Der du von dem Himmel bist. Rudolf Stratz

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Der du von dem Himmel bist - Rudolf Stratz


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im Krankensaal dritter Klasse auf den Fussspitzen und mit angehaltenem Atem auf drei Schritte Entfernung ansehen durfte. Für alles, was mit Leiden und Gebresten zusammenhing, hatte sie das unheimliche Interesse ihres künftigen Berufes und war im stande, bei Tisch in ihrem Kompotteller löffelnd die greulichsten Sachen aus dem Seziersaal zu erzählen, ohne dass eine Fiber auf ihrem rotwangigen, ahnungslosen Kindergesichtchen zuckte. Sie war nie mit sich und der Welt zufriedener, als wenn sie recht viele Kranke gesehen hatte, und es verstimmte sie, dass man ihr heute diesen Genuss entzog. Sie langweilte sich auch. Denn Hedwig gab ihr auf alle ihre Fragen nur kurze, halb verlorene und verträumte Antworten. Und so war sie froh, als Riedinger nach kurzem wieder herauskam, mit seinem eigentümlichen, halb ironischen, halb gutmütigen Blick über den Zwicker hinweg, den er meist für seine Mitmenschen übrig hatte, im Dunkel nach den beiden Mädchen suchte und sich zu ihnen gesellte.

      Gemeinsam gingen sie nach der Stadt zurück und Suse Trautvetter fing gleich wieder an von einem höchst merkwürdigen Fall aus der Universitätsklinik zu berichten — eine Frau aus der Memeler Gegend — Gott weiss, wie hierher an den Neckar verschlagen — man hoffte bereits, dass das die wirkliche, hier sonst nicht vorkommende Lepra sei. Und diese Möglichkeit, den leibhaftigen Aussatz einmal mit eigenen Augen beobachten zu dürfen, begeisterte die Kleine völlig. Sie betrachtete das wie ein gütiges Geschenk des Schicksals, eine nachträgliche Weihnachtsgabe für fleissige Studentinnen.

      Aber die beiden hörten kaum auf sie und so verstummte sie endlich. Natürlich kam sie sich überflüssig vor neben dem Paar. Dass es zwischen Riedinger und Hedwig vorhin etwas gegeben, das merkte sie wohl an deren Wortkargheit und ernsten Gesichtern. So gähnte sie verstohlen und summte im Gehen eine Melodie. Und die beiden andern sahen sich wohl zuweilen an, aber auch sie schwiegen. Sie fühlten alle zwei: es war noch viel Unausgesprochenes zwischen ihnen, viel zu viel, als dass man jetzt auf der kurzen Strecke Wegs und in Gegenwart der Dritten damit hätte anfangen können. Das musste auf morgen oder noch später verbleiben, wenn ihm sein Beruf einmal eine Stunde Zeit zu einer ungestörten Unterhaltung liess. Und als sie nun vor dem Solitanderschen Hause standen und Abschied nahmen, waren ihrer beider Züge sehr ernst. Sie reichten sich stumm die Hand. Dann lüftete er den Hut und ging rasch davon, in die Nacht hinein. ...

      III

      Der nächste Morgen war feucht und trübe — richtiger Heidelberger Winter — Nebelgrau und Nässe über den niederen Dächern der Stadt, Wolkenfetzen oben um die Berge, und dazwischen auf den Höhen des Königstuhls und Heiligenbergs das allerletzte, spärliche Weiss des Schnees.

      Aber trotz des grämlichen Himmels war es, als schiene in Hedwig Solitanders Zimmer die Sonne. Sie hatte ihr Haar noch lose um die Schultern hängen, während sie am Fenster stand und in das Februardämmern hinausschaute, und von diesen rotgoldenen, leuchtenden Wellen ging ein Glanz durch das ganze Gemach und erhellte sie selbst und ihr feines, weisses, müdes Gesicht mit den grossen grauen Augen und umkleidete alles, was da war, mit einem Schimmer lebender Wärme und schwand allmählich, während sie die Flechten strählte, und schrumpfte zu einer feurigen Krone um ihr blasses Haupt zusammen.

      Es war noch früh. Wie jeden Tag war auch heute um sechs Uhr Morgens der Fuhrknecht, der in einer Schlafstelle gegenüber wohnte, nach dem Hofe seines Brotherrn gegangen, wo die Pferde und der Wagen standen, und hatte unterwegs, betäubend mit der Peitsche um sich knallend, die Schlummernden geweckt. So trieb er es seit Jahren. Niemand fand etwas daran. Ja, es war Hedwig in letzter Zeit sogar lieb gewesen, auf diese Weise zum Frühaufstehen und zur Arbeitspflicht gemahnt zu werden. Aber das war nun vorbei. Wohl lagen noch die Repetitionswerke und Kollegienhefte in Haufen auf ihrem Schreibtisch — nur der Blick, der darauf ruhte, war ein anderer geworden — gleichgültig. Die hatten jetzt ihren Dienst getan. Man brauchte sie nicht mehr. Sie waren einem nach so viel Mühe und Nöten innerlich beinahe verhasst. Hedwig klappte die Bände zusammen, stäubte sie ab und sortierte sie — links die geliehenen aus der Universitätsbibliothek, die dieser Tage zurück mussten, rechts die eigenen Bücher und die schwarzen, innen in der fliegenden Hast des Nachschreibens mit beinahe unverständlichen Schriftzügen vollgekritzelten Lederhefte der Vorlesungen. Das tat sie nun alles zusammen in den Schrank. Da mochte es ruhen.

      Sie musste darüber lächeln, wie wichtig ihr gestern um diese Zeit noch diese Folianten erschienen waren. In jedem stak ja die Weisheit darin — gerade der Satz, die Tatsache, die Schulmeinung, die man sie Abends im Examen fragen würde. Es handelte sich nur darum, eben diese entscheidenden Dinge im Sieb des Gedächtnisses zurückzubehalten, und sie hatte immer wieder überlegt und gemutmasst: „das wird es sein — nein — vielleicht doch jenes!“ — und sass noch die letzten Stunden, ehe es losging, und paukte sich, den Kopf auf die Hände gestützt, mit leise murmelnden Lippen irgend etwas Vergessenes, Unumgängliches ein und musste doch, während neben ihr der schwarze Kaffee rauchte und das schwarze Examenskleid, aus dem sie sorgfältig alle Flecken herausgerieben, bereit lag, wieder an tausend krause Sachen denken: — wenn sie nun zu spät kam und die Professoren waren schon da? — dann fing die Geschichte gleich gut an — oder wenn sie eine Frage nach der andern nicht beantworten konnte und in wachsende Verzweiflung geriet und es schliesslich so machte wie jene Studentin vor ein paar Semestern, die plötzlich mitten in der Prüfung in einen Weinkrampf ausgebrochen war und gerufen hatte: „Um Gottes willen — Sie werden mich doch nicht durchfallen lassen?“ — und dann lächelte sie wieder verächtlich. So was kam bei ihr nicht vor. Sie war überhaupt ganz ruhig. Und dabei pochte ihr doch das Herz. ... Von sechs Uhr Abends ab bis zum Beginn der Entscheidung hatte es förmlich Sturm geschlagen. ...

      Das war nun alles vorüber und schon so lange her ... es schien ihr so unwahrscheinlich, dass sie gestern um diese Zeit noch nicht gewusst, ob sie als Doktor der Philosophie oder als durchgefallene Kandidatin zu Bett gehen würde. Zwischen gestern und heute lag schon eine Welt. Ihr vorläufiges Lebensziel war erreicht. Und bedeutete ihr jetzt, in der Erschöpfung nach dem Sieg, doch so wenig. ...

      Diese innere Leere war ihr nie so zum Bewusstsein gekommen wie an diesem trüben Februarmorgen, der so gar nichts von Triumphstimmung atmete. Nun war sie frei — das heisst: der Halt war weg ... der Zwang vor sich und den Menschen ... der kategorische Imperativ: Du musst! Nun konnte sie sich sagen: „Ich will!“ ... Aber sie sagte sich nur, verloren ins Weite starrend: Ja — wenn ich wüsste, was ich will ...

      In einer wunderlichen Traum- und Nebelstimmung schaute sie über die regenfeuchten alten Dächer und Schornsteine, den gelbschäumenden Fluss, von dem man gerade nur noch einen Streifen unter einem Bogen der alten Brücke erkennen konnte, und hinüber nach dem steilen Heiligenberg und hinaus in die weite Ebene und zu den Wolken empor, die eilig über sie zogen und in grauem Gewimmel herantrieben. Es regnete ein wenig. Der lauwarme Südwest blies feucht und frisch durch das offene Fenster und umwehte Hedwig mit einem stäubenden Hauch wie von einem Wasserfall. Das tat ihr wohl. Und dabei wuchs immer mehr die Schwermut in ihr.

      Jetzt läutete es drüben von der Jesuitenkirche und zugleich schlug da unten die Haustüre und der alte fromme Hauptmann a. D. Evangelist von Thiengen ging zur Frühmesse — klein und mager, in seinem verschossenen schwarzen Mäntelchen wie eine Krähe gegen den Wind antrippelnd — ein stiller Christ und Frühaufsteher im Sommer wie im Winter — und klappte den Kragen hoch, steckte die Hände in die Taschen und wanderte zitterig seines Weges ... zum lieben Gott ...

      Sie schaute ihm gedankenlos nach und blieb so stehen und träumte — lange Zeit. Und der Morgen rückte allmählich vor. Schon waren die Kinder schreiend und mit ihren in den Händen geschwungenen Holzklappern rasselnd zur Schule gegangen, die kleinen Läden hatten sich aufgetan, der Althändler Natan Löwenhaar stand, sich die Hände reibend, vor seiner mit Arbeiterhosen, Werktagshemden und paarweise baumelnden Schifferstiefeln behangenen Türe und wechselte ein paar Worte mit dem Friseur Göckler, der auch noch keine Kunden hatte, vom Hof her klang das helle, durchdringende „Ping — ping!“ des Klempners Boos und das Kreischen einer Tischlersäge, und dazwischen das Gebell eines halben Dutzends Köter, die Jean Butterweck, Käthchens Bruder, ein hagerer, stets unterwürfig und verschmitzt lächelnder Studentengünstling und Hundehändler, ins Freie liess. Und auf den Strassen rumpelten die Lastwägen und tönte hüh! und Peitschenknall — die ganze Stadt war lebendig.

      Hedwig wollte die Fenster schliessen. Da


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