Der du von dem Himmel bist. Rudolf Stratz

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Der du von dem Himmel bist - Rudolf Stratz


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Ketteler von Mainz, zu einer öffentlichen Äusserung verleitet — einer Äusserung nicht nur gegen Bismarck, — noch höher hinauf — kurzum: Er tat am besten, dass er am nächsten Morgen still um seinen Abschied einkam. Der wurde ihm denn auch in Ehren gewährt. Seitdem — nun schon ein Menschenalter lang — lebte er zurückgezogen als Mieter und alter Witwer in dem Solitanderschen Haus in der Kapuzinergasse zu Heidelberg, ging jeden Morgen in die Jesuitenkirche zur Messe und jedes Jahr einmal nach Aachen, Trier oder Köln zum allgemeinen Ablass, wie sein Freund, der alte Solitander, in jedem Frühsommer einmal die Festungsgräben von Rastatt aufzusuchen und still, mit blossem Kopfe, ein Stündchen vor den Grabsteinen der dort 1849 standrechtlich erschossenen Freischärler zu stehen pflegte. Das war seine Andacht, so bitter sich auch die beiden alten Herren das ganze liebe lange Jahr hindurch über das gegenseitige Ziel ihrer Wallfahrten zu sticheln und zu zanken und erzürnt und achselzuckend auseinanderzugehen pflegten, um sich am nächsten Tage wieder zu vertragen. Denn darin waren sie doch schliesslich mit ihrem Schicksal eins: sie hatten beide gehofft und mit ihrem Blut betätigt: das Reich komme! Und das Reich war gekommen — aber von Norden her — in Schwarz-Weiss-Rot — so ganz anders, als sie gedacht, so ohne Freude für sie beide ...

      Und als man nun bei dem Hasen sass und der Rheinwein seinen kühlen, würzigen Hauch über den Tisch verbreitete, da wurde Gryphius Solitander doch schliesslich seiner inneren Stimmung nicht mehr Herr, sondern sprach, nachdem er lange, in Erinnerung verloren, geschwiegen: „Ja — du hast es gut, Hedwig, meine Tochter! Du bist ein Kind der neuen Zeit. Du hast nur zu lernen, nichts zu vergessen. Drum bist du heute geworden, was dein Vater — als der erste aus einer langen Reihe Solitander vor uns — Zeit seines Lebens nicht geworden ist — ein Doktor der Philosophie zu Heidelberg.“

      „Im Zellengefängnis kann man nicht promovieren!“ sagte der alte Evangelist von Thiengen mit vollem Mund. Er liebte Hasenbraten sehr.

      „Ganz richtig!“ versetzte der Achtundvierziger neben ihm. Er war froh, dass ihm der Freund in die richtige Bahn geholfen. „Dort haben wir Wolle gespult und gefroren und gehungert — vier Jahre lang in Bruchsal — aber nicht den Cicero traktiert, bis ich dann glücklich ausgebrochen bin und nach Amerika und nach der Amnestie, nach siebzig, zurück. Aber da war’s zu spät, sich noch einmal hinzusetzen und die Studien neu zu beginnen und sich prüfen zu lassen. Ein Freischärler! — Ein Revolutionär! — Haha! da bin ich lieber ein Privatgelehrter geworden und hab’ mir ein Weib genommen und still für mich hingelebt!“

      „Und wenn ich nicht wäre, wärest du auch nicht, meine Tochter!“ wandte er sich plötzlich heftig an Hedwig. „Und es gäbe einen neugebackenen Doktor weniger in unserem neugebackenen Reich, das im übrigen Gott segnen möge! Jawohl — viel hat nicht gefehlt, so hätten sie mich damals auch füsiliert. Da hiess es, wie sie Rastatt genommen hatten, die Preussen, jeden Tag unter dem standrechtlichen Protokoll: Dieser Herr Inquisit soll mit Pulver und Blei hingerichtet werden! — Mein Glück war, dass ich so schon, von Waghäusel her, meine Kugel im Leib hatte! Ich war so schon auf dem Tod. Und wie ich schliesslich wieder aufkam, da wehten schon mildere Lüfte — da gab’s schon „Gnade“, lebenslängliches Zuchthaus — haha ...“

      Er machte eine Bewegung mit der welken Hand, wie um das alles wegzuscheuchen, und frug dann plötzlich in gewöhnlichem Ton, so als habe man die Zeit über vom Wetter gesprochen: „Wo steckt denn eigentlich Riedinger?“

      Und Demut von Behla erklärte wieder: „Er hat einen schweren Fall eingeliefert bekommen. Es handelt sich um ein, zwei Stunden! Hoffentlich bringt er ihn durch!“

      „Das tut er doch immer!“ rief Suse Trautvetter überzeugt. Sie bewunderte Riedinger als Arzt, wie das viele und täglich mehr taten.

      „Und dabei erklären seine Feinde immer noch seine Methode für unwissenschaftlich!“

      Olga Ritter hatte das über den Tisch herüber gesagt, eigentlich zu Hedwig, und ihr antwortete die kleine Trautvetter, ganz wütend und mitleidig dabei, dass eine Philosophin es wagte und da hineinredete: „So? Na! Er macht die Leute eben gesund — ob das wissenschaftlich oder unwissenschaftlich geschieht, das ist dem Patienten furchtbar egal! Neulich — wie er guter Laune war und ein paar Minuten Zeit hatte, da hat er mir ’mal ein Privatissimum gehalten in der Klinik, in einer Ecke vom Korridor, und dabei immer einen Knopf von meinem Mantel in seiner Hand gedreht und schliesslich abgerissen und war gar nicht so spöttisch wie sonst: „Lernen Sie erkennen, Sie junges Blut!“ hat er gesagt, „dass es gar keine Wissenschaft gibt und auch gar keine Krankheit gibt, überhaupt nichts, was ausser dem Menschen ist. Aber kranke Menschen und gesunde Menschen gibt es und Hilfsmittel, die im Menschen sind: aus sich heraus muss er genesen. Was von aussen in ihn kommt — das Messer des Chirurgen oder die Gifte aus der Apotheke — das ist nur ein neues Übel! Ausnahmen gibt’s — aber im allgemeinen verschreibe ich dem Kranken sich selbst — bis er begreift, dass ihm nichts helfen kann, als sein eigener Blutumlauf und seine eigene Diät und seine eigene Bewegung, die man in die richtigen Bahnen gelenkt hat.“ — Und welche Wunderkuren macht er dadurch ... Wir sehn’s ja jeden Tag!“

      „Und wie setzt er sich dadurch in Widerspruch zu allen seinen Kollegen — zu der ganzen Fakultät!“ sagte der alte Herr. Er konnte den Dr. Riedinger, obgleich der ja hier im Haus und Hof unter seinen Augen aufgewachsen war, im Innersten seines Herzens nicht recht leiden.

      Suse Trautvetter nickte. Das sprach ja gerade für ihn. „Freilich, Herr Solitander! Er gibt nicht nach, wo er weiss, dass er im Recht ist und alle anderen im Unrecht. Ich glaub’, da könnte der Kaiser selber kommen — er bleibt dabei. Neulich hat er ’mal am Krankenbett zu den Assistenten gesagt — förmlich entschuldigend, dass der Mann durch ihn wieder ausser Lebensgefahr war, gegen alle Regeln der Kunst: „Ich bin halt ein Pfälzer Dickschädel, meine Herren!“ und hat selber dabei lachen müssen — nicht wahr — Fräulein von Behla — Sie haben’s gehört?“

      Demut nickte nur, immer ein wenig geistesabwesend, und die Andere fuhr fort, erhitzt und redselig durch das Glas schweren Weins, das sie unvorsichtig ausgetrunken. „Das heisst, eigentlich tut’s mir leid, dass er mir das alles jetzt schon verraten hat. Ich möcht’ nicht mehr hin in die Klinik — da verliert man all den Glauben an das, was die anderen, die Professoren sagen! Ich mach’ mir immer jetzt schon innerliche Vorbehalte, wenn ich ihnen zuhör’. Und nachher beim Examen muss ich doch sagen, was die meinen und lehren! Da hilft mir die Riedinger’sche Weisheit nichts! Denn er ist jetzt ja noch nicht einmal Extraordinarius — immer noch Privatdozent!“

      „Sehen Sie, mein liebes Fräulein Trautvetter!“ versetzte der Hausherr bedächtig und goss sich und dem alten Evangelist den Rest der zweiten Flasche ein: „das hab’ ich bloss von Ihnen hören wollen! So ist der Riedinger. So wirkt er! Auf alle und auf alles! Ein Verstand wie Scheidewasser! Was er unter seinen Zwicker nimmt, das zersetzt sich — das löst sich — auf einmal ist es ganz weg — wir stehen mit leeren Händen da — das befriedigt ihn dann — aber uns nicht! Einreissen kann er — aber wie’s dann mit dem Aufbauen wird —? Und so war er immer — schon als Bub — immer rechthaberisch — immer spöttisch — immer hat er an allem gerüttelt und gezweifelt! Wenn wir eine Meinung hatten, dann war das ganz gewiss für ihn ein Grund, das Gegenteil zu glauben! Guter Gott — was sein Vater, der brave alte Lokomotivführer, der seinen letzten Groschen auf ihn verwendet hat, — was für Mühe der gehabt hat, ihn auch nur zur Konfirmation zu bringen, — ich bitt’ euch: Ein Bub von vierzehn Jahren und wollt’ schon nicht an die Schöpfungsgeschichte glauben ...“

      „Das tut er auch heut’ noch nicht, Herr Solitander!“ bemerkte Suse Trautvetter ein wenig respektlos, und der alte Herr nickte: „Das weiss ich. Aber die armen Eltern haben mir damals wirklich leid getan!“

      „Ach — die sollen froh sein, dass sie ihn haben!“

      „Das sind sie ja auch. Er ist ja auch ein guter Sohn — das muss ihm der Neid lassen.“

      „Und wenn Sie ihn einmal in der Poliklinik sehen würden, Herr Solitander! So grob er sonst ’mal ist, zu den armen Leuten ist er rührend nett und freundlich!“

      „Alles zugegeben!“ sagte der alte Achtundvierziger. „Und ich hab’ auch nichts gegen ihn! Ich bin selbst ein Querkopf gewesen,


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