Prinz Albrecht Straße. Will Berthold

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Prinz Albrecht Straße - Will Berthold


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auf …

      »Komm«, drängte Margot. »Setz dich und …«

      Links, zwo, drei, vier … ein Lied! Paukenschläge zerhämmerten Iras Bewußtsein … Geheime Reichssache … Tschingdera … Ich darf es ihr nicht sagen … Bumm, bumm, bumm … Auf jede Verletzung der Schweigepflicht steht der Tod … im gleichen Schritt und Tritt … Ein Mann namens Formis ist in Deutschland unbekannt, also wurde er nicht ermordet … Das ist die Logik des Teufels …

      »Ich«, erwiderte Ira gequält, »ich … kann nicht …«

      Und dann ließ die Angst sie doch reden. Sie durfte die Freundin nicht mit hineinziehen, aber sie brauchte Hilfe.

      Sie berichtete über den Anschlag auf Formis. Schnell, Zerfahren. Ohne Anfang … unter dem Zwang des fürchterlichen Endes. Ihr schmales, knappes Gesicht mit den vollen Lippen und den hellen Augen wurde zum Spiegel, der die Stationen des blutigen Abenteuers festhielt. Wieder stand die junge, blonde Frau in diesem Moment auf dem Flur des Hotels und horchte. Ein Schuß. Noch einer, noch einer … »Bumm, bumm, bumm«, kommt es aus dem Radio …

      Zuerst lächelte Margot, schüttelte den Kopf.

      Dann begriff sie allmählich Iras Situation. Sie fragte, bohrte und erfuhr alle Einzelheiten einer »Geheimen Reichssache«, ohne zu wissen, was das ist. Viele werden daran sterben, ohne es je begriffen zu haben.

      Margot hob den Kopf. Ihr Gesicht war ernst. Sie ordnete die Haare wie ihre Gedanken. Warum mußte sich Ira überhaupt auf so etwas einlassen? dachte sie einen Augenblick verbittert. Dann schob sie den Vorwurf weg. »Und du glaubst«, sagte sie leise, »Stahmer weiß, daß du Formis im letzten Moment gewarnt hast?«

      »Ja«, entgegnete Ira.

      »Und wo ist er jetzt?«

      Ira hob und senkte die Schultern wie verloren.

      »Das … ist eine Chance«, fuhr Margot zögernd fort.

      »Was?« fragte Ira zerstreut.

      »Daß er nicht zurückkommt«, versetzte Margot hart, »daß sie ihn festnehmen und einsperren … verstehst du?«

      Das Klopfen an der Tür ließ die beiden jungen Mädchen wie Verschwörerinnen auseinanderfahren. Im Rahmen erschien ein lächelnder junger Mann im dunklen Anzug.

      »Wo bleibst du denn?« fragte er Margot. Jetzt erst sah er Ira und setzte hastig hinzu: »Entschuldigung … ich wußte nicht, daß du Besuch hast.«

      »Das ist Georg«, stellte Margot vor.

      Er ging auf Ira zu und verbeugte sich artig. Georg … der Vorname traf die junge Frau wie ein Peitschenhieb. Georg, der Mann mit den Spatenhänden. Georg, der Kerl mit der Mördervisage!

      Ira zwang sich mit Gewalt, den Kopf zu heben, ihm die Hand zu geben. Betroffen stellte sie fest, daß er ein sympathischer junger Mann war, wie sie zu Hunderten herumlaufen.

      »Was starren Sie mich so entsetzt an?« fragte er lachend. Dann bot er ihr den Arm.

      Sie gingen zu dritt nach unten. In der Wohnhalle empfing man sie begeistert. Die Platte drehte sich auf dem. Grammophon. Die Melodie war weich, verträumt. Langsamer Walzer. Dreivierteltakt. Die Gesellschaft war bunt. Der Sekt gekühlt. Das Lachen echt. Einer räumte den riesigen Teppich beiseite. Ira trank das zweite Glas Sekt aus. Zuerst war ihr schwindlig, dann wurde ihr leicht. Die Angst versank im Wirbel.

      Der Begleiter verbeugte sich. »Tanzen Sie?« fragte er.

      Sie nickte. Sie lehnte sich leicht zurück. Ihre Augen waren halb geschlossen. Ihre Schritte schwebten über das Parkett: »Ich tanze mit dir in den Himmel hinein.«

      Er konnte es. Er verzögerte leicht den Schritt. Beim ersten Takt glitt sein Fuß weit nach vorn, nach der Regel des langsamen Walzers, die so wenige beherrschen. Ira spürte die feste Hand auf ihrer Schulter, und sie schmiegte sich weich an ihren Partner. Linksherum, Rechtsdrehung, Verzögerung, Wechselschritt. Sie vergaß die Zeit. Sie tanzte über ihre Angst hinweg. In den Armen Georgs.

      Und ein anderer Mann namens Georg ist ein feiger Mörder … und darf nicht wiederkommen … Links, rechts, Wechselschritt …

      24

      Die Nacht, durch die sie sich schlugen, hatte kein Ende, der Pfad keinen Weg und die Kälte kein Erbarmen. Werner Stahmer und sein Komplize Georg stapften nebeneinander her. Schweigend. Verbissen. Zäh. Erschöpft …

      Jeder Schritt stach in die verwundete Hand Stahmers. Bei jedem Tritt bohrte sich ein stumpfes Messer durch das Gelenk, wühlte sich den Arm hinauf, drehte sich in der Achselhöhle, schlängelte sich das Rückgrat hinunter und wieder herauf. Wieviel Schritte haben hundert Meter? Wie lang ist ein Kilometer? Wieviel Kilometer sind es bis zur Unendlichkeit, hinter der die deutsche Grenze liegt?

      Wieder standen sie vor einer Kreuzung. Die Taschenlampe flammte auf. Kilometer-Ziffern glitzerten höhnisch. Die Straße vor ihnen war vom Schnee geräumt.

      »Jetzt haben wir es leichter«, sagte Georg.

      »Nein«, sagte Stahmer. Seine Stimme knirschte wie der Schnee unter dem Schuh. »Querfeldein.«

      »Idiotisch«, brummte Georg.

      »Bequem gehen heißt bequem verhaftet werden«, murmelte der Agent. Er humpelte los. Er achtete nicht darauf, ob ihm der andere folgte. Er watete vorwärts durch die großen Schneehaufen an den Wegrändern, mit einem weiten Satz über den ersten Graben. Dann breitete sich vor ihnen das Feld wie ein weißes Totentuch. Unter einem grauen Stahlhimmel blähte es sich zu Hügeln und zu Senken. Bergauf. Bergab. Der Schnee war frosthart und knietief. Er schob sich ihnen mit eisiger Hand die Hose hinauf.

      Stahmer stürzte zum ersten Male. Sein Aufschrei erstickte im Schneehaufen. Georg riß ihn hoch. »Scheiße«, sagte er.

      Weiter durch die endlose Landschaft. Sie gingen, als zögen sie einen Pflug. Die Sehnen in den Kniekehlen wurden zu Gummibändern. In die Halsmuskeln bohrten sich Reißnägel. Stahmer spürte den Schmerz wie durch glühende Watte. Er zählte seine Schritte nach dem hämmernden Puls. Einundzwanzig, zweiundzwanzig … Wie der Abzug einer Handgranate. Gleich mußte sie explodieren. Der Agent zählte rückwärts. Er bemerkte kaum, wie sich das nächtliche Schneefeld bläulich verfärbte. Der Schatten eines Wäldchens wuchs aus dem Morgendunst.

      Sie taumelten weiter. Durch den dämmernden Tag. Wie Tiere zogen sie sich vor jedem Geräusch, vor jedem Umriß ins Dickicht zurück. Die Bäume schüttelten Schnee in ihre Nacken; die Sträucher schnitten ihnen Striemen ins Gesicht. Sie aßen Schnee und Schokolade. Jeder Wagen, der ihnen begegnete, wurde zum Abenteuer, jeder Mensch zum Jäger, jedes Haus zum Gefängnis. Ein ganzes Land suchte sie. Wegen Mordes. Verübt an dem deutschen Emigranten Rudolf Formis. Das Gewissen wollte die Täter der Weltöffentlichkeit präsentieren.

      Am Nachmittag waren sie fertig. Sie schwankten nur noch auf der Stelle. Dann sahen sie die Holzhütte. Verschalte Läden. Sie horchten. Hinein. Es roch nach muffigem Heu. In der Ecke standen Arbeitsgeräte. Das Holzhaus mußte zu einem Forstamt gehören. Die beiden ließen sich hinplumpsen.

      Georg schlief sofort ein. Stahmer lag reglos. In seiner Hand kochte flüssiges Blei. Der Agent schüttelte die wirren Bilder ab. Er boxte den Mörder, den er heil über die Grenze zu bringen hatte, in die Seite. »Los«, sagte er, »stehen Sie auf …«

      Georg grunzte benommen. Schläfrig.

      »Sie organisieren Seife, Rasierzeug, zwei frische Hemden, Proviant.«

      »Allein?« fragte Georg.

      »Ja«, versetzte Stahmer hart.

      »Wo?«

      »Im nächsten Dorf.«

      Stahmer beobachtete, wie der Kerl sich mißmutig aus der Hütte schob. Hoffentlich schnappen sie ihn, dachte er. Dann fuhr er erschrocken hoch. Nein, sie durften es nicht. Wenn der Mord schon verübt worden war, dann sollte ihn wenigstens niemand beweisen können. Stahmer sah auf die Uhr. Zwecklos. Er horchte.


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