Nichts bleibt, mein Herz, und alles ist von Dauer. Lise Gast

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Nichts bleibt, mein Herz, und alles ist von Dauer - Lise Gast


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von Liliencron. Sei so gut, bring mir mal das dicke Buch dort, da steht es sicher drin.«

      Es stand darin. Und Alexander war der Blamierte.

      »Sie dichtet aber sonst immer fürchterlichen Quatsch«, knurrte er und warf seiner Schwester einen wütenden Blick zu. Jeder in der Runde verstand, daß dies nur ein schwaches Rückzugsgefecht war. Iso freilich wußte, daß es noch ein Nachspiel geben würde. Alexander boxte, wenn er wütend war, absichtlich grob, ihre Oberarme trugen ständig blaue Flekken. Da sie nicht petzte – Petzen war verpönt –, mußte sie hinnehmen, was ihr blühte. Immerhin, in diesem Fall war er der Dumme gewesen, das war nicht mehr zurückzunehmen.

      Isos Liebe zur Dichtkunst wurde in diesem Jahr sehr unterstützt. Der junge Mediziner, mehr und mehr zur Familie gehörend, schlug vor, daß die Jugend des Hauses, also Friederike, die beiden Kinder und er nun jede Woche ein Gedicht lernen und am Sonntag vortragen sollten. Jeder hatte die freie Wahl. Friederike entschloß sich als erstes für die »Wallfahrt nach Kevelaer«, Iso für die »Schwäbische Kunde«. Bald lernte man freiwillig ein zweites dazu, oft lange Balladen wie die »Bürgschaft«; das Auswendiglernen fiel immer leichter. Sogar an die »Glocke« und Wildenbruchs »Hexenlied« wagte sich der eine oder andere. Es war eine höchst anregende Zeit. Meist hockte irgendwo in einer Ecke einer, die Finger in die Ohren gesteckt, und memorierte.

      Großmutter Haberland sah es mit Freude und leichter Rührung. Sie selbst wußte unzählige Gedichte auswendig und ließ sich nicht lange bitten, wenn die Kinder mitunter stürmisch nach Bürgers »Lenore« verlangten oder auch nach anderen geliebten Gedichten. Bei manchen wußte sie selbst nicht, woher sie sie kannte, und die Kinder, nun schon größer, baten immer wieder um Gedichte, die sie ihnen ganz, ganz früher aufgesagt hatte: »Wie hoch mag wohl der Himmel sein« oder das Storchengedicht »Man soll nicht aus der Schule plappern«. Vor allem für Iso, die sich so oft und mit Absicht ruppig und jungenhaft benahm, waren Gedichte ein heimlicher Schatz, den sie hütete und stetig erweiterte, ihr ganzes Leben lang.

      Im Doktorhaus befand sich unterm Dach eine schöne, helle Giebelstube, in der die Hase-Rosa wohnte. Schon Regine hatte bei der Hase-Rosa Stricken gelernt, und das, meinte sie, müsse auch Iso, obwohl sie für weibliche Arbeiten wenig Talent und niemals Lust hatte. Lieber mistete sie den Pferdestall aus oder schnitt Gras für die Ziegen. Darüber war Regine oft unglücklich und sogar böse.

      Die Hase-Rosa war klein, bucklig und, ähnlich wie die Gustel, der Frau Rat gegenüber oft schmeichlerisch, doch zu den Kindern war sie nett. Sie hielt immer Vögel, die frei in ihrem Zimmer umherfliegen durften. Seit Iso erfahren hatte, daß einer davon ein Gimpel war, bewunderte sie diese Vögel noch mehr. Im ›Buch der Lieder‹ hatte sie gelernt: »Du bist ja hold den Gimpeln und heilest Gimpelschmerz.« Demnach mußte ein Gimpel wohl eine Art Paradiesvogel sein.

      Die Hase-Rosa verdiente ihr karges Geld mit dem Flicken und Ausbessern von Kleidern. Sie konnte wunderbare Gruselgeschichten erzählen und hatte ein etwas hexenhaftes, aber für die Kinder irgendwie faszinierendes Lachen.

      Iso sollte also Stricken bei ihr lernen. Das wurde ihr arg sauer. Der Topflappen, an dem sie sich mühte, wurde und wurde nicht größer, nur dunkler; Maschen fielen, das Ding sah aus wie ein Putzlappen. Wenn Rosas Geschichten nicht gewesen wären ...

      Die waren seltsam, sehr verschieden, glichen einander insofern, als sie keine Pointe hatten. Iso wußte nicht, was eine Pointe ist, aber sie fragte oft am Schluß: »Und? Und dann? Was kam dann?« Dann wußte die Rosa aber nicht weiter.

      Diese Gruselgeschichten hatte die Rosa alle selbst erlebt, wie etwa die, als sie an der Neiße entlanggegangen war: Da sah sie eine Frau, die Laub zusammenrechte (zusammenrechnete, sagte die Rosa, so sagten auch die Kinder in Schlesien, sogar in der Schule). Rings um einen Baum herum rechnete die Frau, aber nur so weit, wie die Baumkrone reichte. Und hinter sich her zog sie einen breiten, nassen Schwanz, obwohl es überall ringsherum trocken war. Man denke, einen nassen Schwanz! Und als das Weib sie, die Rosa, erblickte, war sie plötzlich verschwunden. Dieses Weib war die Wassernixe.

      Iso hatte schaudernd zugehört. Mehr aber kam nicht.

      Oder: Die Rosa war beim Pilzesuchen gewesen. Auf dem Heimweg ging sie an einer Hecke entlang. Es war schon dämmerig, und in der Hekke hing etwas Weißes. ›Vielleicht ein Taschentuch, das jemand verloren hat‹, dachte die Rosa, ›ich nehm’ es mir mit und wasch’ es aus.‹ Als sie aber in die Hecke griff, schlugen die Zweige über dem Weißen zusammen, und weg war es. Iso lief es kalt über den Rücken.

      Etwas Schönes besaß die Hase-Rosa: ihre Hände. Sie hatte trotz ihrer kleinen Figur große, schöne, bewegliche Hände. Iso sah ihr gern zu, wenn sie spann. Die Hase-Rosa hatte nämlich auch ein Spinnrad.

      Einmal sprach Großmutter mit ein paar zufälligen Besuchern über Hände. Iso saß mit einem Buch in der Fensterecke, las aber nicht, sondern lauschte dem Gespräch. Einer der Anwesenden sagte, Bucklige hätten oft schöne Hände, ausdrucksvoll und lebendig. Und nicht nur diese, auch Hexen. Die Großmutter erzählte, sie habe einen Holzschnitzer gekannt, der habe für eine Hexe – er schnitzte Marionettenfiguren – sicherlich ein halbes Dutzend Hände gearbeitet, ehe ihm ein Paar schön genug gewesen sei. Ja, auch ihre Flickfrau habe so schöne Hände.

      Wie es manchmal so geht: Ein paar Tage später war Iso hingefallen. Sie hatte sich am Handballen eine Wunde gerissen und zeigte sie ihrer Großmutter. Der Großvater war auf Patientenbesuch.

      »Komm, Kind, ich verbinde es dir. Nur wasch dir erst die Hände, wasch sie warm, um die Wunde herum. In die Wunde soll kein Wasser kommen.« Dr. Haberland war immer dafür, ausbluten zu lassen und dann erst zu verbinden. »Sonst wäscht man ja nur alles in die Wunde hinein.«

      Iso gehorchte, die Großmutter nahm die verletzte Hand in ihre weichen, glatten, gepolsterten Hände, deckte die Wunde ab, wickelte schneeweißen Mull herum und steckte das Ende der Mullbinde fest.

      »So. Morgen ist es heil. Was für schöne Hände du hast, Kind«, sagte sie, die Kinderhand in der ihren drehend. »Was wirst du mal damit anfangen? Bildhauerin werden oder modellieren? Oder –«

      »Bucklig werden wie die Hase-Rosa«, zischte Alexander herüber, der der Unterhaltung gefolgt war. »Idiot wird sicher mal bucklig. Mutter sagt das auch. Immer steht sie krumm ...«

      Daran war etwas Wahres. Iso war in der letzten Zeit sehr schnell gewachsen und hielt sich schlecht. Mutter Regine sah es mit Ärger. Dauernd hieß es: »Halt dich gerade!«

      Überhaupt war Regine dieser Tochter gegenüber recht unduldsam. Alexander, ja, der machte ihr Freude, war gut in der Schule, spielte recht nett Klavier und hervorragend Schach. Iso dagegen hatte eine bockige und schwierige Zeit. Kümmerte sie sich etwa um ihr Schwesterchen? Keineswegs. Die Mutter hatte gehofft, Iso würde nun endlich ein richtiges Mädchen werden; sie würde die Kleine ausfahren, sich darum reißen, sie zu versorgen, kurzum, ein Hausmütterchen werden. Sie selbst hatte sich damals um die kleine Friederike gekümmert, obwohl der Stachel in ihrem Herzen immer ein wenig schmerzte, weil sie glaubte, daß die Eltern Friederike wohl mehr liebten als sie. Daß Iso keine Notiz von dem geliebten kleinen Mittelpunkt der Familie nahm, kränkte die Mutter.

      Iso sah zu ihrem Bruder hinüber.

      »Selber Idiot!« giftete sie. Alexander klopfte mit dem Knöchel des Zeigefingers an seine Stirn.

      »Retourkutsche! Nee, der Idiot der Familie bist du. Immer schon und von nun an bis in Ewigkeit. Und jetzt wirst du auch noch bucklig.«

      »Du bist gemein!« schrie Iso wütend. »Immer bist du so gemein zu mir –«

      »Kinder, Kinder, gebt Ruhe«, mahnte die Großmutter, »man hört euch bis ...«

      Es klopfte. Marie öffnete die Tür, nachdem die Großmutter ›Herein‹ gerufen hatte.

      »Die Frau Prinzeß –«

      Das fuhr Alexander und Iso in die Beine. Sie waren im Nu verschwunden, hinter dem schweren roten Vorhang, der den Erker von der Eßstube trennte. Die Prinzessin stand schon im Zimmer.

      Sie war die Frau des Landrates in Frankenstein, eines Neffen des Kaisers und


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