod, den wir im Garten ließen. Dann fühlte ich noch rasch nach dem Hausschlüssel – ja, ich hatte ihn umgehängt –, und wir schlugen die Haustür hinter uns zu und rannten los.
Na, die Trimm-dich-Strecke vom Vormittag war ein Vergnügen gewesen gegen das, was uns jetzt bevorstand. Zum Glück rannte Susi nicht zielbewußt weg, so daß sie uns gleich ganz aus den Augen gekommen wäre, sondern sprang über die Wiesen, blieb manchmal stehen, zupfte ein Gräschen, sah sich nach uns um, sprang wieder ein Stück – wir behielten sie also vorläufig im Auge. So eilig wie möglich, aber doch nicht so schnell, daß wir sie erschreckten, folgten wir ihr, riefen: „Susi! Susi!“ und lockten und schmeichelten. Sobald wir ihr aber nahe gekommen waren, so auf drei, vier Meter, sprang sie wieder ab, und was kann ein Mensch mit zwei plumpen Beinen gegen ein Reh mit vier gazellendünnen Läufen ausrichten!
Oh, diese Jagd! Manchmal träume ich noch heute davon. Wir keuchten und hatten ganz trockene Münder, während uns der Schweiß aus den Haaren