Tiergeschichten vom Ponyhof. Lise Gast

Читать онлайн книгу.

Tiergeschichten vom Ponyhof - Lise Gast


Скачать книгу
mich. Ich briet sozusagen auf glühenden Kohlen und sah in immer kürzeren Abständen auf die Uhr, zuletzt in stummer Verzweiflung überhaupt nicht mehr.

      Was würde Markus sagen, wenn ich ihn endlich befreite! Wie würde er toben! Das würde er mir nie, nie, nie wieder verzeihen, und ich würde nie wieder zu den Ferien kommen dürfen, und überhaupt ...

      Endlich kamen wir los. Brigitte, die nun auch heim wollte, sagte, sie wüßte einen Weg durch den Wald, der die Strecke abkürzte. Wir fuhren ihn in unvermindertem, geradezu rasantem Tempo. Tango merkte, daß es in den Stall ging. Ich überlegte. Eines war sicher: Ich mußte durchsetzen, Tango allein in den Stall zu bringen, damit Brigitte nichts merkte. Brigitte sollte lieber gleich zu den andern gehen und sich den erstaunten anderen zeigen, das war unauffälliger, als wenn wir zusammen eintrafen. Sie ging darauf ein, völlig ahnungslos.

      Während ich, Tango am Zügel, hinten herum um die Scheune schlich, dachte ich nach. Ich hatte den Schlüssel zur Haferkiste eingesteckt. Niemand konnte demnach geholfen haben, selbst wenn einer, was unwahrscheinlich war, in den abgelegenen Stall gekommen war. Mir war sehr bang zumute. Markus saß jetzt ungefähr vier Stunden in der Kiste. Er schäumte voraussichtlich vor Wut. Wie, um Himmels willen, würde ich ihn je versöhnen können? Da kam mir eine Idee. Wenn ich ganz, ganz leise aufschloß, das Schloß abnahm, die Haspe hob und mich davonschlich, vielleicht hörte er das nicht. Versuchte er dann wieder einmal den Deckel zu heben, so würde dieser aufgehen, und ich könnte hinterher frech behaupten, ich hätte ihn schon längst befreit. Getobt und gegen den Deckel gedrückt hatte der Gefangene wahrscheinlich nur in der ersten Viertelstunde.

      Gedacht, getan. Ich brachte Tango zunächst in den Schafstall, der leer war, und ließ ihn dort frei laufen. Dann schlich ich leise, barfuß, die Schuhe in der Hand, zum Ponystall. Dort war es totenstill. Ich blieb mit angehaltenem Atem stehen. Sobald Markus mich hörte, würde er wahrscheinlich eine Wut- und Schimpfkanonade auf mich loslassen, vor der ich mich fürchtete. Ganz vorsichtig drehte ich den Schlüssel im Schloß. Offen. Noch immer kein Ton. Ob er schlief — oder erstickt war? Unsinn. In einer Kiste, durch deren Deckelspalt man spucken kann, erstickt man nicht. Wahrscheinlich schlief er.

      Um so besser. Ich schlich rückwärts, so leise wie möglich davon, immer in der Angst, daß in jedem Moment der Deckel hochgehen und ein rotes, wutverzerrtes Gesicht auftauchen würde. Dann war eiligste Flucht angezeigt, zu den anderen, vor denen Markus, der Blamage wegen, nichts sagen würde. Jetzt war ich an der Tür, drehte mich um und rannte davon. Gerettet!

      Ich riß, noch im Schwung, die Haustür auf und prallte auf — Markus, so nah und so plötzlich, daß er mich an den Oberarmen halten mußte, damit ich ihn nicht umrannte. Ich glaubte, ein Gespenst zu sehen. „Markus, Menschenskind, wo kommst du her?“

      „Und du?“ stellte er drohend die Gegenfrage, wobei er aber lachte. Ein abscheuliches, überlegenes Lachen, während er meine Oberarme nicht losließ. Ich fühlte plötzlich, daß es eine Wonne gewesen war, ihn wütend, aber ohnmächtig in der Haferkiste zu wissen. Ich versuchte, mich loszureißen, und fauchte: „Laß mich los! Es geht dich gar nichts an, woher ich komme!“

      „Wohl geht mich das was an“, sagte er frech, „wenn ich Vater nun erzähle —“

      „Was erzähle“, fragte ich atemlos vor Wut, „etwa, daß wir mit Tango gefahren sind? Du wolltest es ja selbst, und jetzt petzen — pfui —“

      Gepetzt wurde nicht, nie, das war klar. Markus sah mich an, seine Augen waren halb geschlossen.

      „Was heißt hier petzen“, sagte er leise, aber wie er das sagte, das ging mir durch und durch. In diesem Augenblick gongte es: Abendessen. War es wirklich schon so spät? Ich hatte durch die Warterei ganz das Zeitgefühl verloren.

      „Übrigens: Darf ich das gnädige Fräulein zu Tisch bitten?“

      Markus bot mir feierlich den Arm. Ich erriet, warum.

      Von allen Seiten strömte es jetzt heran, unsere Vetter und Kusinen, auch Großmutter, an Onkel Hagemanns Arm. Die beiden nickten uns zu.

      „Das ist nett, daß ihr auch da seid“, sagte der Onkel freundlich. „Setzt euch zu uns, kommt, wir wollen euch erzählen. Es war reizend heute. Zu schade, daß ihr nicht mit wart.“

      Eigentlich befanden sich unsere Plätze etwas unterhalb am Tisch, mit unseren Altersgenossen zusammen. An diesem Abend aber mußten wir uns zum Onkel setzen. Während ich nur mit halbem Ohr zuhörte, ging es mir unablässig durch den Kopf: Wie ist Markus aus der Kiste herausgekommen? Oder war er gar nicht darin? Bildete ich mir das Ganze nur ein? Dann war ich geistig gestört, das war sicher.

      Ich würde es heute noch nicht wissen, wenn Markus es mir am Ende der Ferien auf inständiges Bitten hin nicht verraten hätte. Ich bat ungern, aber ich mußte doch wissen, ob ich mich von nun an zu den Verrückten rechnen müßte, die man nicht ernst nehmen kann.

      Deshalb bat ich und bat immer wieder, und als er nicht wollte, sagte ich, dann käme ich nie wieder hierher zu den Ferien. Da gab er zu meiner Verblüffung plötzlich nach, dabei hatte ich das nur versuchsweise gesagt.

      Er berichtete: „Ganz einfach, jemand hatte den ersten Schlüssel gefunden, ein Jemand, den ich längst im Verdacht hatte. Dieser Jemand wollte nun gern den ungefährlichen, menschenleeren Sonntag benutzen, um seine Kaninchen einmal wieder richtig mit unserm Hafer satt zu füttern. Sein Gesicht, das mich anstarrte, als der Deckel der Kiste aufging, war Gold wert. Ich hätte dir eigentlich noch danken müssen für die Einsperrerei.“

      Ich sah Markus an, noch immer schuldbewußt. Merkte er es? Er lachte sein überlegenstes Lachen.

      „Schlechtes Gewissen? Tut dir ganz gut. Aber sonst — ach, vorbei. Alles in Ordnung. Und nächste Ferien kommst du wieder?“

      Daß er das fragte! Ich lachte, nun ganz erleichtert und froh: „Klar! Gern! Und dann fahren wir wieder mit Tango, diesmal du mit. Einverstanden?“

      Unsere Michaels

      Michael ist ein schöner Name. Nicht nur Erzengel heißen so, sondern seit Jahrzehnten auch Menschenkinder. Es ist ein sehr verbreiteter Name, der sich immer mehr durchsetzt. Fast in jeder Familie gibt es einen, so auch in unserer. Und trotz der Mode bereue ich es nicht, daß wir unsern zweiten Sohn so genannt haben. Mein Mann wünschte es sich, und mir gefiel er auch immer. Inzwischen haben wir in unserer weitläufigen Familie viele Michaels, ich habe eine Menge „Beinahe-Söhne“, das ist so, wenn man viele Kinder hat, weil jedes von ihnen Freunde oder Freundinnen mitbringt.

      So viele Erzengel gleichen Namens um sich zu haben ist freilich etwas mühsam und gibt Anlaß zu vielerlei Mißverständnissen. So beschlossen wir irgendwann, jedem einen Spitznamen zu geben. Der eine nannte sich Pfaffenlümmel, was mir nicht gefiel. Er ist Pfarrerssohn, gewiß, aber da kann man sich etwas anderes ausdenken. Wir tauften ihn Dekan. Ein anderer, der im Gegensatz zu uns gern vornehm tut (wir sind keine sehr vornehme Familie), wurde dem Dekan entsprechend Baron genannt. Es paßt wirklich zu ihm. Ein weiterer, von mir angenommener Sohn, hieß schon, als er zu uns kam, seiner hellblonden Haare zufolge Schimmel. Mein eigener Michael, seit Jahren „auf der Insel“, also in England, Schottland oder Irland, wird von den Geschwistern Mike gerufen, ich selbst bleibe aber bei Michael.

      Einer wieder heißt Misch, das kommt von Mischka, seiner bärenmäßigen Tolpatschigkeit wegen.

      So weit, so gut. Jeder der großen Jungen, es sind eigentlich schon Männer, hat irgendeine oder mehrere Eigenschaften, die wir schätzen. Da wir ziemlich einsam in einem kleine Holzhaus zwischen Wiesen und Wald wohnen, sind wir oft direkt auf ihre Hilfe angewiesen, sei es zum Bauen oder Reparieren von Zäunen oder dem Durchstoßen einer verstopften Drainage. Seit einiger Zeit wohne ich ein paar Minuten vom Ponyhof entfernt, den inzwischen Tochter und Schwiegersohn bewirtschaften. Da heißt es „Deine Gäste — meine Gäste“, wir helfen einander mit vielem aus, auch mit der „Ausnützung“ der männlichen Arbeitskräfte.

      So wollte ich einmal eine Gardinenschiene angebracht haben und bat den „Dekan“ um seine Hilfe. Er saß mit Freunden im Ponyhof und hatte anscheinend keine Lust, herüberzukommen. Ich hatte


Скачать книгу