Nichts bleibt, mein Herz, und alles ist von Dauer. Lise Gast

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Nichts bleibt, mein Herz, und alles ist von Dauer - Lise Gast


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Die Großmutter und Regine erwarteten bebenden Herzens das Urteil. Telefon hatte Martin nicht legen lassen, um, wie er sagte, in seiner ›Freizeit‹ nicht behelligt zu werden, im Grunde aber aus Sparsamkeit. So warteten die Damen auf die Rückkehr der Männer, tapfer bemüht, die andere nicht merken zu lassen, wie sehr sie sich sorgten. Was jetzt entschieden wurde, war endgültig. Das Reichsgericht war die oberste Instanz.

      Geists hatten ein Klingelzeichen, das sie unten von der Haustür aus gaben, wenn sie heimkamen: kurz–lang.

      »Wenn es gutgegangen ist, klingelt er von unten«, hatte Regine gesagt. Die Zeit schlich dahin. Die Kinder waren von der Schule zurück und hockten still und bedrückt in ihrem Zimmer.

      »Wird Großvater dann eingesperrt?« fragte Iso leise. Alexander zuckte die Achseln.

      Endlich hörten sie den Schlüssel an der Wohnungstür. Martin schloß auf. Kein Klingelzeichen von unten. Er trat ins Zimmer.

      »Frei«, sagte er.

      »Ach du lieber Gott«, flüsterte die Großmutter und fing an zu weinen. Regine fiel Martin schluchzend um den Hals. Keiner sagte etwas.

      »Und was ist jetzt?« fragte Iso verstört, durch die offenstehende Tür spähend.

      »Es ist alles gut«, erklärte der Bruder. Iso verstand die Welt nicht. Und da weinten die Großen?

      Später fragte sie einmal die Großmutter danach, es ließ sie einfach nicht ruhen. Die strich ihr übers Haar.

      »Wenn man sich sehr freut, weint man manchmal«, sagte sie.

      »Nee, Großmutter, mir könntest du den allergrößten Affen schenken, ich tät nich heulen«, sagte Iso mit Überzeugung.

      Ein großes Aufatmen ging durch die Familie. Vater schenkte den jungen Leuten einen Teppich, Friederike eine goldene »Erbsen«kette und den Kindern ein schönes neues Spiel, »Poch«, mit einem buntbemalten Pochbrett und blankem Spielgeld, das viele Jahre lang Freude machte. Die Schwester übrigens bekam nur ein halbes Jahr Haft auf Bewährung. Sie hat den Großvater später bis zu seinem Tode gepflegt, als er alt und in Pension war. Sie war die Treueste der Treuen.

      Regines und Martins Ehe ging gut, wenig aufregend, aber ohne Katastrophen. Martin verspann sich mehr und mehr in seine Arbeit und war oft vor dem späten Abend nicht ansprechbar. Er war auch ungeduldig mit den Kindern, die sehr laut sein konnten. Dr. Martin Geist war Herausgeber eines Lexikons und sehr gewissenhaft, übertrieben auf Ordnung und Ruhe fixiert und sehr ernst. Regine kam nicht auf die Idee, sie käme zu kurz, sondern nahm ihr Leben hin, wie es war.

      Nachmittags ging sie spazieren mit der Schwester und den beiden Kindern, die das haßten, immer zur ›Völkerschlacht‹, samstags – dort hieß es sonnabends – mit Martin samt ihren drei Anhängseln. Dieses friedliche Leben inmitten des immer bedrohlicher werdenden Krieges wurde unterbrochen, als auch Martin seine Einberufung erhielt. Damit wendete sich das Leben der Familie. Die Kinder begriffen nicht, daß die Mutter weinte, als sie dem Vater vom Erkerfenster aus nachwinkte, sie jubelten und waren außer sich vor Freude, weil die Mutter mit ihnen zu den Großeltern ziehen würde. Was sollten sie in Leipzig, wo bereits die Lebensmittelknappheit um sich zu greifen begann. In einem Doktorhaus auf dem Dorf würde es bestimmt einmal etwas extra geben, außerdem würde ein Doktorvater dasein, wenn das dritte Kind geboren wurde. So siedelte man wieder nach Schlesien über; das weiße, schöne, weiträumige Haus mit dem geliebten Garten darum herum hatte reichlich Platz für die Großfamilie.

      5

      Wieder Camenz. Ängste

      1916

      Es waren zunächst glückliche Jahre für die Kinder. Sie sprachen wieder Schlesisch. Sächsisch hatten sie in Leipzig nicht sprechen dürfen. Großvater Haberland hatte seinen Spaß an den Dummheiten, die sie machten. Mitunter wetterte er auch, aber er verschwieg es, wenn er Iso zu Pferde sah – sie hielt sich mehr im Stall auf als im Haus, ritt in die Schwemme, zum Schmied und war gut Freund mit den jeweiligen Kutschern. Mutter Regine wartete auf ihr Kind, eingehüllt in die Liebe und Sorge ihrer Eltern, und war selig, wenn Martin auf Urlaub kam. Friederike ›half‹ im Haus, las den Kindern abends aus dem alten bewährten Märchenbuch vor, zankte sich mit Regine und hatte zwar keinen Schulabschluß, dafür aber um so mehr Verehrer. Eines Tages verlobte sie sich mit einem jungen Lehrer aus der Nachbarschaft. Ihren Eltern paßte das gar nicht, und sie erreichten, daß die Verlobung wieder gelöst wurde. Ein sehr entfernter Vetter, der zufällig Fritz hieß, Fritz Haberland, und aus Neustadt in Oberschlesien stammte, dem Ort, in dem auch Großvater Haberlands Wiege gestanden hatte, verehrte sie von fern. Er schrieb ihr viele Feldpostbriefe – er war in Palästina eingesetzt und erlebte den Krieg wie ein großes Abenteuer. Elfmal wurde er verwundet. Ein Mann, der immer guter Laune war, ein großer, kräftiger, liebenswerter Mann, der Friederikes Eltern als Schwiegersohn sehr willkommen gewesen wäre. Friederike las seine Briefe, steckte sie weg und antwortete nicht oder nur selten. ›Vielleicht lern’ ich noch mal einen netteren kennen‹, dachte sie, und sie hatte insofern recht, als sie noch so jung war.

      Im Doktorhaus gingen viele Leute aus und ein. Ein nur leicht verwundeter Medizinstudent, der in einem der beiden Lazarette im Dorf lag, schloß sich an Vater Haberland an und kam dadurch in die Familie. Er war zwei Jahre älter als Friederike und flog natürlich auf die Reize der schönen jungen Arzttochter. Wer sich jedoch bis zum Wahnsinn in ihn verliebte, war nicht Friederike, sondern Iso.

      Ein bißchen schmeichelte es Friederike auch, daß dieser junge Mann sie bewunderte. Er hatte schöne, große blaue Augen – Augen wie ein gestochenes Kalb, bemerkte Alexander, als er entdeckte, wie es um Iso stand –, hing an Großvater Haberland, spielte mit Alexander Schach und versäumte keine Unternehmung des jungen Volkes. Er ging mit den Kindern Krebse fangen, brachte Alexander und Iso im Mühlengraben das Schwimmen bei, half im Garten und war ein eifriger Schüler Vater Haberlands. Friederike hatte eben das »Buch der Lieder« von Heinrich Heine entdeckt, das Iso ihr bald stibitzte und daraus auswendig lernte, was immer ihr gefiel. Sie erlebte ihre erste Liebe sehr stürmisch, vergoß Tränen in der Nacht, machte Gedichte, war selig, wenn der Angebetete zu Tisch geladen wurde, kurz, es war eine herrliche Zeit im Doktorhaus. Zwar drängte der Krieg mit Extrablättern und Verwundetenlisten herein, aber sie waren doch ziemlich seitab. Martin war auf Borkum eingesetzt, wo der Landsturm sozusagen auf Wache stand, bräunte sein blasses Gelehrtengesicht und schrieb zuversichtliche Briefe. Die einzige, die Unheil ahnte, war Großmutter Haberland. ›Mütter sind wie Seevögel, sie wittern den Sturm, lange ehe er ausbricht‹, sagte sie manchmal. In dem sehr kalten Winter neunzehnhundertsiebzehn kam Regines drittes Kind zur Welt, Christiane, gesund und mit Begeisterung begrüßt. Friederike erwies sich als die zärtlichste Tante, und Regine dankte Gott, daß ihr Vater das Kind in Empfang nahm, sie wäre ohne Arzt an einer starken Blutung gestorben, hätte er nicht rechtzeitig tamponiert.

      Die Taufe wurde ein großes Familienfest. Natürlich richtete man sich mit dem Termin nach Martins Urlaub, dann aber wurde alt und jung eingeladen. Iso mußte ein Festlied nach der Melodie »Wohlauf, noch getrunken den funkelnden Wein!« dichten, das gemeinsam gesungen wurde. Sie tat es mit Freuden, weil sie gerade die Lyrik entdeckt hatte. Alexander allerdings fand, was sie ›dichte‹, sei Kitsch; einmal aber fiel er gehörig herein. Er hatte ein von ihr geschriebenes Poem irgendwo gefunden – Iso versteckte zwar ihre Elaborate meist, ließ sie aber andererseits auch wieder herumliegen, da sie zu Regines Kummer und Ärger sehr liederlich war – und brachte es voller Hohn vor der ganzen Familie zum Vortrag.

      »Hört mal, was Idiot von sich gegeben hat!«

      Alles verstummte. Er begann mit Pathos:

      ›»Das Hängelämpchen qualmt im warmen Stalle,

      in dem behaglich sich zwei Kühe fühlen,

      Der Hahn, die Henne, um den Sproß die Kralle –‹«

      Es war ganz still. Alle hörten zu.

      »Na? Wunderbar! Einfach klassisch!« kommentierte Alexander, als er die beiden Strophen zu Ende rezitiert hatte. Die Familie schwieg noch immer. Dann sagte die Großmutter langsam, ein wenig in sich hineinhorchend, aber überaus deutlich:


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