Prinz Albrecht Straße. Will Berthold

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Prinz Albrecht Straße - Will Berthold


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betrachteten, aber wortlos durchließen. Sie lief weiter. Ihre Hände griffen ins Leere. Sie hatte das Gepäck im Hotel über der Moldau zurückgelassen.

      Nicht die Angst. Was war aus Formis geworden? Vielleicht lebte er noch. Vielleicht war er nur verwundet? Wie Stahmer … Sie zuckte zusammen. Ich bin Stahmer in den Rücken gefallen, als ich den Mann mit dem Gelehrtenkopf warnte.

      Daß sie damit vermutlich ihr eigenes Todesurteil gesprochen hatte, begriff sie nur zur Hälfte …

      Die kalte Schneeluft trieb sie in das Bahnhofsgebäude zurück. Sie stand hilflos vor der Stadtkarte. Hotel? Sie wagte es nicht. Der Wartesaal dritter Klasse hatte die ganze Nacht auf. Sie bestellte Kaffee. Die Luft war schlecht. Ein paar betrunkene Burschen randalierten in der Ecke. Ein Kellner schimpfte mit ihnen herum. Der Uhrzeiger drehte sich so langsam, als klebte Sirup am Zifferblatt. Diese Nacht bestand für Ira nicht aus verschlafenen Atemzügen, sondern aus trägen Sekunden. Jede von ihnen stach wie eine Nadel in das Bewußtsein.

      Sie öffnete das Kuvert, betrachtete zum erstenmal den Paß. Er war auf ihren richtigen Namen ausgestellt. Geld. Die Flugkarte. Sie stand auf, suchte und fand Friseur und Waschgelegenheit. Obwohl sie noch keine Erfahrung mit dem Gewerbe hatte, bei dessen erstem Auftrag sie gescheitert war, dachte sie auf einmal klar. Sie kaufte eine Reisetasche und ein paar Utensilien, nahm ein Taxi und fuhr zum Flugplatz.

      Sie kam eine Stunde zu früh. Es war der erste Flug ihres Lebens, und das lenkte sie ab. Sie erledigte die Formalitäten. Längst wurde der Flugplatz überwacht. Es war eine Kontrolle erster Klasse, lautlos und unsichtbar. Ira wurde in einen Raum gebeten. Ein Polizeikommissar in Zivil stellte sich höflich vor. Er sprach fließend Deutsch. »Frau Puch?« begann er.

      »Fräulein«, verbesserte sie.

      »Entschuldigung«, antwortete der Beamte. Er lächelte mechanisch. »Sie reisen nach Berlin?«

      »Ja.«

      »Hat es Ihnen bei uns gefallen?«

      »Oh, sehr gut …«

      »Was haben Sie gemacht?«

      »Ferien.«

      »Allein?«

      »Ja.«

      »Warum?«

      »Aber ich bitte Sie …«, entgegnete die junge Frau.

      Eine müde Gleichgültigkeit kam über sie. Der Beamte beobachtete sie sorgfältig. Die Beschreibung, die er von der Komplizin hatte, war sehr allgemein. So traf sie auch auf Ira nur flüchtig zu. Der Kommissar mußte sich auf sein Gefühl verlassen.

      Nein, dachte er, diese junge Frau ist abgespannt, sie hat Kummer, irgendeine Sache mit einem Mann wahrscheinlich. So gleichgültig, so uninteressiert kann bei einer Kontrolle die gerissenste Agentin nicht sein.

      Der Kommissar kannte den Arbeitsplatz, die Adresse in Berlin. Ein Fernschreiben war unterwegs zur deutschen Kriminalpolizei, die zu dieser Zeit noch nicht viel mit Heydrich zu tun hatte. Personenüberprüfung nannte man das. Berlin bestätigte Iras Angaben. Der Kommissar glättete das Fernschreiben. Er stand auf. »Tut mir leid, daß ich Sie belästigen mußte … guten Flug.«

      Erst als sich Ira in der Maschine anschnallte, wußte sie, welcher Gefahr sie entkommen war. Dann nahm ihr das Abenteuer des ersten Fluges die Gedanken ab.

      »Wir haben jetzt das deutsche Reichsgebiet erreicht«, rief die Stewardeß in das Mikrophon. Iras Erleichterung war schnell und töricht. Sie verstellte den Sitz und schlief ein, so fest, daß sie bei der Landung in Tempelhof geweckt werden mußte.

      Sie war wieder in Berlin, und der Zwischenfall an der Moldau gerann zu einem unwirklichen Spuk. Er war ihr gleichgültig geworden. Sie fuhr in ihre Wohnung. Am Nachmittag ging sie wieder in ihre Gymnastikschule. Am Abend rief sie ihre Freundin an. Margot.

      »Was, du bist schon wieder in Berlin?« fragte das Mädchen.

      »Ja«, erwiderte Ira.

      »War es schön?« fragte die Freundin weiter.

      Dann merkte sie, daß etwas nicht stimmte.

      »Was ist los?« fragte sie scharf.

      »Komm her«, versetzte Ira.

      »Komm du lieber zu mir«, erwiderte Margot. »Ich bin nicht allein.«

      Die Villa in Dahlem strahlte in Festbeleuchtung. Es waren ein paar Zufallsgäste da, die man gerne bewirtete. Margot Lehndorff kam der Freundin entgegen. Sie trug ein raffiniert einfaches Kleid, das ihre zierliche Figur in gekonnter Schlichtheit umrahmte. Zwei, drei junge Herren folgten ihr. Sie schüttelte sie lachend ab, gab Ira die Hand, legte den Arm um die Schulter der Freundin, zog sie in ihr Zimmer.

      »Setz dich«, sagte sie, »also, wie war’s?«

      »Ganz nett«, erwiderte Ira abwesend.

      »Magst du was trinken?« fragte Margot.

      »Ja, gerne.«

      »War wohl nicht sehr aufregend, der Kurzurlaub?«

      »Nein, nicht sehr …«, antwortete Ira zerstreut.

      Die Freundin stellte das Radio an. Sie hatte dunkle Haare, helle Augen und einen festen Händedruck. Sie wirkte gelassen und sachlich. Selbst wenn sie lustig war, zeigte sie sich nicht ausgelassen.

      Die Musik schwebte halblaut im Raum. Peter Kreuder bearbeitete das Klavier, rhythmisch, einschmeichelnd. Margots Fuß wippte den Takt mit. Sie war jung, hübsch, reich und sorglos. Ein Mädchen, nach dem man sich umdreht, um dann resigniert weiterzugehen, weil es mit Sicherheit für einen anderen reserviert ist.

      »Willst du nicht endlich sagen …«, drängte Margot.

      Fast gleichzeitig verstummte das Klavier im letzten Akkord. Es kamen Nachrichten. Die Freundinnen hörten nicht darauf.

      Margot stand auf und führte ihr Kleid vor. »Gefällt es dir?« fragte sie.

      »Ja«, erwiderte Ira.

      Auf einmal beugte sie sich nach vorne. Ihr Gesicht wurde gespannt, fast hart. Ihre Augen wirkten groß und starr. Sie krümmte den Rücken wie unter einer Last. Margot sah es und erschrak. Sie drehte das Radio lauter.

      »Es handelt sich hier um eine infame Hetze gegen das Reich …«, kam die Stimme aus dem Äther. »Ein Mann namens Rudolf Formis ist unbekannt. Es besteht der Verdacht, daß feindliche Agitatoren nur ein Verbrechen inszenierten, um die übliche Greuelpropaganda gegen Deutschland bis zur Siedehitze zu steigern …«

      »Mein Gott …«, sagte Ira matt.

      Um die Angst, den Druck, die Panik loszuwerden, beging sie einen tödlichen Fehler: sie redete …

      23

      Die Stimme aus dem Äther schwieg. Mit dem Ende der Nachrichten kam das Grauen. Es geisterte durch das freundliche Mädchenzimmer, degradierte es zum Niemandsland der unsichtbaren Front. Ira und Margot sahen sich betroffen an. Beide waren sie jung und schön, blond die eine, dunkel die andere. Beide waren sie geschaffen, um zu leben, zu lieben, zu träumen. Und beide waren sie in Gefahr. In Lebensgefahr …

      »Mit dem Gongschlag ist es zwanzig Uhr«, fuhr der Sprecher fort.

      Ira zuckte zusammen. Margot ging auf sie zu, zog die Hand durch ihren Arm. Sie begriff nichts, aber sie sah das Entsetzen in Iras Pupillen. Sie wollte der Freundin helfen, ohne zu wissen, wie tödlich das sein konnte. Der Anschlag in dem Hotel über der Moldau war zu einem Ausrufezeichen der Weltpolitik geworden. Unten, irgendwo im Haus, knallte ein Sektpfropfen. Gläser klangen. Menschen lachten. Der Abend versprach hübsch zu werden. Eine Zufallsgesellschaft stellte sich dem Vergnügen … und fragte nicht, wo die Moldau liegt.

      »Willst du mir nicht endlich …?« begann die zierliche Margot zögernd. Die Freude an ihrem neuen Kleid war einer unheimlichen Empfindung gewichen.

      Ira schüttelte den Kopf.

      »Sie hören jetzt Marschmusik«,


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