Nichts bleibt, mein Herz, und alles ist von Dauer. Lise Gast

Читать онлайн книгу.

Nichts bleibt, mein Herz, und alles ist von Dauer - Lise Gast


Скачать книгу
und fuhr mit der Hand hinein. In diesem Augenblick fühlte Iso, daß sein Griff lockerer wurde, und gleich darauf hörte sie einen gurgelnden Schrei.

      »Mistvieh, elende verdammte Lerge«, stöhnte der Mann, und da begriff sie, daß Schuftel eingegriffen hatte. Er hing mit dem Maul am Arm des Mannes, mit festem Biß, riß und riß – der Angefallene schrie vor Schmerz und Wut, ließ Iso aber nicht los. Sie verstand endlich, daß er ihr Böses wollte, und versetzte ihm mit dem Knie einen Stoß vor den Bauch – und war im Augenblick frei. Sie hob das Fahrrad, das auf der Erde lag, hoch, schob es zwei Schritte vor und sprang dann in den Sattel, wie wild in die Pedale tretend. Der Hund hielt den Mann, der nach dem Gepäckträger greifen wollte, um sie aufzuhalten, in Schach, der Griff ging daneben, und schon war Iso ein paar Meter entfernt. Sie fuhr davon wie eine Rasende.

      »Schuftel, komm mit!« rief sie noch und merkte, daß ihr die Tränen kamen. Der Hund gehorchte. Nebeneinander jagten sie die Landstraße entlang, bis sie zu einer Kurve kamen und Iso, rückblickend, den Kerl nicht mehr sah. Da stieg sie ab; sie fühlte, wie ihre Knie einknickten, hielt sich mit Mühe aufrecht und lief ein paar Schritte, während sie das Fahrrad schob, saß wieder auf und fuhr weiter. Gottlob, jetzt sah sie die Häuser eines Dorfes, oder war das schon der Anfang von Patschkau?

      Heidis Wohnung war nicht leicht zu finden. Als sie endlich dort angelangt war und Heidi auf ihr Klingeln öffnete, war Iso so erschöpft, daß sie der andern nur schluchzend um den Hals fallen, aber kein Wort herausbringen konnte. Heidi merkte, daß etwas Schlimmes geschehen war, zog Iso ins Zimmer, packte sie in einen Sessel und holte zuerst den Kognak, der in der Flasche auf Schorschels Rückkehr wartete, sonst respektiert, aber hier als nötig erkannt wurde. Iso schluckte und hustete, er brannte ihr in der Kehle, aber die Tränen versiegten. Während sie sich das Gesicht abwischte und die Nase putzte, hatte Heidi schon einen Tee aufgebrüht und Honig hineingerührt. Als Iso den Tee getrunken hatte, wurde ihr besser. Heidi blieb bei ihr, Tante Mieke lag, wie Heidi sagte, im Nebenzimmer auf dem Sofa. Das war gut. In ihrem Beisein hätte Iso ihr Erlebnis nie erzählen können. So aber kam sie, wenn auch stückweise und manches nur andeutend, dazu, Heidi über das zu informieren, was sie so außer sich gebracht hatte, und Heidi fand die richtigen Worte. Dieser Mann sei sicherlich Soldat gewesen und habe jahrelang kein Mädchen gesehen, vielleicht war er auch betrunken ...

      »Ja, er roch so«, flüsterte Iso.

      »Und Betrunkene sind immer gefährlich –«

      »Ich fahr’ nicht zurück! Vielleicht lauert er auf mich«, jammerte Iso, aber auch hier wußte Heidi tröstlichen Rat.

      »Wir rufen in Camenz an, daß du erst morgen kommst. Ich würde ja gern mit dir fahren, aber du weißt ja, ich hab’ zwei kleine Kinder, Caspar und Mutter.« Sie hatte ihren Sohn Caspar genannt, ein Name, den Iso wunderbar fand. Heidi holte jetzt das Kind ins Zimmer, und Iso vergaß über dem strammen kleinen Pausback ihre Angst.

      Freilich, das spätere Gespräch mit der Mutter bedrückte sie sehr. Regine war höchst ungehalten, als man sie endlich erreicht hatte: Iso solle auf jeden Fall noch am gleichen Abend heimkommen. Notfalls mit der Bahn. Als Heidi erwiderte, es gehe kein Zug mehr, schalt Regine noch mehr. Schließlich wurde beschlossen, daß Heinrich, der junge Mediziner, hinüberfahren und Iso heimbegleiten solle. Dabei war noch kein Wort von dem Überfall erwähnt worden, und Iso bat inständig, ihn zu verschweigen. Heidi versprach es ihr. Heinrich erschien endlich auf einem geborgten Fahrrad, aber Iso klammerte sich an Heidi und wollte nicht fort, verstört, wie sie war. Heidi hatte große Mühe, sie zu beruhigen. Und was es mit dem Kaiser auf sich hatte, hatte Iso auch noch nicht gefragt.

      Zu Hause gab es schlimme Vorwürfe von Mutter Regine, mit Tränen auf beiden Seiten.

      »Nie wieder tust du so etwas! Allein wegzufahren! Wir haben Sorgen genug. Radfahren gibt es von jetzt an nicht mehr. Ich habe mir selbst immer ein Fahrrad gewünscht und nie eines bekommen, du wirst das auch überleben.«

      Alexander stand mit glitzernden Augen dabei und verfolgte das Strafgericht mit Schadenfreude.

      Am nächsten Tag kam es noch schlimmer. Der Mann, der Iso belästigt hatte, besaß die Frechheit, zum Großvater in die Sprechstunde zu kommen und seinen Arm zu zeigen.

      »Ihre Hundelerge war das, ich zeig’ Sie an!«

      Großvater gab ihm eine Tetanusspritze und versorgte die Wunde, dann schickte er den Mann weg und nahm Iso vor.

      »Dazu ist der Hund nicht da, daß er mir Patienten ins Haus bringt«, grollte er. »Er tut doch sonst keinem was! Wie kam er dazu, diesen Kerl zu beißen?«

      Daß er ›diesen Kerl‹ sagte, erleichterte Iso ein wenig. Aber sie brachte es nicht über sich zu berichten, wie die Sache wirklich gelaufen war, sondern heulte und heulte nur.

      »Alexander radelt ja auch heimlich, das heißt, Mutter weiß es, aber dagegen hat sie nichts«, schluchzte sie. Und da sagte der Großvater, der sonst immer zu ihr hielt, den Satz, den sie nicht hören mochte: »Ja, der ist aber auch ein Junge!«

      Welche Schmach, nur ein Mädchen zu sein!

      »Wenn der Hund nur Ärger ins Haus bringt und nicht mal Ratten fängt, kommt er weg«, sagte Mutter Regine noch, als der Großvater Iso mit einem schon wieder liebevollen Klaps aus dem Sprechzimmer geschoben hatte. Iso antwortete nicht.

      Von da an war das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter noch schwieriger. Iso galt als verbockt und verstockt. Selbst das sanfte Mahnen der Großmutter, das Kind komme jetzt in die Entwicklungsjahre, nützte nichts. Das Wort Pubertät wurde damals noch nicht gebraucht, bestimmt nicht von Laien. ›Unausstehlich‹, ›nimm dich zusammen‹, ›so war ich nie‹ hörte Iso jeden Tag. Dazu die Angst um den geliebten Hund. Iso sann und sann, wie sie es fertigbringen könnte, ihn zu behalten. Schließlich hatte sie eine Idee.

      Sie hatte nie aufgehört, Rattenfallen zu stellen. Jetzt sagte sie sich: Wenn nur mit den Räubern aufgeräumt wird, ist es schließlich egal, wie. Warum sollte sie die Ratten, die sie in den Fallen erlegte, nicht als Schuftels Jagdbeute erklären? Nur merken durfte es keiner, vor allem nicht Alexander. Der würde sofort diese Mogelei an die große Glocke hängen und dem Großvater erzählen, was Iso da ausgeheckt hatte. Er stellte sich immer sehr tugendhaft, wenn es Isos Fehler betraf, während er selbst Mutter und Großeltern fröhlich belog. Und zwar log er mutig und ausdauernd, gab nie zu, wenn er ertappt wurde, nach der Devise, die er einmal von Schorschel gehört hatte: ›Man braucht eine Lüge nur unentwegt zu wiederholen, so wird sie geglaubt. Versuch das mal mit der Wahrheit!‹ Iso dagegen litt unter ihrem schlechten Gewissen und sehnte sich danach, beichten zu dürfen. Das aber durfte sie nicht, wenn sie Schuftel nicht verlieren wollte.

      Dazu kam, daß die Großmutter in diesem Jahr nichts von Weihnachten wissen wollte. Weihnachten war für die Geistkinder von jeher der Höhepunkt des Jahres gewesen, die Großmutter aber sagte, nach einem verlorenen Krieg dürfe man nicht feiern. Hier erwies sich Regine als energisch. Sie ging selbst zur Forstmeisterei und besorgte einen Christbaum. Alexander und Iso atmeten auf. In diesem Fall waren sie einer Meinung. Und Regine fand, auch Christiane habe ein Recht auf ihr Christkind.

      Vater Martin war noch nicht zurück, so blieb Regine mit den Kindern in Camenz: ›Bis auf weiteres.‹ Den Kindern war es nur recht. Sie fühlten sich mehr und mehr in Schlesien zu Hause, und auch die Nach-, besser Vorhilfestunden in Französisch und Mathematik, die sie von Frau Reimann erhielten, störten sie wenig. Sie befanden sich jetzt im Alter für die höhere Schule, machten sich aber keine Sorgen um die Zukunft in Leipzig. Auch Regine sorgte sich nicht darum, sie war überzeugt, daß Alexander überdurchschnittlich begabt sei und meinte, für die Tochter sei die Schule nicht so wichtig. Sie selbst hatte ja auch keine höhere Schule besucht.

      Christiane war inzwischen zu einem hübschen, gepflegten Kleinkind herangewachsen. Da sie ständig betreut wurde – entweder von Mutter oder Großmutter –, machte ihre Erziehung keine Schwierigkeiten. Aber die Mutter stellte laufend Vergleiche mit der größeren Tochter an: ›Christiane ist artig‹, ›Christiane hält sich sauber‹, ›wie kann man nur so aussehen wie du, Iso‹, ›Christiane wird nie so werden –‹ hörte Iso immer wieder – was ihre Zuneigung zur Mutter nicht verstärkte. Als


Скачать книгу